Im Oktober 2017 besuchte eine größere Gruppe von Geschichts- und Sozialwissenschaftsreferendaren beiderlei Geschlechts aus NRW die Gedenkstätte im ehemaligen Stasigefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Sie hatten eine dreistündige Führung mit einem Zeitzeugen gebucht. Immerhin waren acht Teilnehmer (die ein Drittel der Gruppe ausmachten) von der Gedenkstätte, wie sie schrieben, „nachhaltig beeindruckt“. Mit dem Modewort „nachhaltig“ scheinen sie jedoch ein Problem zu haben, wenn sie solch ein Adjektiv ausgerechnet in einem Beschwerdebrief an die Gedenkstättenleitung einfügen.
Mehrfach betonen sie immerhin in einer langen Einleitung, dass diese Örtlichkeit „die Perfidität und Absurdität des DDR-Regimes“ beispielhaft vorführt. Und nun waren sie „sehr gespannt“ auf die Begegnung mit einem Zeitzeugen. Doch als erster Satz folgt darauf: „Negativ beeindruckt hat uns daher allerdings – auch da waren wir uns einig – der Zeitzeuge Herr F.“ Also war dessen zweieinhalbstündige Führung eine Katastrophe? Nein, so war es wiederum auch nicht gemeint, denn man gibt ja zu, dass es eine „sicherlich gehaltvolle und eindrucksvolle Führung“ gewesen sei. Aber? Tja, nun kommt das dicke Ende in einem Seminarraum. Der Zeitzeuge als Referent nutzte einfach nicht die letzte halbe Stunde für „weitere inhaltliche und didaktische Fragen“. Na, so etwas! Sollte er die Fragen selber stellen oder wenigstens die nicht gestellten Fragen vorschlagen? Was machte stattdessen dieser Zeitzeuge? Er nutzte die Zeit, „um stark für die AfD zu polemisieren“.
Zu Goethes Zeiten leitete man den Begriff Polemik noch von den griechischen Begriffen „polemikós“ ab, was heute mit feindselig übersetzt werden kann, oder von „pólemos“, was nun als Meinungsstreit verstanden wird. Doch wie lässt sich FÜR etwas polemisieren? Bei Wikipedia heißt es: „Polemisieren heißt, gegen eine (bestimmte andere) Ansicht zu argumentieren.“ Gut, warum soll nicht auch für etwas gestritten werden dürfen? Doch die sprachschöpferischen Referendare hatten keine Lust mehr zum Streit, sie waren erschöpft, wahrscheinlich von der „Geschichte der äußerst brutalen und niederträchtigen zentralen Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit der DDR“, wie die Unterzeichner es selber formulierten.
Die Erfahrung des Referenten besagt, dass es, wenn es die Zeit erlaubt, immer erfrischend sein kann, wenn nach dem Eintauchen in die dunklen Seiten der jüngsten Vergangenheit die Verbindung zur Gegenwart hergestellt wird, denn alle Keime einer Diktatur sind immer auch in einer Demokratie vorhanden, wie auch Elemente des Bösen in allen Menschen stecken, wie auch umgekehrt, selbst in jenen, die sich selber einseitig für gut halten oder so gesehen werden (wollen). Und dann bringt der Zeitzeuge zumeist etwas Kritisches vor, was ihm momentan am Zeitgeist oder an den uns Regierenden nicht gefällt und fügt hinzu, dass er manchmal stundenlang auf ihn provozierende Dinge in der Demokratie schimpfen könnte. Nach einer Atempause folgt dann stets der Faustsche Standardsatz: „Doch wenn es morgen früh bei mir klingelt, dann weiß ich wirklich, dass es nur der Postbote ist.“ Und schon hat er die Lacher und nachdenklich Lächelnden auf seiner Seite.
Ist es verstiegen, den Besuchern dieses Stasi-Gefängnisses am Ende mit auf den Weg zu geben, dass es im Gegensatz zu jeder Diktatur, wo viele nur wegen Meinungsäußerungen eingesperrt worden waren, in einer Demokratie sehr wohl zulässig sein muss, darauf hinzuweisen, dass jede Demokratie nur der faire Meinungsstreit im Gleichgewicht hält? Dass Gedankenfreiheit eins der höchsten Güter in einer offen sein wollenden Gesellschaft ist? Dass hier keiner das Recht hat, mit Marx, der sich in seinen Gedichten gern mit Gott verglich, zu meinen, die objektiven Geschichtsgesetze zu kennen und damit immer zu wissen, wo’s langgeht? Nein, demokratische Politik lebt auch vom Zweifel, sogar vom Recht des Irrtums, vor allem aber von der fairen Streitkultur, und dazu bedarf es immer einer Opposition, die es nur in einer Diktatur nicht geben darf.
Was kann wenige Tage nach der letzten Bundestagswahl falsch an der von ihnen monierten Feststellung des Zeitzeugen sein: „Die AfD bringt endlich frischen Wind in die Politik“? Die dänische Zeitung „Politiken“ sagte es noch viel drastischer: „Das, was ziemlich vorhersehbar wirkte, war in Wirklichkeit ein politisches Erdbeben, bestehend aus drei Teilen: Der Abwicklung des ‚Projekts Mutti‘, dem Kollaps der Mitte-Linken und dem Erfolg der Rechtsradikalen.“
Vorweg: Nach seinen insgesamt 33 Haftmonaten ist dieser Referent wie andere dort auch zu einem Freiheitsfetischisten gereift. Er ist kein Mitglied einer Partei. Er war zweimal kurze Zeit FDP-Mitglied, verführt von dem Adjektiv frei, um jedoch bald zu merken, dass er für eine Parteimitgliedschaft nicht geeignet ist. Ansonsten ist er Wechselwähler und ein schreibender Zeitgenosse. Als solcher konnte er beobachten, dass allein schon die bloße Anwesenheit von 92 AfD-Abgeordneten im Deutschen Bundestag die Anhänger der etwas selbstgefällig gewordenen Altparteien äußerst nervös werden ließ. Kein Wunder, dass sich etablierte Journalisten, die sich zum Sprachrohr der Regierenden gemacht hatten, von vielen der Regierten als Marionetten- oder Lückenpresse bezeichnet wurden, immerhin mit dem Ergebnis, dass nun in fast allen Zeitungen, deren Auflagen sinken, und in zwangsfinanzierten TV-Sendungen auch zunehmend kritische Stimmen zu Wort kommen.
Trotzdem halten es noch viele nicht aus, besonders Menschen, die glauben, die Jugend bilden und erziehen zu können, dass eine (zumindest bis zu einem juristisch hieb- und stichfesten Beweis des Gegenteils) auf dem Boden des deutschen Grundgesetzes stehende Partei wie die AfD, die nun in der Grundrichtung einmal nicht von links daherkommt, eine Daseinsberechtigung haben darf. Nur um ihr eigenes Gefühl der moralischen Überlegenheit zu befriedigen, müssen wohlstandsverwöhnte Gutmenschen jeden verachten, der es sich erlaubt, nicht deren Vorstellungen von Frieden, Gleichheit und Gerechtigkeit zu teilen, sondern ein illusionsloses, durch Erfahrungen gewonnenes Bewusstsein verkörpert, das sich links nicht mehr einordnen lässt.
Eine Statistik, die der Referent nicht selber gefälscht hat, sagt halt aus, dass – prozentual gesehen – in der Bundestagsfraktion der AfD die meisten Professoren und Doktoren sitzen. Man kann also diese Partei wohl kaum mit den von ehemaligen Linksextremisten geschulten „Dumpfbacken“ der NPD vergleichen, einer Partei, die sogar noch immer zugelassen ist.
Diejenigen, die sich heute für gut, klug und gerecht halten, reduzieren schamlos Deutschlands Geschichte auf die schlimmen Jahre zwischen 1933 und 1945, unterschlagen dabei frech, dass der mörderische National-Sozialismus ebenfalls eine linke, antidemokratische Bewegung war. Nun ist zwar auch die andere, die „real existierende“ und einst von Moskau aus gesteuerte Sozialismus-Variante an seiner Morschheit gescheitert, aber das hält die linksforschen Eiferer, die noch immer im geistigen Koordinatennetz von Marcuse bis Habermas zappeln, trotzdem nicht davon ab, erneut den „neuen Menschen“ züchten und die „neue Gesellschaft“ errichten zu wollen, und das im wahrsten Sinne des Wortes „errichten“! Sie fühlen sich berufen, über Andersdenkende urteilen zu dürfen. Deshalb legen sie fest, was „politisch korrekt“, was rechts und was links ist. Wer so die Begriffe bestimmt, fuchtelt mit der Sprachpeitsche herum und weiß, damit ein wichtiges Machtinstrument in der Hand zu haben. Und da wir Deutschen ewig unter dem Auschwitz-Komplex zu leiden haben und 1990 gar nicht die Wiedervereinigung verdient hätten, wie uns ein Literatur-Nobelpreisträger krass einreden wollte, nahmen es viele Menschen im Lande widerstandslos hin, dass „rechts“ faschistisch, rassistisch und inhuman sei. Was bleibt uns da anderes übrig, als „links“ gut zu finden? Kann man denn heute als künftiger Geschichtslehrer nicht mehr wissen, woher der linke Gleichheitsfanatismus und die universalistischen Utopien stammen, die unweigerlich zum Terror führten und immer führen werden? Da kann ich zur Aufklärung gern die Biografie „Robespierre“ von Friedrich Sieburg empfehlen.
Der mit Steuergeldern subventionierte und totalitäres Denken verratende „Kampf gegen Rechts“ ist zu einem einträglichen Geschäft verkommen. Jeder, der die Worte „Nazis raus!“ und „Gegen Rassismus!“ plärren kann, darf sich zu den Gutmenschen zählen. Frei von Argumenten zeigen sie mutig ihr Gesicht, auch wenn es vermummt ist. Die segnenden Hände von Kirchenverbänden, Gewerkschaften und den etablierten Parteien werden ihnen entgegengestreckt, um sich gegenseitig für die gezeigte Zivilcourage bedanken zu können.
Die acht intelligent und wachsam sein wollenden Referendare sehen einerseits ein, wie brutal der erste deutsche „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ mit seinen Dissidenten oder Oppositionellen umgegangen war, doch andererseits finden sie sich mit der totalitären Geste ab, die diese Merkel-Regierung durch einen mit Steuergeldern geführten Kampf gegen die Rechts-Ordnung der westlichen Zivilisation führt. Gibt es keine Linksextremisten im Land? Gingen die Angriffe in Hamburg kürzlich von Rechtsextremisten aus? Werden die Autos in Berlin und anderswo von eben diesen Leuten abgefackelt? Ja, Anschläge auf Ausländerheime, das ist ein Markenzeichen der rechten Extremisten. Lohnt es sich nicht, gegen jeden Extremismus aufzutreten? Und zwar radikal?
„Am Ende seiner Ausführungen“, so im letzten Drittel des sanften Wut-Briefes der acht Referendare, „verstieg sich Herr F. in die von uns als Beschimpfungen wahrgenommen Aussagen, dass wir uns einer Diskussion entziehen würden und gerade das ja zu einer Demokratie gehören würde.“ Ist daran etwas falsch? Das soll eine Beschimpfung sein? Doch der Referent „ging sogar einen Schritt weiter und behauptete, dass es in Deutschland überhaupt keine Streitkultur gäbe und dass die aktuelle gesellschaftliche Situation der Situation in der DDR gleiche, bzw. sogar ‚eigentlich noch viel schlimmer wäre‘, denn man hätte ja die Möglichkeit etwas zu sagen, aber man mache es schlichtweg nicht.“ Dann habe sie der Referent auch noch als „eine genügsame und uninteressierte Truppe“ bezeichnet, was diese Eindrittel-Truppe sich aber völlig frei aus den Fingern gesogen hat, denn so blöde oder unhöflich ist ein erfahrener Referent nicht, der schon einige tausend Vortragsveranstaltungen mit „nachhaltigem“ Erfolg absolviert hat.
Doch dann kommt die eigentliche Positionierung, gewissermaßen als Ausrede zum Vorschein: „Dass wir uns nicht an einer solchen Diskussion beteiligen wollten, lag zum einen daran, dass es aus unserer Sicht Herrn F. gar nicht darum ging, zumal die Zeit dafür viel zu knapp gewesen wäre, sich ernsthaft auszutauschen.“ Aha, sie wussten also, dass es dem Referenten gar nicht darum ging, verschweigen aber, worum es denn nun wirklich gehen sollte. Man könnte durch solche Denkwebel fast zu Verschwörungstheorien verführt werden. Und warum hat man anschließend den Gedankenaustausch mit Herrn F. nicht schriftlich gesucht? Warum haben sie es ihm nicht selber mitgeteilt, was ihnen nicht gepasst hat oder wo man ihm gern widersprochen hätte? Andere aus derselben Gruppe haben sich bei der Verabschiedung am Tor noch sehr herzlich und dankbar von ihm verabschiedet, das nur nebenbei.
Die Verweigerung des Diskurses, um das Modewort zu benutzen, ist intellektuell eine schwache Kür. Das wissen jene natürlich ganz genau, die sich als Vertreter des Fortschritts und des Guten nicht mit Andersdenkenden einlassen wollen. Da ist es bequemer, das Gegenüber zu dämonisieren. Und das noch hinter seinem Rücken!
Dann schreiben diese Heuchler am Ende des zweiseitigen Briefes: „Wir sind uns in besonderem Maße unserer Verantwortung bewusst und wissen wie wichtig es ist, das Gespräch zu suchen und seinem Gegenüber respektvoll entgegenzutreten.“ Geht es noch zynischer? Sie suchen, typisch für zivilcouragierte Denunzianten, nicht das Gespräch mit dem Referenten, der sie zur Diskussion aufgefordert oder dazu hatte reizen wollte, sondern nachträglich zu seinem Vorgesetzten, der gar nicht dabei war. Was soll er denn antworten?
Was der Direktor soll, das wünscht sich berechnend das feige Drittel der Referendare „nachhaltig“: Der soll nämlich den nichtlinken Referenten F. aus dem Zeitzeugenportal herausschmeißen. Einen Zeitzeugen also, der in der SED-Diktatur zweimal wegen „staatsfeindlicher Hetze“ hinter Gittern saß, weil er sich schon dort nicht den Mund verbieten ließ. Und nun soll er sich dem betreuten Denken der Referendare unterwerfen? Danke! So senil ist er nun doch noch nicht.
Zum Glück hat die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen eine so kundige wie mutige und deshalb auch erfolgreiche Geschäftsleitung, allen voran Dr. Hubertus Knabe und sein Stellvertreter Helmuth Frauendorfer.
Quelle: Vera Lengsfeld
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