Görlitz – Jeden Sonntagnachmittag das gleiche Bild. Stoßstange an Stoßstange reihen sich osteuropäische Autokennzeichen hinter Görlitz auf der A 4 Richtung Westen. Viele Fahrer sind auf dem Weg nach Deutschland, Österreich oder die Beneluxstaaten; zu relativ gut bezahlten Arbeitsstellen in Handwerk, Pflege oder auf dem Bau. Schätzungen gehen von einigen Zehntausend Osteuropäern aus, die tagtäglich im Ausland ihr Geld verdienen, das sie dann nach Hause überweisen oder direkt dort ausgeben. Worüber jedoch kaum gesprochen wird: Viele der Pendler haben Frauen und Familie, die oft tage- und wochenlang alleine sind und mit Papa nur per Whatsapp kommunizieren. „Zum Glück haben wir heute diese Technik“, sagt Viktor Jankowski, diplomierter Französischlehrer aus Krakau, der an einer sächsischen Privatschule unterrichtet. Jankowski lebt seit Jahren in Deutschland. Früher sei er auch gependelt, sagt er, um Geld zu verdienen; auch in der DDR habe er gelebt, als man dort als privater Fremdsprachenlehrer unter der Hand gutes Geld, oft in D-Mark verdienen konnte. Ob das jahrelange Berufsnomadentum seine vier gescheiterten Ehen erklärt? Jankowski reagiert ausweichend. Er habe sein Geld frühzeitig in Wohneigentum investiert, sagt er, wovon er heute profitiere und seiner Familie, drei Kindern mit Frauen aus Russland und Weißrussland ein auskömmliches Leben bieten könne.
Trost durch die Kirche
Jankowski mag es noch gut getroffen haben. Doch viele andere Familien in Osteuropa leiden unter der Abwesenheit ihrer im Ausland arbeitenden Väter und Mütter. Die meisten sind zudem römisch-katholisch und wünschen sich ein harmonisches Familienleben. Das Problem: „Noch immer sind die Löhne in Polen, der Slowakei und Tschechien weit unter deutschem Niveau“, sagt die Soziologin Elke Seiffen von der Universität Bonn, EU-Mitgliedschaft hin oder her. Ein polnischer Schulleiter an einer Mittelschule verdiene gerade mal 1.300 Euro netto im Monat, knapp das Doppelte einer angestellten Verkäuferin. Und das alles bei Supermarktpreisen auf deutschem Niveau und bei oft fragwürdiger Qualität wegen geringerer Kaufkraft, was selbst die Lebensmittelkonzerne nicht bestreiten. Doch die Familie, das christliche Urbild jeder Gesellschaft „gerät durch die erzwungene Emigration oft ins Wanken“, weiß der Steyler Missionar, Pater Eduard Prawdzik SVD, der längere Zeit im russischen Kaliningrad gearbeitet hat und auch Polen gut kennt. Aus erster Hand weiß der Seelsorger, welchen Belastungen Familien ausgesetzt sind, in denen der Vater für eine skandinavische Spedition fährt und die Mutter als Hilfspflegerin für Italien, Frankreich oder Luxemburg angeheuert wurde. „Für das Geld, das sie im Westen verdienen, bezahlen diese Familien oft einen hohen Preis“, sagt Prawdzik. Der Steyler Pater weiß von innerfamiliären Konflikten bis hin zu Trennungen und Scheidungen, unter denen vor allem die Kinder leiden. Das Problem: Viele Männer verstehen sich, dem christlich-katholischen Urbildnis folgend als Ernährer der Familie, wofür sie diese über Wochen und Monate verlassen, was viele Ehefrauen nicht mitmachen, so Prawdzik. In polnischen Stadtverwaltungen stehen sie oft Schlange, um sich von Amts wegen von ihren Ehemännern loszusagen. Es sei dort ein „Kommen und Gehen“, sagt eine Betroffene, die sich jüngst in der Industriestadt Zary nach 27 Ehejahren getrennt hat.
Missgunst und Neid
Was die Kirche in solchen Situationen tun könne? Zuhören, trösten und darauf hinwirken, dass die Familie zusammenbleibt, darüber sind sich die Seelsorger einig. In seiner Kaliningrader Pfarrei gab es bei Pater Prawdzik immer einen Treffpunkt für Familien, deren Väter im Ausland weilten, erinnert er sich. In vielen Fällen habe der vermeintliche Geldsegen auch Neid und Missgunst in der Nachbarschaft erzeugt; etwa wenn die einen noch mit Mobiliar aus der Sowjetzeit hausten, während es nebenan schon kurz nach der Wende so aussah wie in einer Musterwohnung von IKEA.
Doch nicht alle Osteuropäer und ihre Familien suchen ihr materielles Glück im Ausland. Versierte Handwerker mit Deutsch- und Englischkenntnissen können inzwischen auch in Polen und Tschechien relativ gutes Geld verdienen, etwa als Landschaftsbauer oder Wohnungssanierer, was jenseits der Oder-Neiße-Grenze gerade viele EU-Ausländer in Anspruch nehmen, um fürs Alters vorzusorgen und der Inflation ein Schnäppchen zu schlagen. Immer mehr Privatinvestoren kaufen in Polen heruntergekommene Wohnungen, lassen sie sanieren und vermieten sie dann tage- und wochenweise über das Internet; ein Geschäft, das sich wegen niedriger Steuersätze und Notarkosten richtig lohne, aber leider auch das Rotlichtgewerbe anziehe, so ein Sprecher der polnischen Grenzpolizei auf Nachfrage.
200 Euro Schulgeld
Auch ein Blick auf die Unternehmenslandschaft entlang der Grenze zu Deutschland zeigt, dass nicht alle ins Nachbarland pendeln möchten, und es lieber daheim versuchen. Etwa mit einem Gebrauchtwagenhandel oder einer kleinen Firma, in der geschickte Hände aus Unfallwagen das noch Brauchbare herausholen und dann weiterverkaufen. „Nur um bei meiner Frau und unserer kleinen Tochter zu sein“, sagt ein 30-jähriger Inhaber in der Nähe von Zagan in Niederschlesien, der längere Zeit als Mechaniker in England gearbeitet hat und sich nun täglich abrackert, um die private Vorschule zu bezahlen; eine Schule, die stolze 200 Euro im Monat kostet, kaum weniger als in Deutschland oder Belgien. „Nicht immer verdiene ich gleich, und mit manchen Autos machen wir sogar Verluste“, sagt der junge Mann. Doch nehme er das alles in Kauf, nur um nicht in einer deutschen Fabrik zu schuften. „Wenn mich unsere Kleine anstrahlt, sind alle Sorgen vergessen“, sagt er lachend und widmet sich wieder seiner Arbeit, einem fast neuen 5-er BMW, dessen Motor trotz Totalschadens durch einen Aufprall von hinten heile geblieben ist. Für den Motor hat er sofort einen zahlungswilligen Kunden gefunden; derweil das kleine Mädchen in seiner Buddelkiste spielt und immer wieder stolz zu seinem Papa aufschaut. Es wird ein guter Tag werden, fürs Geschäft. Und für die Familie.