Vor 40 Jahren zogen die Grünen als basisdemokratische Ökopartei erstmals in den deutschen Bundestag ein – an der Spitze ein Militär, eine Theologin und ein Katholik. Von Benedikt Vallendar.
Für Rudi Dutschke, die Ikone der „Achtundsechzigerbewegung“, wäre wahrscheinlich ein Traum in Erfüllung gegangen. Als am 6. März 1983 erstmals die Grünen in den deutschen Bundestag einzogen, war das, was Dutschke als „Marsch durch die Institutionen“ bezeichnet hatte, zu einem guten Stück Wirklichkeit geworden. Knapp vier Jahre zuvor war der Dutschke am 24. Dezember 1979 im dänischen Århus an den Spätfolgen eines Attentats gestorben. Dutschke gilt als Mitbegründer der grünen Partei, deren Mitglieder sich in den Siebzigerjahren aus einer Mixtur politischer Gruppen und Grüppchen unter einem Dach zusammengefunden hatten. Mitte 1979 war den Grünen mit dem Einzug in die Bremer Bürgerschaft erstmals der Sprung in ein deutsches Landesparlament geglückt. Kurze Zeit später wiederholte sich das „Wunder“ in Niedersachsen, Hessen und West-Berlin. Kaum einer hätte damals darauf gewettet, dass es kurze Zeit später auch für Bonn reichen würde. Doch es reichte. Knapp über der Fünfprozenthürde und mit 27 Abgeordneten starteten die Grünen im März 1983 mit Fraktionsstärke in den zehnten Deutschen Bundestag, wo sie schon am ersten Sitzungstag mit einer Vielzahl von Anträgen und Änderungswünschen von sich Reden machten.
Zottelhaare und Sandalen
Die Medien hatten im März 1983 ein neues Vehikel gefunden, um ihre Leser, Hörer und Zuschauer bei Laune zu halten. Die Grünen waren der Renner auf allen Kanälen und in allen Gazetten, bunten wie seriösen. Mit Zottelhaaren, Sandalen und ohne Socken die hohen Hallen der Demokratie zu betreten, das waren Bilder, die sich exzellent vermarkten ließen. Auch, dass viele grüne Abgeordnete demonstrativ mit dem Fahrrad statt in der Dienstlimousine zu den Plenarsitzungen fuhren, war plötzlich eine politische Diskussion wert. So manch alt eingesessenem Parlamentarier fiel es schwer, sich an den Politikstil der neuen Kollegen zu gewöhnen. Das westdeutsche Parlament und seine nahezu konstant aus drei Parteien stammenden Mitglieder hatten es sich in den mehr als drei Jahrzehnten in der kleinen Universitätsstadt am Rhein gemütlich eingerichtet. Und kaum einer wäre wohl je auf den Gedanken gekommen, dass die aufsässigen Politrevoluzzer aus West-Berlin und München-Schwabing es einmal bis nach Bonn schaffen würden. Hohn und Spott von allen Seiten ernteten die grünen Abgeordneten, als sie in der Vorweihnachtszeit 1983, vor dem Hintergrund des zunehmenden Waldsterbens, eine ernsthafte Diskussion über den übermannsgroßen Weihnachtsbaum im Foyer des Bundestages vom Zaun brachen. Selbst der Deutschen liebstes Fest schien plötzlich ein Politikum zu sein. Auch an der Basis. Ein Dreijähriger kam mit der Ankündigung nach Hause, dass er künftig nicht mehr mit in den Skiurlaub fahren würde. „Warum denn nicht, mein Schatz?“, so die besorgte Mutter. – „Weil die im Kindergarten gesagt haben, dass davon die Bäume kaputt gehen“, so die knappe Begründung. Prompt baten die konsternierten Eltern um ein Gespräch mit der Erzieherin. Nur wenig Verständnis bestand für diese Art der frühkindlichen Umwelterziehung. Wenig Rühmliches hatte auch Helmut Kohl für die Grünen übrig. In seinen Erinnerungen von 2005 schrieb der Altkanzler: „Ein wichtiger Teil der Grünen hatte sich von einer Umweltschutzbewegung zur ökosozialistischen Radikalopposition entwickelt, für die der Umweltschutz lediglich ein Vorwand war. Zentrale Prinzipien der Demokratie wurden von ihnen in Frage gestellt, einige äußerten sogar Verständnis für die Taten von Terroristen“. Der damalige bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß ging sogar noch weiter, indem er öffentlich die Frage in den Raum stellte, ob die Grünen ihre Einnahmen vielleicht sogar „aus Banküberfallen der RAF“ generieren würden. Für diese Bemerkung stellte ein grüner Abgeordneter später Strafanzeige. Doch es gab auch andere, wohlmeinende Stimmen in Richtung des neuen, politischen Gegners. Allen voran der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU), der sogar offen mit den „jungen Leuten“ sympathisierte. In einer „Wetten dass“ Sendung im ZDF erbot sich Blüm, gelernter Metallhandwerker, medienwirksam, Fahrradständer für die grünen Biker vor dem Bonner Bundestagsgebäude zu schweißen, wenn er seine Wette verlöre. Blüm galt von jeher als Brückenbauer zum linken Lager, auf den Helmut Kohl bis zum Ende seiner Regierungszeit nicht verzichten wollte. Blüm galt, zusammen mit seinem Parteikollegen Heiner Geissler, als geistiger Vater des ersten, schwarz-grünen Bündnisses auf Landesebene, das 2008 in Hamburg geschmiedet wurde. Die Fahrradständer musste Norbert Blüm dann doch nicht schweißen, da er seine TV-Wette gewonnen hatte.
Abgebrochene Fotografenlehre
„Die wollten den Politbetrieb aufmischen, frischen Wind in die Tretmühlen der westdeutschen Demokratie bringen“, erinnert sich eine ehemalige Praktikantin an ihre Zeit im Bonner Abgeordnetenhaus. Eingebrannt ins kollektive Gedächtnis der Deutschen haben sich die Gesichter von Jutta Ditfurth, Joschka Fischer und Waltraud Schoppe, die in den Neunzigerjahren erste grüne Frauenministerin Niedersachsens wurde und, als studierte Germanistin, heute einen gut dotierten Posten in der deutschen Filmwirtschaft hat. Zunehmend geriet ab 1983 auch das Privatleben der neuen Parlamentarier in den Fokus. Jutta Ditfurth plusterte sich auf, sie habe schon „zweimal abgetrieben“, derweil sich Joschka Fischer, bis heute bekennender Katholik, mit immer neuen Liebeseskapaden brüstete, die ihn letztendlich vier Ehen kosteten. Eine wichtige Mittlerrolle nahm von Anfang an die evangelische Pastorin Antje Vollmer ein, die von 1994 bis 2005 grüne Bundestagsvizepräsidentin war. Einst hatte Vollmer im Berliner Wedding Sozialarbeit geleistet und schon früh eine sensible Ader für die Ängste und Nöte von Menschen entwickelt. Ganz anders Fischer. Zurzeit ist der frühere grüne Frontmann, der sich nahezu alles autodidaktisch angeeignet hat, in fünfter Ehe mit einer fast 30 Jahre jüngeren Iranerin verheiratet und logiert in einer noblen Villa im Berliner Grunewald. Im Oktober 1984 schloss ihn der damalige Bundestagspräsident Rirchard Stücklen (CSU) für einen Tag von den Sitzungen aus, nachdem Fischer ihn im Plenarsaal als „Arschloch“ bezeichnet hatte. Nach einem Zwischenspiel als hessischer Umweltminister kehrte Fischer, Sohn eines ungarisch-deutschen Metzgerehepaares, Anfang der Neunzigerjahre auf die bundesdeutsche Politbühne zurück und berät heute als Privatier internationale Konzerne, Zirkel und Verbände. Fischer attackierte Anfang der Siebzigerjahre, in seiner Zeit als Sponti und Straßenkämpfer, mitunter Ordnungshüter und wetterte lauthals gegen das „Großkapital“. Heute gehört der Ex-Minister zu den Vermögenden in Deutschland, die gerne lautlos ihre Geschäfte abwickeln und sich auf Dinnerpartys standesgemäß in Zwirn und Seide zeigen. Jutta Ditfurth, die Diplom-Soziologin mit adeligen Wurzeln, hat ihre Partei später unter Protest verlassen, auf den Namenszusatz „von“ verzichtet und macht heute Lokalpolitik in Frankfurt am Main. Derweil es Fischer, der abgebrochene Fotografenlehrling mit Taxifahrlizenz, in seiner politischen Karriere immerhin bis zum Vize-Kanzler gebracht hat. Wer konnte schon ahnen, dass aus Reihen der grünen Bundestagsfraktion, Otto Schily, einstiger RAF-Anwalt und Parteijustitiar, fünfzehn Jahre später als sozialdemokratischer Law-and-Order-Innenminister in die deutsche Nachkriegsgeschichte eingehen würde? Die Wege der Grünen waren bei ihrem ersten Parlamentseinzug keineswegs vorgezeichnet. Zupass kam ihnen der Umstand, dass in Bonn seit 1982 eine schwarz-gelbe Koalition regierte und die NATO sich anschickte, dem Warschauer Pakt mit der Stationierung amerikanischer Raketen im idyllischen Westerwald die gelbe Karte zu zeigen. Doch aus der gelben hätte auch leicht eine rote werden können. Darüber war sich die westdeutsche Bevölkerung durchaus im Klaren, nahm die Gefahr aber, aus Angst vor der kommunistischen Bedrohung aus dem Osten, bewusst in Kauf. Und dennoch, nicht alle wollten sich mit dem Wettrüsten der Supermächte abfinden. Was den Grünen zu weiterem Auftrieb verhalf. Deutschlands bislang größte Anti-Atom-Demonstration auf der Bonner Hofgartenwiese im Oktober 1981 mit fast 300.000 Teilnehmern ging auch auf Initiative der späteren, grünen Fraktionsspitze im Bundestag, Petra Kelly und ihrem Lebensgefährten, dem Ex-General und Weltkriegsveteranen Gerd Bastian, zurück.
CDU-Abgeordneter als Mitbegründer
Dass die Grünen per se „links“ seien, gehört indes zu den zahlreichen Gründungslegenden der Partei, die ihr bis heute anhaften. In Wirklichkeit war und sind die Grünen eine bunte Sammelbewegung, in der Pazifisten, Umweltaktivisten, Menschenrechtler und nicht zuletzt wertkonservative Bürgerinitiativen ihren Platz haben. Beredtes Zeichen für ihre Fähigkeit, auch in konservativen Milieus erfolgreich zu wildern, war das exzellente Abschneiden bei der jüngsten Landtagswahl im eigentlich auf ewig tief schwarz geglaubten Baden-Württemberg, wo die Grünen seither mit Winfried Kretschmann ihren ersten Ministerpräsidenten stellen. Das konservative Moment hat bei den Grünen eine lange Vorgeschichte. Eine zentrale Figur war dabei der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Herbert Gruhl (1921-1993). Ab Mitte der Siebzigerjahre engagierte sich Gruhl in verschiedenen Umweltgruppen, immer hin und her gerissen zwischen seinem Verantwortungsgefühlt für die Umwelt und seiner konservativen Grundhaltung im Allgemeinen. Gruhl, der an der Freien Universität (FU) Berlin Germanistik studiert hatte, hat das Aufkommen der studentischen Protest- und Antiatombewegung zunächst nur am Rande wahrgenommen. Um sich später umso engagierter mit ihnen auseinanderzusetzen. Sein Buch „Ein Planet wird geplündert – Die Schreckensbilanz unserer Politik“, das im September 1975 erschien, wurde rasch ein Bestseller. Gruhl prangerte darin einen gewissenlosen „Raubtierkapitalismus“ an, der immer stärker die Lebensressourcen der Menschheit bedrohen würde. Das Buch gilt als Magna Charta der grünen Partei, als ideologisches Amalgam, das die verschiedenen Flügel bis heute im Innern zusammenhält. Die Bezeichnung „Grüne“ ist eigentlich sowieso fehl am Platz. Besser wäre es, von einer grünen Wiese, mit zahlreichen bunten Blumen und Pflanzen zu sprechen. Pflanzen, die nur selten in Reih und Glied und noch seltener gerade nach oben wachsen. Nicht nur einmal wären die Grünen an ihrer Zerrissenheit zwischen Fundamentalisten, die jede Regierungsverantwortung ablehnen, und Realpolitikern, die genau das Gegenteil wollen, fast zugrunde gegangen. Im Grunde hat in dieser Partei schon immer jeder (fast) alles machen können, was wahrscheinlich ihre größte Stärke und Schwäche zugleich ist. Es waren die Grünen, die, unbekümmert von ihren früheren K-Gruppen, offen Menschenrechtsverletzungen in der damaligen DDR anprangerten und schon früh auf Tuchfühlung mit oppositionellen, auch christlichen Basisgruppen in Jena, Rostock und Leipzig gingen. Bei ihrem Treffen mit SED-Generalsekretär Erich Honecker im Oktober 1983 in Ost-Berlin trug Petra Kelly demonstrativ ein T-Shirt mit dem Label der Initiative „Schwerter zu Pflugscharen“, die in der DDR verboten war. Das war eine Provokation, aber auch ein Zeichen, dass sich der politische Umgang mit der DDR wandeln würde. Kaum ein Vertreter anderer Parteien wäre damals so weit gegangen, wie die grüne Frontfrau, die aus ihrer ablehnenden Haltung zum SED-Regime nie einen Hehl gemacht hat. Noch immer galt in der Deutschlandpolitik des Jahres 1983 der sozialdemokratische Grundsatz, „Wandel durch Annäherung“, wollte sagen: das lautlose Hinnehmen permanenter Menschenrechtsverletzungen östlich des Eisernen Vorhangs als Gegenleistung für „gut nachbarschaftliche Beziehungen“ zwischen Ost und West. Doch bekanntlich kam es anders. Und es ist wohl eine Ironie der Geschichte, dass der ehemalige Todesstreifen, der die Bundesrepublik heuer von Nord nach Süd durchquert, ausgerechnet „Das grüne Band“ heißt.