„Fliegende Edelsteine“ – wenn wir sie durch die Lüfte „torkeln“ sehen, ist ihr Leben eigentlich fast schon vorbei. Eine lange Zeit des Verborgenen, Unauffälligen ist ihrem kurzen Glanz vorangegangen. Derweil ist gerade diese unglaubliche Metamorphose, die diese Lebewesen durchlaufen, faszinierend, spannend und erstaunlich. Uns selbst gelang es vor einigen Jahren aus stecknadelkopfgroßen Eiern des Schwalbenschwanzes, die wir sorgsam auf Möhren- und Dillpflanzen in unserer Wohnung setzten, diesen unglaublichen Wandel über diverse Raupenstadien, Verpuppung „bis hin zum krönenden Abschluss: dem Hervorbrechen des ausgewachsenen Falters, der sogenannten Imago aus der geschlossenen Puppenhülle“ hautnah zu erleben. Welch ein erhabenes Gefühl, ihn seine Flügel ausbreiten, trocknen und härten zu sehen und ihn dann mit einem weinenden, aber auch lachenden Auge in die Freiheit zu entlassen.
Peter Henning ist schon seit frühesten Kindheitstagen den Schmetterlingen „mit der Zuneigung eines ihnen unerschütterlich zugewandten Freundes, ja Verehrers“ verbunden. In seinen Büchern findet man immer wieder Bezüge zu diesen zarten Wesen, die als Sympathieträger gelten und für viele Menschen „die Leichtigkeit des Seins, Grazie, Lebens- und Sinnenfreude“ verkörpern. Nun hat er ein ausschließliches Buch über diese „schillernden Meister der Metamorphose“ geschrieben. Selbst wenn dieses Buch einige fachliche Termini und eine Unmenge Schmetterlingsarten benennt, die einem Laien nicht vertraut sein dürften, so ist es doch kein Schmetterlingsbestimmungsbuch der üblichen Art. Der Autor zieht keine klare Grenzlinie zwischen Literatur und Wissenschaft. Eher darf man seinen Text, den er in einer Art Reisebericht verpackt hat, als Hommage an diese zarten Wesen sehen. Oder um es mit den Worten von Peter Henning zu sagen: „Mein Reisebericht ist eine unverhohlene Liebeserklärung an all die Schmetterlinge, denen ich je begegnet bin.“
Beginnend auf der griechischen Insel Samos, über die südspanische Sierra de Segura, das Volterra- und Cecina-Tal in der italienischen Toskana, die Colli Eugenei, in Norditalien wenige Kilometer südwestlich von Padua, die kroatische Felsenküste bei Poric bis in die Tiroler Berge, ins schweizerische Gstaad und ins Engadin erstreckt sich seine Reise, die letztendlich am Kleinen Arbersee im Bayrischen Wald zu Ende geht. Seine Suche quer durch Europa, nach für ihn besonderen Arten, lässt staunen und vor allem genießen. Seine Zeilen „mit der freien, ungezwungenen und oft ekstatischen Leidenschaft eines in die Formen-, Farben- und Wesensvielfalt vernarrten Beobachters“ erzählen zugleich Geschichten. Geschichten über seine Herkunft und familiäre Prägung, von menschlichen Begegnungen und mitunter fast räumlich greif- und vorstellbaren Landschaften. Auch wenn Henning mit ganz persönlicher Verve beschreibt, was er auf seinen Reisen zu ihnen erlebt hat, was er ihnen verdankt und „weshalb sie mit Fug und Recht zum Schönsten im Tierreich gezählt werden“, so sind dennoch Schmetterlinge die eigentlichen Hauptakteure des Buches.
Warum greift der in der Toskana anzutreffende Erdbeerbaumfalter oft unvermittelt Menschen an? Ist es wirklich möglich, mit einem Admiral zu spielen? Oder wie können Zitronenfalter im tiefsten Winter und selbst unter einer geschlossenen Schneedecke oder bis -20°C überleben? Dies sind nur einige Fragen, auf die Peter Henning in diesem Buch Antworten gibt. Er tanzt Tango mit Berghexen – auch dies übrigens ein Schmetterling – oder erlebt eine magische Nacht mit dem riesigen Oleanderschwärmer, der wegen seiner schieren Größe gar mit einer Fledermaus verwechselt werden kann. Sogar die spanische Königin – der Isabellaspinner – gibt ihm in der Sierra de Guadarrama, nördlich von Madrid, die Ehre.
Mitunter wird man beim Lesen fast erschlagen von der Fülle der unterschiedlichsten Arten dieser „erstmals im Jahr 1501 so bezeichneten ‚Schuppenflügler‘“. Hier wäre ein fotografisches – neben dem bereits vorhandenen – Glossar das Sahnehäubchen gewesen. Aber moderne Medien lassen die unbekannten Falter schnell googeln und vor dem geistigen Auge entstehen. Ein kleiner entomologischer Anhang rundet das überaus lesenswerte Buch ab, das noch lange beim Leser nachklingt.
Die ersten beiden Strophen des wunderschönen Gedichts »Schmetterlinge« aus der Feder von Carlo Karges (1951-2002), einem Mitglied der deutschen Rockband NOVALIS, fallen mit beim Zuschlagen der letzten Seite sofort ein:
Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß, wie Wolken schmecken,
der wird im Mondschein
ungestört von Furcht,
die Nacht entdecken.
Der wird zur Pflanze, wenn er will,
zum Tier, zum Narr, zum Weisen,
und kann in einer Stunde
durchs ganze Weltall reisen.
Peter Henning
Mein Schmetterlingsjahr. Ein Reisebericht
Theiss Verlag, Darmstadt (05. März 2018)
228 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3806236879
ISBN-13: 978-3806236873
Preis: 19,95 EURO