„Bedingt abwehrbereit“ * Abschied von deutschen Sonderwegen

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Deutschland muss wehrhafter werden“, lauten Titelzeile und Botschaft des Leitartikels im neuen „Spiegel“ zum Jahreswechsel, verfasst von Wolf Wiedmann-Schmidt, einem ehemaligen TAZ-Redakteur. Seine Forderung nach einem entschlossenen und umfassenden Sicherheitsupdate für BND bis Bundeswehr markiert die bedeutendste Veränderung des zurück liegenden Jahres: Die deutsche Gesellschaft verabschiedet sich weiter von Sonderwegen, die die zweite Republik seit ihrer Gründung prägten.

Sie begannen im Grunde schon mit der für andere gestandenere Nationen Europas unvorstellbaren Bereitschaft Konrad Adenauers, im Zweifel auf die deutsche Einheit zu verzichten, um zumindest die westdeutsche Republik in der Mitte Europas fest im demokratischen Westen zu verankern. Der späte Aufbau einer eigenen Armee stützte wiederum das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit. Mit der Ostpolitik gelang es deutschen Regierungen unter Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl, die im Kalten Krieg erstarrte Grenze zwischen Ost und West zu lockern und einen Weg zur deutschen Einheit zu öffnen. Der deutsche Verzicht auf die vollständige staatliche Souveränität bis zur Einheit begrenzte durchaus vorhandene deutsche hegemoniale Ansprüche auf ihre Exportwirtschaft und stabilisierten den hiesigen Wohlstand

Innerhalb nur eines Jahres, drei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit, hat Russlands Überfall auf die Ukraine die innenpolitischen Überbleibsel dieser Sonderwege marginalisiert, vor allem das verbreitete Misstrauen gegen die Institutionen, die den Staat im Innern und nach Aussen schützen. Es wurzelte einst in der traumatischen Erfahrung des nationalsozialistischen Regimes und seiner hohen Akzeptanz im deutschen Volk.

Naturgemäss hatte sich die neue demokratische Ordnung in den Nachkriegsjahren als fragil erwiesen. Die mangelnde Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen zeugte von anhaltendem Einfluss alter Eliten. Der Versuch von Franz Josef Strauss und anderen, den „Spiegel“ juristisch zu erledigen, schien diesen Trend zu bestätigen, erwies sich dann aber als ein Wendepunkt für demokratische Wachsamkeit.

Trotzdem hielt sich das Misstrauen gegenüber den für Sicherheit zuständigen Behörden und verselbständigte sich schliesslich. Volkszählungen, die moderne Gesellschaften brauchen, weckten ebenso Widerstand wie die überfällige Digitalisierung des Gesundheitswesens. Beinahe jede Art gesellschaftlicher Modernisierung erweckte Verdacht. Die Bundeswehr blieb für weite Teile der Gesellschaft ein allenfalls notwendiges Übel.

Dass sich diese Einstellungen im Jahre 2022 so veränderten, ist vor allem den Grünen zu verdanken. Durch ihre entschlossene Unterstützung des ukrainischen Verteidigungskampfes lösten sie in ihren eigenen Reihen ein Umdenken aus, das auch viele innenpolitische Themen erfasst. Damit macht sich die junge Partei zum zweiten Mal in ihrer Geschichte um Deutschland verdient. Schon mit ihre Gründung öffneten sie für viele Radikale aus de Achtundsechziger-Zeiten einen Weg, sich auf die demokratische Ordnung der Bundesrepublik einzulassen und sie mit zu gestalten.

Da die Grünen zugleich die zentrale Frage der Zukunft, den Erhalt des Planeten, politisch besetzen, kommt ihnen eine Schlüsselrolle für die weitere Entwicklung Deutschlands zu. Sie sind damit zu einem wichtigen Element der Stabilität für Deutschland und Europa geworden. Dass dies nicht ohne Widerspruch und Auseinandersetzungen geschieht, kann sich als Stärke erweisen.

* „Spiegel“ – Titelgeschichte vom 10. Okober 1962, die die „Spiegel“-Affäre auslöste.

Quelle: Franz Sommerfeld

 

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