Bavarian Rhapsody: Mercury in München – seine besten Jahre

"Mercury in Muenchen" von Nicola Bardola

Mercury in München? Wer dieses Buch zur Hand nimmt, wird – das vorab – nicht enttäuscht. Ein Vorwort, das auf die Person Freddie Mercury einstimmt, eine knapp gefasste Frühgeschichte der Band Queen, die ja immer mehr als eine Rockgruppe war, alles in allem eine gute Brücke nach München, thematisch schlüssig. Die Auftaktkapitel von „Mercury in München“ sind gelungen. Sehr schön der Bogen von 1974 bis zu den letzten Live-Auftritten, den der Autor Nicola Bardola anhand des Besuches beim Photographen Dieter Zill spannt. München war demnach eine frühe Inspiration für Freddie, wo Zill einige Requisiten für Mercury bei einem Kostümverleih besorgt hatte: Schwert, Hermelinmantel und Krone. Freddie wurde in einem ausladenden Sessel plaziert, Brian May, John Deacon und Roger Taylor umrahmten ihn Paladine. Aber die royalen Accessoires legte keiner an, lediglich das Schwert ergriff schließlich Freddie Mercury. Erst als er bereits genau wusste, dass er sehr bald als König des Rock’n Roll von der irdischen Bühne abtreten würde, sollte er Krone und Hermelin tragen – doch davon später. Musikalisch war München zunächst ein beliebiger Ort für einen Gig.

Fünf Jahre später, 1979, änderte sich das grundlegend – und eher überraschend. Freddie Mercury war vor allem auf der Flucht vor dem britischen Fiskus, der satte 83 Steuern erhob. Mit Verweis auf die Musicland-Studios beschreibt Bardola, wie wichtig und für Mercurys künstlerisches Schaffen München unversehens wurde, vielleicht auch begünstigt durch die großen Konzerterfolge, die die Gruppe in den Jahren 1978 und 1979 an der Isar hatte – Bardola schlüsselt das auf. Der Sommerhit des Jahres 1980 schlechthin, „Crazy little thing called love“, beruht demnach auf einem Einfall, den Mercury im Park Hilton Hotel hatte, das an den englischen Garten grenzt – vielleicht, weil er, der in London mit Mary Austin eigentlich eine Familie gründen wollte, gerade in München einen Wandel in seiner sexuellen Orientierung bemerkte. Insbesondere aber wird die Bedeutung der im Souterrain des in Bogenhausen gelegenen Arabella-Hochhauses untergebrachten Musicland-Studios sehr richtig und gut dargestellt. 

Bardola ist ein in der Musikszene bestens beschlagener Autor, und er kennt München wie seine Westentasche. Die Erwartungen sind also hoch. Gut sind prinzipiell die zeitweiligen Quervergleiche zwischen künstlerischem Schaffen und der Zeitgeschichte. Unnötig aber der Abgleich mit der Geschichte der RAF, vollends übertrieben der mehrmalige Verweis auf Andreas Baader. Klar gesagt: Den Vergleich des Jahrhundertkünstlers Freddie Mercury mit einem Schwerverbrecher, der sich völlig erfolglos in Sachen Kultur zu gerieren versuchte, bevor er, vielleicht angesichts der eigenen Bedeutungslosigkeit,  den Mord an Menschen propagierte – ein solcher Vergleich ist unwürdig. Hier zeigt sich bereits früh eine Schwäche des Buches, die mehrfach auftreten wird. Zu weit schweift der Autor ab, der Leser, der etwas über Freddie Mercury zu lesen hoffte, mag nicht mehr folgen – und blättert bestenfalls zum nächsten Kapitel.

Aber immer wieder lohnt es sich dann auch, weiterzulesen. Wer sich in die Queen-Welt hineinlesen möchte, ist hier genau richtig. München spielt darin eine große Rolle – allerdings nicht Schwabing. Dieser Künstlervorort im Norden, der zu Zeiten des Expressionismus große Bedeutung hatte, war damals schon abgehängt und auf lokales Maß gestutzt – in diesem Buch erfahren wir, wie sehr. Dagegen ist das nur elf Seiten lange Kapitel „Mit dem ganzen Körper“ ein wunderbares Lesestück über die Rock’n-Roll-Welt späten 1970er Jahre in und um München, am Stück zu lesen – ein Genuß! Weit über München hinaus weist dagegen das Folgekapitel „Mit schwarzem Leder“, in dem es um die Rollenfindung Mercurys zwischen dem Geschlechtern geht, doch im zweiten Teil des Buches, in dem unpassend mit „Urknall“ überschriebenen Kapitel, kommt er zielstrebig wieder zum Themenkomplex rund um Queen und die Musicland-Studios. Als „Beginn“ ist die in München stattfindende Arbeit am Album „The Game“, die hier beschrieben wird, wohl besser – und weniger marktschreierisch – tituliert.

München also, der Leser ist zusammen mit Freddie Mercury nun mittendrin. Wer das dortige Arabella-Haus nicht kennt, dem bringt Bardola es nahe. Wer aber längere Zeit in München lebte, dem erscheint es so, als trage er etwas dick auf. Doch es ist der räumliche Rahmen für eines der bedeutenden Alben der Musikgeschichte: „The Game“, und daher sei ein wenig Pathos erlaubt, auch wenn der Hinweis auf die Problematik von Selbstmorden, die dieses Hochhaus erlebt hat, etwas weit hergeholt wirkt. Vielleicht hat der Autor hier persönliche Erlebnisse verarbeitet, vielleicht ist genau dies aber auch tatsächlich der Schlüssel zum Queen-Song „Don’t try suicide“ – naja, vielleicht.

Eine durchaus gebührende Rolle wird dem kongenialen Produzenten und Toningenieur der Musicland-Studios, Reinhold Mack, eingeräumt. Gut so! Ihn aber als „der fünfte Queen“ zu titulieren – das wirkt hölzern und konstruiert, nicht nur grammatikalisch. Da hat Bardola beim „fünften Beatle“ abgeguckt, als der Klaus Voormann gilt, und der auch in der Gegend von München lebt: in Tutzing. Dieser Vergleich passt jedoch nicht ganz, denn Mack ist Techniker, genauso wie auch die Erhöhung des Komponisten Johann Sebastian Bachs zum „fünften Evangelisten“ ein wenig gewagt scheint.

Das Kapitel „Sugar-Shacking“ ist ausgezeichnet beobachtet, bestens geschrieben, so amüsant wie informativ – aber es hat in dieser Form in einem Buch über Frediie Mercury nichts verloren. In jedem Buch, das mit „München leuchtet“ überschrieben werden könnte, wäre es ein Glanzpunkt. In diesem Buch hätte es wesentlich knapper gefasst werden sollen, zumal sich einzelne Details aus vorangegangenen Kapiteln inhaltsgleich wiederholen.

Teil Drei beginnt mit einem Kapitel, das den Erwartungen der Leserschaft gerecht wird – es geht jetzt tatsächlich ganz um Queen und um den Bezug zu München. Das zweite Kapitel zeigt dann zu Beginn kurz wieder eine Schwäche, die schon vorher gelegentlich sichtbar wird – es ist die Nacherzählung eines Interviews, das Andere geführt haben. Inhaltlich ist das okay, aber ein wenig sieht es nach einer Methode aus, um aufwandsarm Themen abzuarbeiten und ein paar Seiten zu füllen. Doch das nur am Rande, denn auch dieses Kapitel ist äußerst informativ, ja, hier erschließen sich einige der Kerninformationen zu Freddie Mercury, deretwegen man das Buch eigentlich zu Hand nahm.

Thematisch sehr weitschweifig ist auch das Kapitel mit dem kryptischen Namen „Guten morgen, Sie wünschten geweckt zu werden“. Doch hier stört das zur Abwechslung nicht, denn hier gelingt es Bardola, einen wirklichen Bogen zu spannen und das Rätsel der Überschrift erst im letzten Absatz – überraschend – aufzulösen. Und dann stört es auch weniger, daß abermals Details aus der Schwulenszene ausgebreitet werden, die am ehesten wohl alternde homosexuelle Männer ansprechen dürften. Im dritten Kapitel dieses dritten Teils kann Bardola das hohe Niveau noch etwas steigern. Zwar wird wieder etwas zu viel über die Schwulenszene schwadroniert, aber der Bezug zum Protagonisten des Buches geht nie wirklich verloren. Sehr positiv sei vermerkt, wie dezent und einfühlsam der Autor mit dem Thema „AIDS“ umgeht.

Ein wahres Lesevergnügen für Queen-Fans ist das erste Kapitel des vierten Teils, das schwerpunktmäßig die Dreharbeiten zur Video für die 1984er-Single „It’s a hard life“ schildert, die in den ARRI-Studios in der Türkenstraße, ganz in der Nähe des Siegestores, stattfanden. Der Autor öffnet seinen Lesern die Augen für zahlreiche Details dieses heute noch sehr oft gesehenen Videos – die Münchner Freunde und Weggefährten Freddy Mercurys begegnen uns, als sei der Dreh erst gestern gewesen. Erschütternde Bilder – in dem Wissen, wie viele der dort versammelten Künstler bereits wenige Jahre nach diesem Dreh die Bühne für immer verlassen mussten. Diese auch für den München-Kenner gelungene Erzählweise behält er im nächsten Kapitel bei, und das trotz des Titels „Küss mich, als gäb’s kein morgen“ – nun ja, es ist ein übersetzter Songtitel. 

Eine Vorausschau auf den Umgang mit Freddie Mercurys reichem musikalischem Erbe bietet das dritte Kapitel. Das ist reizvoll, wie ein Beispiel belegen mag: Mit dem Songtitel „It’s a beautiful day“ verbinden Hörer und Fans natürlich Montreux, die finale Station in Freddies künstlerischer Karriere. Anhand des – bekannten – Datums der Komposition ergibt sich indes, dass hier der Himmel über München besungen worden sein dürfte. Zusätzlich gibt der Autor abermals ein Kostprobe von der Einfühlsamkeit, mit der er das Thema AIDS, das natürlich unverzichtbar ist, immer wieder auf dezente Weise einflicht. Und nun geht das Buch auf seine Zielgerade. Die Erinnerungen des Kameramannes, der Freddys geheime Abschiedsparty – seine Geburtstagsparty vom September 1985 – filmte, lesen sich mit den gewonnenen Erkenntnissen spannend wie ein Krimi, denn nun rundet sich das Bild. Die Lektüre der finalen Kapitel sei unbedingt empfohlen, auch wenn kein Happy End wartet – und auch keine Krönung der Münchner Jahre. Als Freddie Mercury die bereits 1974 von Dieter Zill als Requisiten genutzten Königsinsignien – Hermelinmantel und die Krone – zwölf Jahre später auf der Bühne trug, auf der Tour zu „A Kind of Magic“, da machte er zwar auch wieder einen Abstecher in seine Wahlheimat – aber die Münchner Jahre waren da, Ende Juni 1986, bereits Geschichte.

Bardola präsentiert sich als überaus profunder Kenner der Musikszene und vor allem des Münchner Nachtlebens, er wartet mit einer Vielzahl von Fakten auf, die weit über die Bandgeschichte von Queen hinausgehen. Das ist einerseits sehr verdienstvoll, andererseits wird das Thema der Homosexualität in München ab den 1970er arg strapaziert. Schon die Umschlaggestaltung ist einseitig – zweimal mehr oder weniger dasselbe Motiv, und beide Bilder aus der Halbwelt. Das wird einem Musiker von Weltrang, und kein bisschen weniger war Freddie Mercury, nicht gerecht. Fast hat es den Anschein, als wolle der Autor auch eine Gegengeschichte zum bayerischen, konservativen und auf diese Weise weltoffenen München schreiben, denn an mehreren Stellen wird heftig auf die CSU geschimpft, obwohl doch genau unter den Augen einer CSU-Landesregierung ein weltoffenes München entstehen konnte. Die bayerische Landeshauptstadt war damals zweifelsohne stark traditionsgebunden, aber doch modern und durch die Olympischen Spiele von 1972 geprägt, hier konnte eben auch eine offene und sehr promiskuitive Schwulenszene bestehen. Diese Liberalität ergab sich also nicht, wie der Autor vermutet, gegen die CSU, sondern toleriert durch sie, speziell durch die von ihr gestellte Landesregierung unter den Ministerpräsidenten Alfons Goppel und Franz Josef Strauß. Freddie Mercury profitierte direkt von der sprichwörtlichen Liberalitas Bavarica.

„Bavarian Rhapsody“ – so müsste dieses Werk also wirklich heißen. Das wäre der einzig passende Titel, doch diese Zeile ist unglücklicherweise auf die Buchrückseite gerutscht. Dabei würde dann deutlich, dass dieses Buch die notwenige Ergänzung zu dem mit vier Oscars ausgezeichneten Kinofilm über Freddie Mercury und Queen ist, der unter dem Titel „Bohemian Rhapsody“ lief – und läuft. Es würde dann auch deutlich, daß dieser Film, der in der Beschreibung Münchens und der Gewichtung dieses Ortes für Mercurys Leben eine enorm große Schwäche aufweist, jetzt seine inhaltliche Vervollständigung gefunden hat – nichts weniger als eine notwendige Fortschreibung des Films ist diese „Bavarian Rhapsody“!

Der Verlag hat demnach beim Titel des Buches eine große Chance vertan. Der letztlich gewählte Titel „Mercury in München“ ist dagegen eher als Untertitel oder als Überschrift für den verlagsseitigen „Waschzettel“ geeignet. Hier hätte der Heyne-Verlag – der die Serie, in der das Werk erschien, ja sogar „Hardcore“ nennt – mutiger und inspirierter zu Werk gehen können. Immerhin ist „Mercury in München“ als gebundenes Buch erschienen, indes: die Qualität der Bindung ist mangelhaft. Schon nach einem kompletten Durchlesen ist der Buchblock deutlich wellig, das Kapitalband löst sich. So etwas darf einfach nicht passieren. 

Fazit: Ein Buch mit großen Stärken und einigen wenigen, aber deutlich erkennbaren Schwächen, die sich aber zum Glück im Laufe der spannend geschriebenen Handlung etwas glätten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass thematische Idee tragend und relevant ist. Die Faktenfülle, mit der Bardola auswartet, ist großartig, lediglich das demonstrative Breittreten der Auswüchse in einer hypertrophen Schwulenszene ist nervtötend. So bleibt denn das Gesamtvotum auch positiv: Wer München als Musikstadt verstehen möchte, kommt um Bardolas Buch über Mercury nicht herum.

Heyne Hardcore, 432 Seiten, 94 s/w Abbildungen, 16-seitiger Farbfototeil, zwei Stadtpläne mit Markierung der beschriebenen Lokalitäten, 24 Euro, ISBN 2. Aufl., 2021: 978-3-453-27352-8, e-book: 978-3-641-27653-9.

Über Sebastian Sigler 106 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.