„Basedowund das Dessauer Philanthropin“

Rousseaus pädagogische Gedanken haben in der europäischen Geisteswelt außerordentlich gewirkt, am tiefsten aber wohl in Deutschland.[1] Sie förderten vor allem jene schulreformatorischen Bestrebungen der deutschen Aufklärung, die sich um 1770 in dem Kreise der so genannten Philanthropen („Menschenfreunde“) verdichteten. Zu ihnen gehörten Personen wie Johann Bernhard Basedow, Christian Gotthilf Salzmann, Joachim Heinrich Campe, Ernst Christian Trapp oder Friedrich Eberhard von Rochow.[2] Basedows Schule Philanthropin in Dessau, die im Jahre 1774 eröffnet wurde, war ein Kristallisationspunkt dieser Tendenzen.
Philanthropine oder „Werkstätten der Menschenfreundschaft“[3] standen am Beginn moderner Schulreform. Sie waren Ausdruck eines pädagogischen Protestes gegen die zurückgebliebene Schulrealität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Ihre programmatische Aufgabe bestand darin, neue und alternative schulpädagogische Impulse zur Reorganisation von Bildung und Erziehung zu entwickeln. Theoriegeschichtlich waren für die Genese des pädagogischen Programms des Philanthropismus die Schriften von John Locke (1632-1704)[4], Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769)[5] und Johann Andreas Cramer (1723-1788)[6] verantwortlich.
Die Philanthropen wollten also eine „vernünftig-natürliche“ Erziehung. An der Bildung des Intellekts ist ihnen ebenso gelegen wie an Naturnähe und Einfachheit aller Lebensverhältnisse. Körperliche Ertüchtigung, Abhärtung und Landleben spielten eine große Rolle; auf die Philanthropen geht der Turnunterricht zurück.[7]
Ganz im Gegensatz zu Rousseau wollten sie den Erwerbssinn wecken und die Berufsfähigkeit direkt steigern. Ihr Bestreben war es, dass der Mensch möglichst schnell zum tüchtigen, praktischen und aufgeklärten Bürger wurde.
Die Erziehung war an Interesse und Vermitteln von Lust geprägt, Strafen waren verpönt. Ein ganzes System von Belohnungen, von Tugendnägeln und –biletts bis hin zu besonderen Tugendorden wurde ausgebildet. Dem Bemühen der Philanthropen um Lebensnähe und kindgerechte Lerninhalte verdankte eine neue Literaturgattung ihre Existenz: das Jugendschrifttum.
Die Philanthropine haben trotz ihrer nur kurzen Existenz – mit Ausnahme von Schnepfenthal – für die Geschichte des pädagogischen Denkens und für die Geschichte der Schule eine nachhaltige Wirkung und Bedeutung gehabt. Dafür sind vor allem die folgenden Aspekte maßgebend:
1.In der Pädagogik der Philanthropine wurde ein pädagogischer Paradigmenwechsel nicht nur gedacht, sondern auch in die Tat umgesetzt. Nicht der Unterrichtsinhalt oder der Fächerkanon standen im Mittelpunkt, sondern der neugierige und dadurch lernende sowie sich bildende junge Mensch. Lernen können und sich dadurch selber verändern und ausbilden zu können, war die große Entdeckung der Anthropologie der Aufklärung.
2.Philanthropine waren keine Standesschulen für Standeserziehung (wie z.B. die Adelsschulen), sondern standen jungen Leuten aller Stände und jeden Herkommens offen.
3.Leistung wird nur erbracht, wenn es dafür Motive gibt. Die philanthropischen Pädagogen waren in erster Linie Psychologen, und sie wussten aus Erfahrung, dass Lernen und Leistung sozialpsychologische Grundlagen benötigt: die Weckung von Neugier und Ermutigung von eigenen Erkundungen und Erprobungen, eine Sicherheit bietende pädagogisch förderliche Atmosphäre und bestätigende Erfolgserlebnisse, Vorbilder und Regeln.
4.Die Philanthropine haben ein Bild des Lehrers geprägt, das nicht dasjenige des Hauslehrers, des Schulmeisters oder des nüchternen Gelehrten war, sondern des Freundes, Begleiters und Beraters der ihm anvertrauten Menschen.

Johann Bernhard Basedows „Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen und Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfahrt, mit einem Plan eines Elementarbuchs der menschlichen Erkenntnis“ aus dem Jahre 1768 enthielt einen kompletten Schulreformplan, in dem er die religiöse Toleranz der Schule (gemeint waren Staatsschulen mit Religionsunterricht im Hauptbekenntnis des Landes, die auch Andersgläubigen offen stehen sollten) eine zentrale staatliche Oberbehörde für das Schulwesen und einen einheitlichen Aufbau des Schulwesens.[8] Besonders trat er dabei für Lehrerseminare, Schulbücher und den Eltern und Lehrern in die Hand zu gebende Hilfsbücher ein. Als erster Beitrag erschienen von ihm ein „Methodenbuch“ und Teile eines „Elementarbuches“, das 1774 als „Elementarwerk“ herauskam.
Er wurde 1771 nach Dessau berufen und eröffnete dort mit seinem Mitarbeiter Wolke das Philanthropin als Musteranstalt.
Kant lobte das Dessauer Philanthropin als „Pflanzschule der guten Erziehung“ in seinen Vorlesungen und rief in der „Königsbergischen gelehrten und politischen Zeitung“ öffentlich zu ihrer Unterstützung auf:[9] „Sie (die Schulen M.L.) müssen umgeschaffen werden, wenn etwas Gutes aus ihnen entstehen soll (…). Nicht eine langsame Reform, sondern eine schnelle Revolution kann dies bewirken. Und dazu gehört nichts weiter, als nur eine Schule.“
Die Kritik an den herrschenden Schulverhältnissen war ein hervorstechendes Merkmal:[10] „Der Schulstaub liegt seit Jahrhunderten! Jung und Alt, was darin wandeln und athmen muß, wird krank im Gehirn; eine zähe Rinde, durch welche Wahrheit und Gutes kaum durchdringt, setzt sich um die Werkstatt der Vernunft. In der Brust entsteht eine Schwindsucht der Zufriedenheit und der Liebe zu Menschen, selbst schon in Frühlingsjahren. (…) Erbarmt euch Freunde der Frühlingsjahre!“
Die Verheißungen der philanthropischen Pädagogik entsprachen den Hoffnungen und Erwartungen der Befürworter der Aufklärung im 18. Jahrhundert:[11] „Natur, Schule, Leben: ist Freundschaft unter diesen dreien, so wird der Mensch, was er werden soll, aber nicht sofort kann: fröhlich in der Kindheit, munter und wissbegierig in der Jugend, zufrieden und nützlich als Mann.“ Zur Verwirklichung dieses pädagogischen Ideals sollten neue Unterrichtsmethoden im Philanthropin, insbesondere aber zukünftige Lehrer unterrichtsnah ausgebildet werden.
Eine Provokation für die Gegner aufgeklärter Geisteshaltung war die im Philanthropin praktizierte Erziehung zur Menschenfreundschaft und religiösen Toleranz. Er wandte sich scharf gegen den Einfluss der Kirche auf die Schule und forderte darum ein staatliches Erziehungs- und Studienkolleg als Aufsichtsbehörde über die Erziehung. Die pädagogische Praxis besaß den Anspruch, dass sie „von jedem Gottesverehrer (er sei Christ, Jude, Mohammedaner oder Deist) gebilligt werden konnte.“[12] Der gesamte Unterricht und alle Lehrbücher des Philanthropins sollten „frei sein von theologisierenden Entscheidungen für Christentum wider Juden, Mohammedaner und Deisten oder für diese und jene Kirche wider die sogenannten Dissidenten derselben, welche an einigen Orten Ketzer heißen (…). Denn der kosmopolitische Unterricht muß allgemein sein und von der Geistlichkeit keiner Art widerraten werden können.“ [13]
Die Realisierung des Programms der Erziehung zur Menschenfreundschaft und Toleranz im Unterricht und im Internatsleben des Philanthropins hatte die bürgerliche Intelligenz und Teile des aufgeklärten Adels im Blick. Deshalb war der philanthropische Unterricht auch nicht als Standesbildung für zukünftige Gelehrte geeignet. Gemeinnützige und utilitaristische Unterrichtsinhalte waren zur Vorbereitung auf Berufe wie Kaufmann, Jurist, Arzt, Beamter, Offizier, Architekt usw. gedacht. Die Eltern der Philanthropisten sollten auch den wesentlichen Teil der Finanzierung des Privatinstitutes erbringen. Durch freiwillige Beiträge, Schulgeld in beträchtlicher Höhe (250 Rthl. pro Schüler im Jahr) und andere Einnahmen der Schule (Verkauf von Erziehungsschriften) sollten Unabhängigkeit und Freiheit des Philanthropins gesichert werden. Trotz hoher Spenden von Einzelpersonen, insbesondere auch durch den Dessauer Fürsten, hatte das Philanthropin aber in jeder Phase seiner Entwicklung finanzielle Sorgen.
Die Existenz der philanthropischen Musterschule war eine Kampfansage an das herrschende Verständnis von Schule und Lernen, denn Basedow empfahl, den Unterricht möglichst angenehm zu gestalten. Bildungsinhalte waren der muttersprachliche Unterricht, moderne Sprachen, Geographie, Geschichte, Zeichnen, Mathematik und Naturkunde, handwerklich-praktische Unterweisung, Gartenarbeit, Wandern und Turnen. Es existierten über 40 Lernspiele, fächerübergreifender Unterricht, alle Sprachen sollten wie die Muttersprache erlernt werden.
Außerdem wurde im Dessauer Philanthropin großen Wert auf eine Veränderung des traditionell hierarchischen Verhältnisses zwischen Lehrern und Schülern gelegt.[14] Dies sollte eine Verbesserung des Lernklimas bewirken. Vorbild für die neue Sicht des Lehrer-Schülerverhältnisses war die idealisierte bürgerliche Familie, in der verständnisvolle Eltern mit gehorsamen Kindern freundschaftlich zusammenlebten. Das Internatsleben hatte Ansätze zur Selbstverwaltung der Schüler. Belohnungen (Meritentafeln, Lobbillets) und Ehrenstrafen spielten eine große Rolle, und man liebte feierliche Arrangements und Schaustellungen aller Art. Wie groß die Anteilnahme bedeutender Zeitgenossen war, wird durch die Tatsache bewiesen, dass zu einem öffentlichen Examen u.a. von Rochow und Campe erschienen.
Laut den Schülerlisten des Philanthropins haben insgesamt 187 Schüler die Musterschule für eine unterschiedlich lange Zeit besucht. Die Schülerliste belegt den europäischen Charakter des Philanthropins, denn es kamen 23 Schüler aus Livland, 7 aus Russland, 5 aus Kurland, 16 aus Österreich, Portugal und den Niederlanden. Weitere 50 Schüler kamen aus anderen europäischen Ländern.
Abgesehen von den finanziellen Problemen des Philanthropins waren die oft in persönlichen Kränkungen abgleitenden, destruktiven Streitereien unter den Pädagogen für den späteren Niedergang der Musterschule verantwortlich.


[1] Moll, M.: Grundzüge der Erziehung, Köln 2001, S. 57
[2] Vgl. dazu Schmitt, H.: Pädagogen im Zeitalter der Aufklärung: Die Philanthropen, in: Tenorth, H.-E. (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik, Band 1, München 2003, S. 119-143
[3] Basedow, J. B.: Das in Dessau errichtete Philanthropin, eine Schule der Menschenfreundschaft und guter Kenntnisse für Lernende und junge Lehrer, arme und reiche, Leipzig 1774, in: Benner, D./Kemper, H.: Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Weinheim 2000, S. 84-92, hier S. 84
[4] Vgl dazu Wohlers, H. (Hrsg.): John Locke: Gedanken über Erziehung, Stuttgart 1990 oder Stille, O.: Die Pädagogik John Lockes in der Tradition der Gentlemen-Erziehung, Erlangen/Nürnberg 1970
[5] Engbers, J.: Der „Moral Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland, Heidelberg 2001
[6] Cramer, J.A.: Allgemeines Gesangbuch auf Königlichen Befehl zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche in den Gemeinden des Herzogthums Schleswig, des Herzogthums Hollstein, Altona 1780
[7] Vgl. dazu Berrett, H.: Die pädagogische Neugestaltung der bürgerlichen Leibesübungen durch die Philanthropen, Stuttgart 1960
[8] Moll, Grundzüge der Erziehung, a.a.O., S. 89
[9] Kant, I.: An das gemeine Wesen, in: Groothoff/Reimers, Ausgewählte Schriften zur Pädagogik und ihrer Begründung, a.a.O., S. 62-65, hier S. 62
[10] Basedow, Das in Dessau errichtete Philanthropin, eine Schule der Menschenfreundschaft und guter Kenntnisse für Lernende und junge Lehrer, arme und reiche, a.a.O., in: Benner/Kemper: Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, a.a.O., S. 85
[11] Ebd. S. 86
[12] Basedow, J.B.: Philanthropisches Archiv 1776, in: Benner/Kemper: Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, a.a.O., S. 93-151, hier S. 116
[13] Ebd. S. 117
[14] Finzel-Niederstadt, W.: Lernen und Lehren bei Herder und Basedow, Köln 1986, S. 32

Über Michael Lausberg 572 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.

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