Dieses Stück, „Das ferne Land“ des mit 38 Jahren an Aids gestorbenen, in Deutschland so gut wie unbekannten französischen Autors Jean-Luc Lagarce, habe den 36-jährigen Regisseur Nicolas Charaux interessiert. Schon deshalb, weil es stark sei „und auch unmöglich“. Alles, was „unmöglich“ ist, findet Charaux toll, verriet er in einem Zeitungsinterview. Neues und auch Interessantes bieten für ihn „Reibung“ und „Überforderung“.
Womit die Regie-Hoffnung Charaux Recht hat. Was die „Reibung“ angeht, erlebt der Zuschauer Altgewohntes aus seiner eigenen Familie – freilich mit kleinen Unterschieden. Das anspruchsvolle, ziemlich langatmige Sprechstück will aufdecken, was jede Familie, auch wenn sie nicht wie bei Lagarce in „einer Art Stadt“ spielt, belastet: Streit, Konflikte, Zwistigkeiten aus Nichtigkeiten, ungestillte Sehnsüchte, Missverständnisse, Vorwürfe, Lieblosigkeiten, Geheimnisse, Eifersüchteleien. Überfordert wird der Zuschauer im Hinblick auf die Konstellation: Hier treffen sich, seltsam genug, aber durchaus neu und in der Tat „interessant“, noch nicht Tote und schon Tote. Die schon Toten sind wie selbstverständlich am Leben und nehmen daran teil, als ob sie nicht längst aus dem Leben, das ständig nach Halt und Liebe sucht, rausgenommen wären. Eine ganz und gar christliche Ansicht.
Schwer kommt man in diese Art von Sprechtheater hinein, das sich wohl besser als Hörspiel denn als Bühnenstück eignete. Die Zentralfigur Louis (Gregor Knop) ist nah am eigenen Tod. Der Junge hat Probleme – weniger mit seinen Eltern als mit seinen Geschwistern und, das ist das Spezielle, mit seinen Liebhabern. Diese diffizile Konstellation lockt, genährt durch einen Theater-Plakat-Skandal, Betroffene in diese Neuproduktion. Es ist zu befürchten, dass sie, weil die auf das Schwulsein zugespitzten Passagen zwar authentisch, aber dramaturgisch wenig tragfähig und schon gar nicht „hilfreich“ durchdacht sind, enttäuscht wurden. Das Programmheft bringt das jüngst von Konservativen als skandalös empfundene Plakat als Titelbild: zwei Jungen in Unterhosen und eindeutiger Umarmung kurz vor der körperlichen Vereinigung.
Wären da nicht drei, vier glänzend gespielte verbale „Ausbrüche“, die das Stück aus seinem sanften Dahinplätschern erlösen sollten – man hätte wohl frühzeitig den Saal verlassen. Ermüdend mutete die unbegründete Projektions-Mache an, die die Gesichter der abwechselnd vors Mikro geholten Sprechenden auf der Leinwand groß, aber verzerrt zeigte. Die „Highlights“ der Erregung des Vaters, der Freundin von Louis „Langjährigem“, der redseligen Suzanne – über Versäumtes, Verpfuschtes, Verqueres oder auch, leider viel, Belangloses – wurden im Grabblumen-geschmückten trostlosen Bühnenbild von Pia Greven überzeugend gespielt von Reinhardt Winter als (schon totem) Vater, Silas Breiding als (noch unglücklich lebendem) verkanntem Genie Antoine und von Mehmet Sözer als – auch schon totem – Liebhaber des leider blass bleibenden Louis, der zweifellos autobiographische Züge des Autors trägt und in seiner Verlorenheit dem jungen Woody Allen ähnelt.
Foto: HHans Gärtner) HHans Gärtner
Louis (Gregor Knop) mit seinem – schon toten – „Liebling“ (Mehmet Sözer) in der neuen Münchner Volkstheater-Inszenierung der Regie-Hoffnung Nicolas Charaux