Über Lutz Rathenow, Trotzig Lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten

Auf Diplomaten schießt man nicht

Lutz Rathenow

Ein Mensch wird geboren, und wenn man sich im Alter nach ihm umschaut, muss man ihn wieder zusammensetzen. Auch wenn bei einem noch alles am rechten Fleck ist, wuchsen einst die noch winzigen Extremitäten und schneller als der Körperstamm, was zu fortschreitenden Veränderungen der Proportionen und der Wahrnehmung führt.

Und wenn, wie in Lutz Rathenows gleichnamiger Anfangserzählung, der bunte Hampelmann im Kleinstkinderbett bequem „mit halbausgestrecktem Arm erreichbar“ ist, klingt die „Erreichbarkeit der Gesellschaft“ schon mit an.

Nichtsdestotrotz ist erst einmal Trouble und Trotz Programm wie die Todsünde Neid etwa, wenn bei Familienzuwachs plötzlich die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern fehlt.

Wie sich aus diesem ersten bösen Empfinden „wie Zahnschmerzen“ die Einsicht in die Notwendigkeit des Teilens entwickelt, könnte man den liebevollen Markstein dieses durchaus beeindruckenden Buches nennen.

Selbst die hinter sich zu bringenden Stufen eines sich schadlosen halten „kindlichen Imperialismus“ (Volker Braun), hat der Autor ans Herz gehend aufgedröselt.

Und er geht noch einen Schritt weiter. Im scheinbar zum Leben erweckten Hampelmann mit seinem Papperlapapp an Gruselgeschichten zum Erhalt der Süßigkeiten und Dienstleitungen (wie Taschengeld) der Schwester, erkennen die Eltern tadelnd das Talent des Sohnes. Wie der nun ein Kompendium weiterer abstruser Geschöpfe schafft, um die jüngere Schwester im Grunde bedingungslos kontrollieren zu können, verweist es auf die Probleme zu früher wilder Entfaltung. Doch muss draus wohl oder übel eine Wahrnehmungsveränderung folgen oder wir haben es mit einer unnötigen Auslassung derselben zu tun.

Die folgt aber der Autor eh noch einen Schritt weiter. Denn im scheinbar zum Leben erweckten Hampelmann mit seinem Papperlapapp an Gruselgeschichten zum Erhalt der Süßigkeiten und Dienstleitungen (wie Taschengeldabgabe) erkannten die Eltern tadelnd zwar das Talent des älteren Sohnes.

Der zaubert aber nun, sagen wir ruhig selbstverzaubert dazu ein Kompendium noch mächtigerer Unholde, um die jüngere Schwester im Grunde vollends zu kontrollieren.

Dass er Jahre später „erschrak“, wenn er „daran dachte“, offenbart diese Veränderung, obwohl diese Geschichte hier nicht aufgenommen ist.

Führte nicht dieses Erschrecken zu der unmöglichen Aufgabe vor der der Autor dieses Buches stand, den Sinn des Lebens, das Leben und das Leiden auch der anderen zu verteidigen?

Es schließt zumindest an einer schlüssig gemachten Schnittstelle an.

Es ist diejenige, wenn der ältere Bruder vollends hanebüchen von einem ans Fressen und auf die Gesundheit achtenden Mann in seinem Bauch erzählt, pariert die jüngere Schwester schließlich mit der unverwechselbaren Frau in ihrem Bauch. Mit der Vereinbarkeit der beiden imaginierten Figuren endet die Anfangserzählung, die somit zu einer autarken Ausgeglichenheit führt.

Das wäre die Grundbasis dieses Buches, das mit halbausgestreckter Armlänge auch besänftigend streichelt, anstatt mit ausgestrecktem Arm den Holzhammer zu schwingen.

Auch aus einem gleich erkennbaren Grund sei noch auf das Ende des Hampelmanns hingewiesen. Die Mutter entsorgt ihn der Extravaganzen satt.

Bei Ernst Jünger heißt es am Ende einer der Erzählung einer Jungfernjagd: Der Eber war nun in ihm.

Und auch im frühen Hit der Rolling Stones, „Jumping Jack Flash“, geht es letztlich um die Macht des Hampelmanns als Karikatur, als Satire – die, jetzt können wir das Einführende schließen, insgesamt einen beachtlichen Raum in Rathenow Werk und umgekehrt auch in diesem Buch einnimmt.

Nehmen wir nur jenen seltsamen Mann mit zwei Beilen, der den Träumenden kalt lässt, denn „es hätten drei sein können“ (Der Weg hin und der zurück), dann vernehmen wir gerade eben den Ton des Satirikers, den nichts in der Welt ihn die Knie zwingt.

Und dessen Haltung gerade darin sich offenbart, dass fast alles eigentlich„eine einfache Sache ist“ (Die Ostsee, der Urlaub und der Westen). Ist das Leben aber wirklich „gar nicht so schwer“, wie der Liedermacher Westernhagen sang?

Führt der in Tagträumen Amok laufende Protagonist (Töten lernen) nicht zurück an die innerdeutsche Grenze, wo Grundwehrsoldaten täglich vergattert wurden, „außer auf Schwangere und Diplomaten“ auf alle anderen Flüchtlinge aus der DDR zu schießen?

Vielleicht ist hier ein Trauma gemeint, dass schon die Kriegsheimkehrer 1945 weiterlebten, die Gewalt in ihren Familien ausübten.

Dabei ist auch die Parabel vom Regenwurm (Der erste Tag im Dezember), der gern mit anderen Regenwürmern gesprochen hätte und sich in Dialoghoffnung zweiteilt, worauf jede Hälfte stumm das ihre tut, ein Gleichnis auf das Unrecht und seine Bedingungen.

Zu finden einst zum Beispiel unter dem öffentlichen Radar in der der Stasi-U-Haft und in Hohenschönhausen (worüber Rathenow ebenfalls und als Betroffener sinnreiche „Überlegungen“ anstellt).

Dass Rathenow einmal vor allem als Bundesbeauftragter der Stasiunterlagen des Freistaates Sachsen damit zu tun bekommen sollte, scheint trotz der guten Figur im Amt alles in allem der Landepunkt einer satirischen Rakete gewesen zu sein. Das Sprichwort sagt ja: Der Mensch denkt und Gott lacht.

Wäre Gott auch erden ein Diplomat gewesen?

Mehr antworten gibt, das Buch abschließend, kenntnisreich und klug Marko Martin Lutz in seinem Porträt von Lutz Rathenow als, wie trefflich und treffend, „Troublemaker in der Stadt“.

Lutz Rathenow Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Marko Martin. 272 Seiten. Gebunden mit SU. Deutsche Erstausgabe € 24,00 (D) / € 24,70 (A)

Lutz Rathenow Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Marko Martin. 272 Seiten. Gebunden mit SU. Deutsche Erstausgabe € 24,00 (D) / € 24,70 (A)

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Über Axel Reitel 36 Artikel
Axel Reitel (*1961); 1982 Freikauf/Ausbürgerung; seit 1982 Hamburg, dann Westberlin; 1983 literarisches Debüt; 1985-1990 Studium (Kunstgeschichte/Philosophie); seit 1990 freischaffender Autor (u. a. Jugendstrafvollzug der DDR; Theorie vererbter Schuld); seit 2003 freier Mitarbeiter der ARD. Lebt in Berlin.