„Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“
Vielleicht wäre die „kleine Wahrheit“ aus dem Kult-Buch „Zarathustra“ des Philosophen Friedrich Nietzsche, diese „böse Handlungsanleitung für gekränkte frauenbesuchende Männer nie geschrieben worden, hätte er nicht das Mädchen getroffen, dem er jetzt mit so starken Absichten entgegengeht.“, schreibt die auf erstklassige Künstlerbiografien spezialisierte Kerstin Decker. Das Mädchen ist die 21-jährige Lolja Salomé, die dem „Übermenschen“, dem „Hochgebirgsdenker“ begegnet ist und ihn in einen nahezu magischen Bann zieht. Lou Andreas-Salomé avanciert zu seiner „Glaubensgenossin“, seinem „Geschwistergehirn“, einer „Inkarnation seines Übermenschenideals“. Sie scheint Nietzsches „personifizierte Philosophie“ zu sein. Er macht ihr mehrfach einen Heiratsantrag und sie lehnt ihn immer wieder ab. Sie stürzt ihn in tiefste Depressionen, bleibt aber dennoch für sein restliches Leben mehr oder weniger mit ihm verbunden.
Im „Zarathustra“ wird Nietzsche der Welt verkünden, dass „das Weib zur Erholung des Soldaten“ sei. Doch von „Lou Andreas-Salomé werden sich noch viele zu erholen haben. Diese Frau wird auf Dauer wenig Begabung zeigen für das Rollenfach ihres Geschlechts. Sie steht, im Sinne Nietzsches, jenseits von Gut und Böse, diese Vokabeln erreichen sie nicht.“, so die Autorin. Männer waren in ihren Leben stets etwas Höheres, Elementareres als ein Lehrer oder ein Mann je sein könnte. Sie waren ihr Heimat. Und zuweilen gab sie diese auch weiter. Der 21-jährige René Maria Rilke, der Name Rainer wurde ihm von Lou verliehen, fühlte sich ein Leben lang mit der 15 Jahre Älteren seelisch verbunden. Er war auch der erste, der sich körperlich mit ihr vereinen durfte. Ihrem angetrauten Ehemann gelang dies zeitlebens nicht.
Was hatte diese Frau an sich? Ihr überaus starkes Selbstbewusstsein, das sich bereits in frühester Kindheit entwickelte, kann es nicht allein gewesen sein. Welche Faszination ging also noch von dieser mit einem unglaublichen Intellekt gesegneten, russischen Generalstochter aus, die „in fast ärgerlicher Weise schon immer vorweg weiß, was kommt, und worauf es hinaus soll.“, wie es ihr langjähriger, nicht minder verzweifelter Freund Paul Reé einmal treffend formulierte. Lou Andreas-Salomé bewohnt nicht wie die meisten Menschen „ebenerdige geistige Ein- bis Dreizimmerapartments; ihr Denken ist platzgreifend…“. Vielleicht hat Nietzsche gar nicht so unrecht gehabt mit seinem Theorem von der „vollkommenen, bedingungslosen Hingabe“ des Weibes. In Lous Fall, so Kerstin Decker, „hat er nur die entscheidende Konkretion vergessen: unbedingte Hingabe ja, aber an sich selbst, an die eigene Zukunft. (…) Lou von Salomé war der General ihres Lebens.“
Kerstin Decker folgt den biografischen Spuren dieser faszinierenden Persönlichkeit. Sie baut „Gedankenschiffe“ und umsegelt ganz im Sinne ihrer Protagonisten deren geistige Welt. Eingewobene Romanauszüge der Autorin Lou sowie Gedichte und Briefe ihrer Verehrer bilden einen wertvollen und ergänzenden Teil einer durch und durch feinfühligen, wenn auch nicht leicht zu lesenden, herausfordernden, aber unglaublich bereichernden Biografie auf höchstem Niveau. Gleichzeitig legt die Autorin ein sehr gut recherchiertes Werk vor und bringt alles in einen kohärenten Zusammenhang. Gedanken und Gefühlen der Personen, die nicht auf tatsächliche Zeitzeugnisse zurückzuführen sind, nähert sich Decker behutsam an, wägt ab, variiert.
Nie zwingt sie ihre Interpretation auf, sondern erzeugt eine Art literarischen Schwebezustand, so dass der Leser sich eigenständig positionieren kann.
Entstanden ist eine Biografie, die sich durch Tiefe und Substanz auszeichnet sowie den kompromisslosen Lebensentwurf der exzentrischen „Autorin ihres Daseins“ wunderbar nachverfolgen, ihn nahezu selbst erleben lässt. Kerstin Decker arbeitet den Kern Lou Andreas-Salomés feinfühlig heraus. Sie lässt den Leser teilhaben an deren ganz ungewöhnlichem Wesen, „von ganz kindlicher Reinheit und Lauterkeit des Sinns und zugleich wieder von unkindlicher, fast unweiblicher Richtung des Geistes und Selbständigkeit des Willens und in beiden ein Diamant (…) Ein Diamant der funkelt, aber er ist undurchdringlich. Kein Stein ist härter als er.“
In gewissem Sinne war diese ungewöhnliche Frau die legitime Vorfahrin der Kinder des frühen 21. Jahrhunderts.
Kerstin Decker
Lou Andreas-Salomé
Der bittersüße Funke Ich
Propyläen Verlag, Berlin (Oktober 2010)
367 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3549073844
ISBN-13: 978-3549073841
Preis: 22,95 EURO
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