Dieses Buch über die acht Ostberliner Jahre 1948/56 des „Stückeschreibers“ Bertolt Brecht (1898-1956) war längst fällig, konnte aber erst nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 geschrieben werden, als Archive, Akten der „Staatssicherheit“ und Nachlässe zugänglich wurden. Verfasser dieses Buches ist der 1926 in Leipzig geborene Literaturwissenschaftler Werner Hecht, der bei Hans Mayer studiert hat und 1959 von Helene Weigel (1900-1971) ans „Berliner Ensemble“ verpflichtet worden ist. Er war 1985/2000 Mitherausgeber der 32bändigen Werkausgabe im Suhrkamp-Verlag und ist Autor der Bücher „Brecht-Chronik“ (1997) und „Leben Brechts in schwierigen Zeiten“ (2007).
Das neunte Kapitel dieses höchst spannenden Buches, das den Titel trägt „Keine Lösung. Der 17. Juni 1953“, ist das aufschlussreichste, was das Verhältnis des bis zu seinem Tode 1956 parteilosen Kommunisten Bertolt Brecht zum praktizierten Kommunismus Walter Ulbrichts (1893-1973) angeht. Diese Verhältnis war zwiespältig und voller Widersprüche, zumal der im Oktober 1948 aus Zürich ein- gereiste Dramatiker nie DDR-Bürger war, sondern 1950 die österreichische Staatsbürgerschaft annahm, seine Werke beim Suhrkamp-Verlag in Frankfurt/Main erscheinen und seine Westtantiemen auf Schweizer Banken überweisen ließ. Selbst die ein Jahr vor seinem Tod erschienene„Kriegsfibel“ (1955) war strenger Zensur unterworfen: Sie wurde als Ausdruck des „reinsten Pazifismus“ verunglimpftund durfte nur in gereinigter Fassung und minimaler Auflage erscheinen! Die vollständige Ausgabe erschien 1994.
Am Spätnachmittag des 16. Juni 1953 erfuhr Bertolt Brecht in Berlin-Weißensee vom Streik der Ostberliner Bauarbeiter. Am Abend dann trat der verängstigte SED-Vorsitzende Walter Ulbricht im Berliner Friedrichstadtpalast auf und erklärte: „Die Partei hat die Verbindung zu den Massen verloren!“ Daraufhin nannte Bertolt Brecht den Streik eine „selbstverschuldete Notwendigkeit“ und forderte im Gespräch mit seinem Mitarbeiter Manfred Wekwerth (1929) als Lösung des Konflikts: „Die Streikenden bewaffnen!“
Seine Mitarbeiterin Käthe Rülicke (1922-1992) schrieb mehr als fünf Jahre später, am 13. Dezember 1958, ihre Erinnerungen an den Tagesablauf Bertolt Brechts am 16./17. Juni 1953 nieder und übergab das Manuskript Hans Bunge, dem Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs 18956/62. Dieser vertrauliche Bericht aber wurde von Helene Weigel, der Witwe, weggeschlossen und war niemandem zugänglich. Der Niederschrift Käthe Rülickes zufolge gingen sie, Bertolt Brecht und sein Freund Jacob Walcher (1887-1970), ein 1951 aus der SED ausgeschlossener Kommunist, am frühen Morgen des 17. Juni durch Ostberlin. Der Generalstreik war ausgerufen, und Bertolt Brecht soll „tief bestürzt“ gewesen sein, dass Arbeiter gegen die Arbeiterregierung streikten!
Eine Stunde später schrieb er drei Briefe: an den Sowjetbotschafter Wladimir Semjonow (1911-1992), an Ministerpräsident Otto Grotewohl (1894-1964) und an Walter Ulbricht. Von diesem dritten Brief ist am 21. Juni, als der Aufstand niedergeschlagen war, in der SED-Zeitung „Neues Deutschland“ lediglich der letzte Satz veröffentlicht worden, der Bertolt Brechts Einschätzung des 17. Juni in ein völlig falsches Licht rückte: „ Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblickmeine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszudrücken.“
Was der Absender aber im zweiten Satz seines Briefes kritisch angemerkt hatte,dass er jetzt eine „große Aussprache über das Tempo des sozialistischen Aufbaus“ erwarte, war unterschlagen worden. Das nämlich hätte zu einer „Fehlerdiskussion“ zwischen DDR-Bevölkerung und Staatspartei geführt, die unbedingt zu vermeiden war, bei Strafe des Untergangs!
Um 13.00 Uhr am 17. Juni wurde von der Besatzungsmacht der Ausnahmetzustand verhängt. Die SED-Führung hatte längst beschlossen, dass der Arbeiteraufstand keiner war, sondern ein von Westberlin aus gesteuerter „konterrevolutionärer Putschversuch“. Nicht die SED war schuld, sondern der „Klassenfeind“ jenseits der innerdeutschen Grenze!
Empört darüber, dass der Schlussatz seines Briefes,der einen völlig falschen Eindruck vermittelte, von der Redaktion des „Neuen Deutschland“ in die Reihe der Ergebenheitsbekundungen an SED-Führung und DDR-Regierung eingerückt worden war, veröffentlichte Bertolt Brecht einen zweiten Text in der SED-Zeitung, worin er von „berechtigter Unzufriedenheit“ der Arbeiter sprach und noch einmal die „dringlich große Aussprache über die allseitig gemachten Fehler“ anmahnte. Ein Versuch, mit Walter Ulbricht über den Aufstand zu sprechen, misslang.
In Westdeutschland löste die angebliche Unterwerfung des „Stückeschreibers“ unter die Deutungshoheit der Partei „große Verwirrung“ und einen „Sturm der Entrüstung“ aus. Jetzt galt Bertolt Brecht als Parteigänger Walter Ulbrichts, dessen Dramen von den Theaterspielplänen abgesetzt wurden. Im Brief an seinen westdeutschen Verleger Peter Suhrkamp vom 1. Juli 1953 schrieb er, die Arbeiter wären „zu Recht verbittert“ gewesen. Peter Suhrkamp wagte nicht, diesen Brief, wie es der dringliche Wunsch seines Verfassers gewesen war, zu veröffentlichen.
Der Dichter zog sich, im Juli/August 1953 in sein Sommerhaus in Buckow/Märkische Schweiz zurück und arbeitete an einer Gedichtsammlung, die er „Buckower Elegien“ nannte und die erst 1964 erscheinen konnte. Dort fand man das Gedicht „Die Lösung“, worin der Regierung angesichts ihrer Unfähigkeit vorgeschlagen wurde, „das Volk aufzulösen und ein anderes zu wählen.“ Ein Tagebucheintrag Bertolt Brechts vom 20. August 1953 begann mit dem Satz: „Der 17. Juni hat die ganze Existenz verfremdet.“
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