Am 3. September vollendete in Köln-Dransdorf der DDR-Forscher Karl Wilhelm Fricke sein 90. Lebensjahr. Blickt man aus heutiger Sicht auf diesen ungewöhnlichen Lebenslauf, dann staunt man, mit welcher Zielstrebigkeit und Unbestechlichkeit er sich nach vierjähriger DDR-Haft zu einem der führenden DDR-Forscher entwickelt hat.
Geboren wurde er 1929 in Hoym, einer im Harzvorland gelegenen Kleinstadt. Als sechzehnjähriger Schüler musste er miterleben, wie sein Vater Karl Oskar Fricke im Juni 1946 vom sowjetrussischen Geheimdienst NKWD verhaftet und 1950 in den „Waldheimer Prozessen“ zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Er starb 1952 im Zuchthaus Waldheim/Sachsen an den Folgen einer Grippe- und Ruhr-Epidemie.
Karl Wilhelm Fricke wurde von dem, was seinem Vater widerfahren war, für sein ganzes weiteres Leben bis zur Berufswahl geprägt. Er verweigerte den vom Staat geforderten Eintritt in die „Freie Deutsche Jugend“ und wurde deshalb nach dem Abitur nicht zum Studium zugelassen. Am 22. Februar 1949 wurde er wegen einer SED-kritischen Bemerkung verhaftet, konnte aber, wegen einer Unachtsamkeit der „Volkspolizei“, während des Verhörs fliehen und über die innerdeutsche Grenze entkommen.
Er studierte dann bis 1953 an der „Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft“ in Wilhelmshaven, von dort ging er nach Westberlin, um sein Studium an der Freien Universität fortzusetzen. Neben dem Studium schrieb er für Presse und Rundfunk Beiträge über die undemokratischen Zustände im SED-Staat, vornehmlich über die Verfolgung Oppositioneller. Damit war er für das 1950 gegründete „Ministerium für Staatssicherheit“ zu einem gefährlichen Gegner geworden, der ausgeschaltet werden musste. Am 1. April 1955 wurde er in Berlin-Schöneberg in der Wohnung eines Stasi-Agenten betäubt und nach Ostberlin entführt. Der Haftbefehl war von Erich Mielke, damals noch stellvertretender Minister für Staatssicherheit, unterschrieben.
Danach folgten 467 Tage ununterbrochener Verhöre im Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen. Karl Wilhelm Fricke, der aus Westberlin verschleppte Student, verbrachte diese 15 Monate in Dunkelhaft im Keller des Gefängnisses, das von den Gefangenen „U-Boot“ genannt wurde. Schließlich wurde er am 11. Juni 1956 vom Obersten Gericht der DDR in einem Geheimprozess zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, die er zunächst in Brandenburg-Görden, später in der Sonderhaftanstalt Bautzen II verbrachte.
Hier in der sächsischen Stadt Bautzen/Oberlausitz gab es zwei Zuchthäuser, das eine, im Volksmund „Das gelbe Elend“ genannt, für gewöhnliche Gefangene wie den jungen Walter Kempowski (1929-2007), der später ein berühmter Schriftsteller werden sollte, und die MfS-Sonderhaftanstalt Bautzen II, wo prominente Häftlinge einsaßen wie der DDR-Außenminister 1949/53 Georg Dertinger (1902-1968), der Widerstandskämpfer Heinz Brandt (1909-1986), der als SED-Funktionär 1958 aus Ostberlin geflohen war und 1961 aus Westberlin entführt wurde, der Philosophieprofessor Wolfgang Harich (1923-1995), der Verlagsleiter Walter Janka (1914-1984), der Kulturredakteur Gustav Just (1921-2011), der Schriftsteller Erich Loest (1926-2013) und der Dissident Rudolf Bahro (1935-1997).
Nach seiner Entlassung am 31. März 1959 ging Karl Wilhelm Fricke nach Hamburg und nahm seine unterbrochene Arbeit als Journalist wieder auf. Die vier Jahre in Bautzen motivierten ihn, weiterhin über die DDR-Opposition zu berichten. Eines seiner ersten Bücher trug den Titel „Selbstbehauptung und Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone“ (1964). Als er 1970 mit 41 Jahren Leiter der „Ost-West-Redaktion“ im Kölner Deutschlandfunk wurde, war er finanziell abgesichert und veröffentlichte vor und nach dem Mauerfall 1989 ein Buch nach dem anderen. Die wichtigsten Titel sind: „Warten auf Gerechtigkeit. Kommunistische Säuberungen und Rehabilitierungen“ (1971), „Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968“ (1979), „Politischer Strafvollzug in der DDR“ (1981), „Opposition und Widerstand in der DDR“ (1984), „Die DDR-Staatssicherheit“ (1982), „MfS intern“ (1991), „Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung“ (1996).
Karl Wilhelm Fricke, der stets sachlich-zurückhaltend, obwohl immer auch emotional beteiligt, über DDR-Vorgänge berichtet hat, ist für seine Aufklärungsarbeit mehrfach ausgezeichnet worden, so 1996 mit der Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin, 2001 mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, 2010 mit dem Hohenschönhausen-Preis. Der einstige Fluchthelfer Burkhard Veigel stiftete 2017 den mit 20 000 Euro dotierten „Karl-Wilhelm-Fricke-Preis“, der von der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ vergeben wird. Erster Preisträger war der Namensgeber selbst.