Auf geht`s – in ein neues Jahrhundert … mit Salzburgs „Jedermann“!

Foto: Matthias Horn: Tischgesellschaft des „Jedermann“ – im Zentrum: das hier noch lockere Paar Lars Eidinger (Jedermann) und Verena Altenberger (Buhlschaft)

Die deutsche Starfotografin, Sitzplatz Reihe 13, linker Seitenblock, hat gegen die brütende Hitze auf dem Salzburger Domplatz vorgesorgt. Sie stülpt sich ein weißes Kopftuch über. Nimmt es, sobald es auf der Bühne spannend wird, kurz zur Seite. Einige Reihen weiter hinten kommt es viermal bei der 773. Aufführung des „Jedermann“ zu Notfällen im Publikum.

Der Theaterarzt muss her. Zwei Sanis vom RK eilen hinzu. Die für anderthalb Stunden angesetzte Nachmittagsvorstellung des „Spiels vom Sterben des reichen Mannes“ von Hugo von Hofmannsthal, tapfer durchgestanden von der Crew,  dehnt sich in den jungen Abend. Einige streben, noch tost der Schlussapplaus, dem Ausgang zu. Ist ein schweres Gewitter zu befürchten?

Kaum Mundschutz

Kaum jemand trug bei der total ausverkauften 10. Vorstellung einen Mundschutz. Die Reihen waren dicht besetzt. Man befreite sich von Janker und Schultertuch. War froh, die kurze Lederne, das leichte Dirndl gewählt zu haben. Beneidete schon nach wenigen Spielminuten den nur mit einer roten Kinderunterhose bekleideten Helden. Seine Worte sprach „Buhlschaft“ Verena Altenberger, die erste Salzburgerin des seit 1920 kontinuierlich aufgeführten Schlagers, synchron.

Den „geliebten Mann“, Jedermann, durfte sie dabei unter ihrem langen roten Gewand verbergen. Sie trug rote Hosen dazu. Sie hatte sowieso die Hosen an. Ihr Geliebter hatte sich darein zu schicken. Und kostete dabei seine wohl von vielen Männern im Publikum beneidete Geborgenheit – und Nacktheit – aus.

„Der Mensch kann, nachdem er`s macht, Gott oder Teufel sein“, sagte schon Angelus Silesius

Ja, es wurde so richtig weiblich in dieser 2021 erstellten Regie des überaus glückvollen Michael Sturminger. Er ließ die Burgschauspielerin Mavie Hörbiger sowohl Gott, den gestrengen Herrn, als auch den Teufel als hochhackigen Kasperl spielen. „Der Mensch kann, nachdem er`s macht, Gott oder Teufel sein“, sagte schon Angelus Silesius. Die großen Rollen gehören in dieser großformartigen Inszenierung denn auch den alten Frauen: Jedermanns Mutter: Angela Winkler, 78 Jahre alt, Tod: Edith Clever, vier Jahre älter, dazu der Glaube der schwangeren Kathleen Morgeneyer.

Lustig sind alle drei nicht. Sie haben nach Hofmannsthal das theologische Gerüst des Stückes zu tragen, das aus den Salzburger Festspielen seit Max Reinhardt nicht wegdenken ist: Gehorsam, Endzeit-Gefangenschaft, christlicher Fundus. Die „Werke“ gab der weise Sturminger einem Ensemble dämonischer, luftig bekleideter Jüngferlein anheim, die dem des Todes Sicheren noch einmal die Leviten lasen: wie wenig dieser Schnösel doch des Guten gedachte, wie sehr er doch auf seinen Reichtum pochte.

Den verkörperte endlich mal kein dicker, vollgefressener Mammon mehr, sondern ein gelenkiges, attraktives Bürschchen, mit dem es Jedermann im Boxer-Ring aufzunehmen gedachte, bei dem hitzigen Kampf jedoch unterlag. Aber als Mammon wollte das Kerlchen es mit dem Verhassten noch einmal aufnehmen – ob ihm dazu der Kübel diente, aus dem er ihm seinen Münzen-reichen Besitz vorwarf, oder nicht.

Mirco Kreibich glänzte

Mirco Kreibich glänzte in dieser Doppelrolle. Der Sonderbeifall hätte auch Jedermanns „Gutem Gesellen“ gebührt, dem der Berliner Anton Spieker prägende Gestalt gab. Was für ein feiner, adretter, gelenkiger Junge! Wäre der dem mit (wer weiß warum) weiblichen Attributen wie Hänge-Brüsten versehenen Jedermann in seiner androgynen Einstellung verfallen, hätte sich seine Buhlschaft nicht wie eine Klette an ihn hängen brauchen. Bis kurz bevor ihm der wunderbar sonore Tod die Pranke auf die Brust schlug, um auf dessen Schoß zur Pietà zu werden, die Geliebte in anrührender Weise nach ihm – wortlos – die Arme ausstreckte. Anrührendes Seelentheater.

Ins neue Jahrhundert

„Wir brechen auf ins neue Jahrhundert“, erklärte Salzburgs Schauspiel-Chefin Bettina Hering noch vor der Premiere. Mit dieser von der einfühlsamen bis witzigen Musik Wolfgang Mitterers, realisiert vom in Schwarz gekleideten Ensemble 021, getragenen Inszenierung wird dieses Versprechen voll eingelöst. Was letztlich auf das Konto des Hauptdarstellers Lars Eidinger, geht.

1976 in Berlin geboren und nicht nur als Schauspieler („Berliner Ensemble“), sondern auch als Regisseur, Designer, DJ und Fotograf (man beachte sein Foto-Essay im Programmbuch) gibt der energiegeladene Darsteller dem „Jedermann“ 1921/22 durch seine ungebrochene Intensität der Verkörperung eines gebrochenen verwöhnten Pinkels, der sich abmüht, aus dem Leben nicht schon in jungen Jahren gerissen zu werden,  überzeugend Gestalt und Gehalt.

Die letzten Aufführungen dieser einzigartigen „Jedermann“-Ausgabe – Eidinger und Altenberger hören danach auf – sind am 20., 24. und 26. August jeweils um 17 Uhr.

Über Hans Gärtner 502 Artikel
Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.