Asyl-Debatte – Die Not im eigenen GeistKritik an der Wut der Leute – aber auch an der Wut über die Wut

»Geht die Mehrheit in ihrer bisherigen Unachtsamkeit, Gedankenlosigkeit und Zerstreutheit so ferner hin, so ist gerade dieses, als das notwendig sich Ergebende, zu erwarten. … Auf diese Weise gewöhnt man sich sogar an Sklaverei, wenn nur unsre sinnliche Fortdauer dabei ungekränkt bleibt, und gewinnt sie mit der Zeit lieb; und dies ist eben das Gefährlichste an der Unterworfenheit, dass sie für alle wahre Ehre abstumpft und sodann ihre sehr erfreuliche Seite hat für den Trägen, indem sie ihn mancher Sorge und manches Selbstdenkens überhebt.« (1)
Früher hatte Kaiser Wilhelm gesagt, «am deutschen Wesen soll die Welt genesen» – heute kann man nur anregen, dass die Leute die Verhältnisse in ihrer Heimat zu ihren Gunsten ordnen, eine funktionierende Sozialordnung gestalten (helfen). Da sieht man stattdessen vielfach die Ohnmacht. Der Grund für massenhafte Landflucht wird nicht in einem plötzlichen kulturellen, touristischen Interesse bestehen, und die Kriege, Kämpfe, Taten des Unrechts sind ja nun bekannt. Und dennoch soll ja auch jeder Mensch Interessen für sein Leben haben und verfolgen dürfen (können). Es ist also ein ganz irriges Argument, wenn man meinte, Menschen in Not hätten diese nicht, könnten diese nicht haben oder hätten ihre Not durch ihre sozusagen falschen Interessen erst hergestellt. Man kann Irrtümer schlecht ahnden, ohne sich dabei als überlegen zu definieren. Und es ist, wie sich aus folgenden Überlegungen zeigen soll, eine ganz falsche, moralisierende Absicht, Irrtümer ahnden zu wollen, ja ein falscher Lebenssinn, der in den Fokus des Bewusstseins rückt. Es geht natürlich um den Irrtum, ein schlechteres Leben zu haben, haben oder ertragen, hinnehmen wie auch nicht hinnehmen zu müssen, nicht um den Irrtum, sich gegen Unrecht oder Unbill zur Wehr zu setzen. Sollte diese Wehr auch nur in der Flucht bestehen.
Und wenn man nun meinte, man könne nicht alle herkommen lassen, sondern müsse darauf bedacht sein, den Leuten dort, von wo sie herkommen, das zu ermöglichen, was sie hier (angeblich) vorfänden, dann fällt das fast unter das Dogma der Vergessenheit von Geschichte, steht man doch letztlich wieder auf der Position, dass das deutsche (oder eben das vorbildliche) Wesen auf anderes übertragbar sei. Was ja nicht sein soll, schaut man abstrakt auf das Selbstbestimmungsrecht. Und an diesem Punkt wird die Psyche der Überlegenheit betroffen, die da, wo sie nicht Bejahung findet, schnell in die Gefilde einer sogenannten narzisstischen Kränkung abgleitet. Eine Kränkung, die man sich allem Anschein nach erst durch eigene Überhebung bzw. Überlegungen zur Überlegenheit beibringt. Und es ist ja auch nicht das deutsche Wesen, sondern bestenfalls ein vernünftiges. Und der Anspruch, Irrtümer zu beseitigen, mag in einem aufgeklärten Weltbild für einzelne oder sogar für systemisches Wirken eine Rolle spielen, findet aber seine Grenze darin, sofern man Menschen selbst als Irrtum definiert. So lustig wie zweifelhaft es zunächst auch sein mag, hört man in der Manier eines Groschenromans die eine Stimme der anderen sagen: du warst / bist ein Irrtum. Das ist eine narrative Verengung.
Dieses subjektive, intersubjektive Feld steht hier gar nicht zur Debatte. Und es bringt nicht viel, wenn man die übersubjektiven Ausfälle – die sich in der Überschrift andeuten – auf subjektive Vermögen zu Lust und Reflexion zurück übersetzt, so wenig, wie es Sinn stiftend zu sein scheint, fortwährend den Quell so vieler Wut in Enttäuschungen jener zuvor genannten Erfahrungen / Antworten zu verorten, bzw. also Gewalt (sei diese rational, sei diese real) mit dem Begriff der Minderwertigkeit / der Ablehnung kompensieren / erklären zu wollen, als hätte man so die Schablone des Verstehens neu erfunden. Auch dies wäre nur eine Ahndungsabsicht, in der sich das aufgeklärte Denken genügt, um seine Ursprünge im körperlichen Bedürfnis abzusichern oder zu bejahen. Denn es geht ja auch nicht nur um ein System der Wunscherfüllungen, in das nun plötzlich fremde Mächte einfallen, und so eine frühere Erfahrung von Lust als gefährdet beschreiben. Das trägt allemal nur unter Umständen zu einer Bereitschaft bei, sich bspw. der Dummheit (der Tat / Wut) zu überantworten, was allerdings in allen anderen Fällen des Lebens genauso zum Ausschlag käme, insofern – selbst wenn als Argument zugelassen – dann als dauerhafte Bedingung dastehen würde. Und darum scheint es gerade nicht zu gehen, denn Anlässe fände der enttäuschte, von Bedürfnissen erfüllte Mensch auch sonst so vielfältig. Man müsste sie ja nur erfinden, und alsbald hätten sie Geltung für das Denken.
Und es ist nicht unvernünftig, Interessen zu haben, seien diese nun auf das bessere Leben abgestellt oder überhaupt auf den Erhalt des Lebens. Wir finden also in der primären Asyl-Debatte bereits eine ganz unvernünftige Trennung, wo nämlich zwischen wirtschaftlichen und politischen Reisenden getrennt wird, als hätten beide Sphären, beide Begriffe in der Lebenswelt von Menschen gar nichts oder kaum etwas miteinander zu tun. Touristen, die sich während ihrer Reise ein Auskommen sichern wollen, sind auf dem heutigen Stand von Kultur und Lebensweise ebenfalls nicht mehr undenkbar. Es ist also einerseits ein Aspekt von Luxusleben oder andererseits ein völlig mittelalterliches Denken, wenn man meinte, Reisende wären nur dann legal, würden sie ein erhebliches Vermögen mit sich führen. Das widerspräche auch ganz der hiesigen Vermögensstruktur. Reise, Ortswechsel und auch sich woanders Zurechtfinden sind Aspekte einer natürlichen (freiwilligen) Freizügigkeit, einer natürlichen und menschlichen Intelligenz, selbst wenn durch nationale Schranken begrenzt, und nicht allein Aspekte einer wirtschaftlichen Situation. Sich dem Leid (oder allein der Unzufriedenheit) zu entziehen, ist allemal vernünftig, und damit ein intelligentes Anliegen. Wie viel schlimmer als fahrlässig handelt man also, straft man diese Intelligenz mit Gewalt?! Als ginge es darum, die hiesige Dummheit zu sanktionieren, und genau darum dreht sich die Problematik. Nicht nur diese.
Theoretisch ist dem Dilemma (so – durch Wesen und Identifikation) nicht zu begegnen, und hätte ja nur den Anschein von Konsequenz, würde man grundsätzlich nur in Austausch mit Staaten / Bevölkerungen stehen, die ihrerseits alles nach ihrer Zufriedenheit geordnet haben. Und man kann Ruhe und Ordnung im politischen Sinne nicht mit Zufriedenheit verwechseln. Jedenfalls ist offenbar die Lösung derzeit nicht die letzte Weisheit, dass, wenn hiesige Verhältnisse nicht überall gelten können, muss das Überall zum Hiesigen kommen. Das dürfte nicht nur im Falle von Deutschland / Europa so sein. Die Probleme, die wir inländisch erleben, beruhen doch oft kaum in mehr als darin, dass sich manche eine Tür in die Vergangenheit offen halten wollen, also produktiv das Wirken in der Welt nicht thematisiert werden kann, außer durch versteckte oder offenbare wirtschaftliche Aktionen, da auch eine restlose Distanzierung zur falschen Vergangenheit, weder gedanklich, noch praktisch, geleistet wird. Eine dieser Türchen heißt immer noch Recht des Stärkeren. Und quasi exemplarisch finden wir dies in Krisenregionen. Und wir als sozusagen Abendländer haben derzeit – ausgehend von anderen sozialen Debatten / Stichwort Arbeit, Volksvermögen, Wohlfahrt – eher das Problem, nicht auch bald uns als Krisenregion deklarieren zu können, zu müssen.
Eigentlich ist kein Land der Alten Welt ein (klassisches) Einwanderungsland, das ergibt sich aus der Logik der Begriffe, außer man wählt als Maßstab die Zeit der Völkerwanderungen. Letztlich reflektiert sich in der Asyldebatte nur abermals das Problem der Autonomie anderer Staaten und des eigenen. Und Beharren auf den eigenen Standpunkt ist keine Autonomie. Kein Mensch ist für sich alleine verantwortlich für den Staat seiner Herkunft, so wenig wie umgekehrt, aber an dieser Stelle hält sich wohl ein ungreifbares Problem auf. Man scheint es Menschen übel zu nehmen, nutzen sie nicht ihren persönlichen Einfluss, sondern konvertieren diesen gedanklich in Interessen, die sie irgendwo / irgendwie erfüllen können. Quasi eine Ahndung abstrakteren Denkens / Lebens, welches sich nicht beizeiten, an Ort und Stelle (wo vormals) in wirkliche Zufriedenheit umsetzt, abarbeitet. Bei Krisen-Flüchtlingen dürfte diese Konstellation jedoch kaum häufiger anzutreffen sein als sonst auch, aber, selbst Flucht anzutreten bzw. Krisen zu erkennen, ist ja bereits eine Form des Abstrahierens.
Macht man es nun Menschen zum Vorwurf, ihr Schicksal nicht duldsam ertragen zu wollen? Nachdem man den Schicksalsbegriff weitestgehend verdrängt hat. Man sieht jedenfalls an den Versuchen zur Deformation bzw. Infragestellung von sozialem Status, dass ausgerechnet dieses Thema in kaum einer Weise irgendwie mit einem sozialen Schicksal assoziiert wird, am wenigsten, wenn es um Akzeptanz nicht nur der anderen, sondern auch der eigenen Lage geht. Dass es fortan nun Schicksal sei, sich um diese oder jene Menschen zu kümmern, für ihr Wohlergehen zu sorgen, das will dem aufgeklärten Verstand nicht richtig schmecken. In gleicher Weise ergibt sich ein Motiv der Handhabe über alles, was da kommt und geht und außerhalb einem angeblich normalen Status liegt. Und Wut (der besorgten Bürger/innen und Amtspersonen) scheint da kaum mehr zu sein (bzw. sein zu wollen) als eine (kaum tragische / mehr oder weniger harmlose) emotionale Verlängerung dieses Handhabe-Gedankens (letztlich irgendwie über alles und jeden); quasi wie das Allerselbstverständlichste, was man zu erwarten hätte, beträte man unaufgefordert oder doch uneingeladen hiesigen Boden, hiesige Amtsstuben, und wolle nun sich ein besseres Leben abholen. Und als solle man es nun Glück nennen, nicht der Wut, sondern nur der Handhabe anheim zu fallen. Das lässt ja auch Spielräume für Gestaltungen noch zu.
Das System der humanitären Hilfe kommt gedanklich kaum über das Konzept Luftbrücke der Nachkriegszeit hinaus. Und viele scheinen immer noch der Meinung zu sein, dass die Sparsamkeit der Nachkriegsjahre immer noch der Maßstab für hilfebedürftige Menschen zu sein hat. Das sieht man nun verstreut an einigen Debatten, nicht nur an der des Asyls. Solange prekäre Verhältnisse und Lebensformen von manchen ausgenutzt werden können, gibt es Gründe, diese Verhältnisse nicht abzuändern, selbst wenn es sich nicht um absolute Gründe handelt. Und diese Gründe sollten nicht die letzten Argumente bleiben. Abstrakt finden immer Interessen und Gründe zusammen. Doch wie sinnvoll ist es, sozusagen wegen der Kehrseite der Freiheit auf diese selbst böse zu sein, ja, zu verzichten? Als sei damit nun die natürliche Berechtigung der Wut ausgemacht. Und die Beweglichkeit des Menschen, sei diese gedanklich, sei diese tatsächlich, ist nur das Vermögen jedes einzelnen, der Unausweichlichkeit von Gründen und Interessen begegnen zu können. Auch das ist vernünftig, wenn auch nicht das einzige Mittel der Wahl. Man verlangt nun Menschen ab, wirklich keine andere Wahl mehr gehabt zu haben, und das verdeutlicht eine weitere Verengung.
Es ist daher nicht überzeugend, dass sich Debatten fortschreitend in anderen Diskussionen verfangen. Es mangelt an Klarsicht; und wiewohl so eine Aussage als einfacher Füllsatz erscheinen kann, so sehr ist darauf hinzuweisen, dass Klarheit (im erkennenden Sinne) mit den zuvor erwähnten gedanklichen (und dann lebenspraktischen) Verengungen wenig gemein hat. Es ist auch nicht gerecht, andere oder sich selbst zu einem unvernünftigen Leben zu zwingen, denn erst dieses – das vernünftige – kann die Basis für Gerechtigkeit sein. Ist es moralisch verwerflich, andere zu einer vernünftigeren Einrichtung ihres Lebens, ihrer Zuständigkeit, ihres Lebensraums zu bewegen, eventuell sogar zu zwingen? Nein (vermutlich nicht). Das gilt in Bezug auf die Verbesserung von Gesellschaft ebenso. Der normative Missstand kann ergo nicht zugleich auch der Maßstab für die Abhilfe sein. Diese Denkfigur ist billig, wird dennoch immer bzw. oft oder doch in einschneidenden Fällen übersehen. Nicht alles, was da vernünftig ist oder scheint, ist auch machbar.
Norm-Fetischismus bringt gar nichts. Das Leid dieser Welt wird von geistig Unbeweglichen erwirkt. Und natürlich von der einseitigen Beweglichkeit der Gründe und Interessen. Warum sollten gerade diese alle Autonomie für sich alleine beanspruchen können?! Vielleicht weil sie das bisher auch geschafft haben, und dabei schneller, besser oder hartnäckiger waren als andere? Oder weil sie sozusagen erfolgreich damit oder erfolgreicher waren? Asyl ist inzwischen auch (nur) eine Metapher für das Beharren in der Zeit, für Diskurs-Hoheit, für Einschluss und Ausschluss, für offen und geschlossen, für Vernunft und Interesse. Und für die Verselbständigung sozial wirkender Mechanismen, die oft kaum mehr als Glaubensinhalte im neueren Sinne sind. Gemeint ist zum Beispiel die globale Verwertbarkeit von Arbeitskraft oder überhaupt globale Mechanismen, die angeblich dem einzelnen Leben gegenübertreten, obwohl sie doch erst durch dieses (en gros) gebildet, gestaltet, vermittelt werden.
Und es ist nun einmal so: es gibt keine geschlossenen Systeme, nicht auf der Ebene über einer primären Natur und außerhalb der Technik, und der Versuch, sie herzustellen, bewirkt nur mehr Leiden und Irrsinn. Und es scheint bestenfalls ein organisatorischer Anspruch hinter diesem Bedürfnis nach Geschlossenheit zu stehen, welches einerseits Zeitgeist markiert bzw. die Unfähigkeit, organisatorische Engpässe zu vermeiden, welches andererseits aus der Geschichte der Arbeits-, Konzentrations- und Internierungslager nichts gelernt hat, selbst da, wo das Konzept bis auf Staatsgröße ausgedehnt wurde. Und was wir derzeit global erleben und was in gewisser Weise der derzeitigen Menschheit eine Gestalt aufdrückt, ist das Auftauchen an immer mehr Orten von humanitären Auffanglagern. Dadurch zeitigt sich sozusagen eine Denkkrücke.
Die Idee der Humanität soll nicht ganz verloren gegeben werden, aber der Geist, der sich an den Geist erinnern will, der diese Idee dachte, kommt nicht mehr über den Grad simpler organisatorischer Fragen hinaus, erschöpft sich in normativen Fragen der Bereitstellung, des Transports, muss Massen verdichten, zusammenfassen, zumindest wird an dieses Muss gedacht, geglaubt. Der Gedanke der Geschlossenheit resultiert nicht aus dem Begriff Staat an sich, diese sind schon lange offen, und er resultiert auch nicht aus der Technik, die zur Abhilfe oder sonst eingesetzt wird. Wenn wir heute von geschlossenen technischen Abläufen etwa bei den Lebensmitteln sprechen, dann ist das nur ein Appell an ein Ideal: nämlich Erreichbarkeit / Verfügbarkeit für alle, auf ein Maximum gehoben, und Verschwendung (bspw. durch Verderben) auf ein Minimum gedrängt. Es ist also ein ganz anderer Begriff bzw. Begriffsinhalt, der mit dieser Geschlossenheit gemeint ist.
Sollte Logistik inzwischen zu den Tugenden der Vernunft gehören, so gilt für sie, was einige bereits über jene sagten, dass der Flug der Minerva wohl erst in den Abendstunden begönne. Warum dies? Weil zwischen ordentlichem und außerordentlichem Recht / Zustand unterschieden wird, weil immer noch so getan wird, als sei Not, Unglück, Leiden, Missstand eine ganz zufällige Begebenheit, für die einzelne zwar eventuell etwas können, im kausalen oder juristischen Sinne, für die andererseits immer bis dahin keine oder kaum geistige Ressourcen zur Verfügung standen, einfach weil es nicht in das Feld regulärer Planung fällt, und weil abstrakt also der Plan nicht die Ausführung / Ausgestaltung / Beschreibung seines Gegenteils ist. Wir – als Erdenmenschen, als Erdenbürger/innen – sind also quasi auf einem Auge blind, und unsere Aufmerksamkeit wird völlig durch den Plan des Regulären in Bann gehalten (so sehr wir auch durch Schreckensmeldungen abgelenkt und ihrerseits in den Bann gezogen werden können), und selbst wenn einige wenige Kräfte für die Bewältigung von Ausnahmen abgestellt sind (und hierzu gehört grundsätzlich nicht die Bürokratie insgesamt), gelingt es fortwährend nicht, die Normalität des Unnormalen in das normale Leben zu integrieren. Das hapert oft schon an den geistigen Voraussetzungen.
Denn woher kommt denn die Brüskierung über sogenannt Irreguläres? Das – die reale Unmöglichkeit / Absenz geschlossener Systeme – gilt auf individueller wie auf sozialer und dann interkultureller Ebene. Und es ist ein ganz billiger, irregulärer Trick, das bezeichnete Unvermögen nun denjenigen in die Schuhe zu schieben, die mehr oder weniger davon betroffen sind. Doch fühlen sich (neuerdings) immer mehr betroffen als in Wirklichkeit sind, wie bspw. Helfer sich durch das Betroffensein Betroffener ebenfalls betroffen sehen können. Und das zeigt ein bisschen die Absurdität eingeschlagener Pfade zur Bewältigung humanitärer Aufgaben. Aber, so könnte man versöhnlich anfügen: es ist kein schlechtes Zeichen, wenn jemand mit dem Herzen dabei ist, die Sache des Anderen zu seiner macht, und auch so empfindet. Doch diese Versöhnung ist keine mit dem Unglück, und findet auch nicht statt, wenn das metaphorische Herz in eine andere Richtung ausschlägt. So bleibt als Grund bisweilen nur Hass, die Ablehnung der Betroffenheit, ein schieres Unverständnis für das bis dahin Irreguläre, für den Irrtum in der Welt sozusagen. Von Erdbeben, über Kriege, bis hin zu Arbeitslosigkeit können wir alles in die Variabel Irrtum einfügen. Und dafür halten – so will es unser auf Personen konzentriertes, fokussiertes Denken – Menschen mit ihrem Leben (sozusagen mit ihrem Kopf) hin, gerade wo ihnen andere Wahl genommen wird. Und dass die Normalität selbst der Irrtum sei, ist ein beliebter und leidiger Gassenhauer in den sozialen und politischen Wissenschaften. Und wer, der das Herz noch auf dem richtigen Fleck hat, lässt sich schon von Wissenschaft bevormunden? Man muss allerdings die Frage anfügen: wie viel weniger nun diejenigen, die es nicht ganz an dieser Stelle tragen?!
Noch ist kein Weltstaat, und das tut auch nicht Not, zeigt sich doch darin auch nur der Versuch, eine normative Geschlossenheit auf alles auszudehnen. Zufriedenheit und Gerechtigkeit wären jedenfalls Maßstäbe, die nicht nur von außen an ein Individuum anzulegen wären, die selbst dem Individuum zugebilligt werden sollten. Da ändern abgeschlossene Definitionen dieser Begriffe auch gar nichts. Es ist widervernünftig, Menschen fortwährend zu ihrem Glück zwingen zu wollen. Selbst die beste Gerechtigkeit (wenn dieser Gedanke mal überhaupt eine Rolle spielen könnte) verlangte nach Einverständnis, nicht nur nach Durchsetzung. Das gilt natürlich als pauschales Argument für viele Seiten. Auch das Glück, helfen zu können, ist insofern zweischneidig. Daher verdeutlicht die Problematik auch wieder nur eine fehlende Gewohnheit, überhaupt argumentieren zu können / zu wollen, überhaupt über etwas gedacht zu haben, bevor es Wirklichkeit ausmachte, überhaupt die Notwendigkeit zu Disput als wichtig zu erachten, und verweist so auf das mangelnde Verständnis am Irregulären wie auf einen ganz wesentlichen Mangel im Selbstverständnis. Denn dass ein freier Mensch ein regulärer Mensch sei, das ist in etwa so widersinnig, wie wenn man vom genetischen Stamm eines Baumes auf die Gleichheit seiner Blätter schließen würde. Natürlich gibt es Ähnlichkeiten, aber das sagt noch längst nicht alles. Und dass Freiheit selbst ein Regulativ ist, etwas Regulatives, das wäre als Feststellung einem fortgeschrittenen Diskurs angehörig, der nicht nur plakativ Ausnahme und Normalität unterscheidet. Katastrophen, die die Menschheit verhindert hat, finden erstaunlich wenig Beachtung in der Geschichte – und dies ist ein allgemeines Problem unseres Geschichtsverständnisses.
Eine widervernünftige Methode macht keine bessere Welt. Auch nicht als Nebeneffekt. So schön da auch Konzepte wie der Effekt des Abtröpfelns aus der Wirtschaft uns das Gegenteil begreiflich machen wollen. Solange sich positive Nebeneffekte überhaupt von organisatorischem Handeln ergeben, muss man sie ja nicht stoisch zurückweisen. Dies basiert mitunter auf einer Konsenshaltung, die der Einsicht geschuldet ist, dass die Idealität technischer geschlossener Abläufe, wie man sie bspw. aus der Produktion kennt, nicht auf soziales, öffentliches, staatliches, halbstaatliches, kommunales, zwischenstaatliches oder globales Leben zu übertragen ist. Und das kann auch nicht der Anspruch werden. Die Weltmenschheit (als globales System) ist keine Produktionsstätte für mehr oder weniger gelungenes Leben, für mehr oder weniger richtige Menschen. Allein, weil der Gedanke, Leben sei Produkt von System, ein falscher ist, und die grundsätzliche Relation verkehrt. Das System (an dieser Stelle lasse ich diesen pauschalen Begriff mit Absicht zu) ist, wenn überhaupt, ein im Produktionsprozess befindliches Produkt von Leben, von Engagement, und auch von vielfältigen Ausflüchten, betroffenen Biographien, aber auch gelungenen; und weder eine gelungene noch eine sogenannt gebrochene Biographie ließe sich mit dem Wort normal abstempeln. Absegnen schon eher, doch dafür (als Witz am Rande) wären die geistigen Mächte, um nicht zu sagen die geistlichen, dieser Welt und der anderen zuständig, und die stünden für sich genommen außer Ordnung oder in ihrer eigenen, und nur über Umwege in irgendeiner Normalität oder im System. Wir denken in diesem Sinne das Wort System nur mehr als Werkhalle / als Garten, als Ort, an dem etwas bewältigt wird. Wie wir auch die Welt als unser Haus metaphorisch neu denken könnten.
Und wir sollten uns auch nicht wünschen müssen, unfrei zu sein, um normal zu sein. Und es steht unter dem Zeichen einer Widerlogik, dass man andere zu etwas veranlassen will, was man selbst nicht will, dass andere sich wünschen sollen, was man selbst nicht als wünschenswert erachtet. Und es ist ein Anzeichen von Niedertracht, sollten andere sich dies nicht nur wünschen sollen, sondern müssen, würde man also den inneren Kern der Widerlogik dahingehend ausdehnen, dass man den Zwang zum eigentlich nicht Erstrebenswerten noch über die eigenen Werte und Maßstäbe stellt. Und es ist zu erkennen, dass diese Werte – wie vorab gezeigt – nicht in einer normativen Bestimmung sich erschöpfen, ihre Erfüllung finden. Das wäre hingegen, in einer ganz primitiven politischen Sprache: reaktionär, unrepublikanisch. Und die Republik (in der jetzigen Gestalt einer föderativen Demokratie) ist immer noch die Basis für alle weiteren gesellschaftlichen Reisen in die Zukunft. Reise an dieser Stelle als Metapher für eine (in ihren Bedingungen und Gestaltungen) nicht als abgeschlossen zu definierende geschichtliche Bewegung (im kollektiven Ausmaß). Wir wollen aber fortschrittlich sein, weil wir den Vorteil unseres eigenen Lebens in Anspruch nehmen wollen, das heißt, dass ein Mensch in gewissen Graden einer Selbstbestimmung über sich folgen kann. Dies wäre ein Minimal-Kriterium für menschliches, für vernünftiges, für gelingendes Leben – und daher der soziale Konsens. Und wir sollen wollen können, dass dieses Wollen auch anderen Menschen erfahrbar werden kann (das wäre eine aktualisierte Maxime). Das ist kein Wunschdenken, sondern soziale Realität.
Der Glaube auf ein besseres Leben war in diesem Sinne alles andere als widervernünftig. Und wer will nun wem den Glauben nehmen, verbieten oder eintrichtern?! Das Problem dreht sich um eine Glaubens-Hoheit, und darum, dass manche meinen, einen besseren Glauben schon früher gefunden zu haben, und daher in höherer Berechtigung der Gunst stünden, eine Gunst, die man nur scheinbar sich selbst gewährt (etwa durch Zugehörigkeit, Dabeibleiben oder Arbeit), und die nur unrichtig auf höhere Mächte übertragen wird (etwa Regierung, Volksvermögen, Eigentum oder soziale Identitäten). Fast will es den Eindruck machen, als gäben die Günstlinge dieser Welt den Maßstab für Gerechtigkeit, für gerechtes Handeln ab. Dem ist aber nicht (unbedingt) so. Wie viel weniger jedoch die Wütenden. So ist die Wut, selbst sei sie berechtigt, denn den Anspruch zu fühlen kann man nicht in Abrede stellen, zu ersuchen, in sich selbst einzutauchen, um sich von innen her zu erfahren und aufzulösen, allein nicht nur in wohlfeile Worte oder ebensolches: als Wut in der Wut. Wer nicht den Mut hat, dem (eigenen) Zorn zu begegnen, der oder die braucht gar nicht erst wütend tun, der oder die hat gar keinen Grund, keine Basis. Wer ihn aber findet, den Mut, der oder die hätte es wohl nicht mehr nötig. Wir sehen also hinter aller Wut einen Mangel an Mut. Und es gebricht am Mut, die Gedanken zu fassen – das nationale Leiden im Geiste.

(1) Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, Zwölfte Rede.

Über Rösike Axel 13 Artikel
Vita Axel Rösike, Studium an der Freien Universität Berlin. Magister Artium. Einige Schwerpunkte: Ästhetische Theorie, Kritische Theorie, Konstruktivismus, Systemtheorie, Interpretation klassischer Texte der Philosophie, Philosophie Asiens: Buddhismus, Konfuzianismus. Wertethik, Kulturanthropologie. Entwicklungspsychologie, Selbstkonzept. Tätigkeit als Freier Journalist bzw. Autor.

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