Eine Reflexion über den Begriff „Otium“ als Gegenstück zum „Negotium“, als Weg – wie im alten Rom – zu geistiger Regeneration und neuer Schaffenskraft empfängt die Besucher der 57. Kunstbiennale von Venedig in dem Hauptpavillon an den „Giardini“. Der „schlafende Künstler“ aus der Foto-Serie „Artist at Work“ (1978) von Mladen Stilinovic., prominenten Zagreber Concept-Artist der 70er Jahre, stellt auf Anhieb die Gestalt des Künstlers inmitten des Geschehens der Megaveranstaltung, die sich mit Werken von 120 Kunstschaffenden aus 85 Nationen und 22 Collateral Events in die ganze Lagunenstadt und zum ersten Mal ganz offiziell bis zum Festland – nämlich bis nach „Forte Marghera“ – ausbreitet.
In den Absichten der diesjährigen künstlerischen Leiterin und Kuratorin, der französischen Kritikerin und früheren Chefkonservatorin des „Centre Pompidou“ Christine Macel, wird der Künstler selbst zum Protagonisten der Schau und zum Interpreten der Bestrebungen aber auch der Ängste und der wachsenden Unsicherheit des Menschen in einer Epoche der „globalen Unordnung“ voller „Konflikte und Schocks“. In einer von Künstlern und für Künstler konzipierte Schau, setzt die erfahrene Kuratorin auf einer Kunst, die – wie der Titel VIVAARTEVIVA verheißt – ganz lebendig sein soll, ein Ziel, das schon durch die Anwesenheit zahlreicher Künstler – unter ihnen viele unbekannten Namen – vor Ort erreicht wird, die ihre handwerklichen Fertigkeiten direkt vor dem Besucher unter Beweis stellen. „Green Light“, die vom Dänen Olafur Eliasson koordinierte Gruppenarbeit von 80 in Venetien aufgenommenen Flüchtlingen, steuert in diese Richtung im Zentralpavillon, wo Lampen zusammenbaut werden, die zu guten Zwecken veräußert werden. Lebendige Kunst, die auch ein Spiegel der Komplexität unserer Zeit sein soll wie sie sich beispielsweise in den wissenschaftlichen, künstlerischen und metaphysischen Visionen des aus Zambia stammenden Multitalents John Latham (1921-2006) wiederfindet, dem eine eindrucksvolle Retrospektive gewidmet ist. Oder in „Studio Venezia“, dem von Xavier Veilhan in ein Tonstudio umgewandelten „Französischen Pavillon“: Tonstudio und Künstleratelier zugleich, der an Schwitters „Merzbau“ erinnert. Als Spiegel der Seele in ihrer Vielschichtigkeit erweist sich der von Anne Imhof als Glashaus umgestaltete „Deutsche Pavillon“, wo sich in der fünfstündigen mit dem Goldenen Löwen preisgekrönten Performance FAUST in die Abgründe des Gewissens in einer vom Geld beherrschten Gesellschaft durchschauen lässt, in der der „Körper zum Konsumgegenstand des freien Marktes“ wird. „Ähnlich wie im Faust – dies die Aussage – „wollen wir etwas verkaufen, das es gar nicht gibt. Die Seele gibt es hier nicht, die Waren der Finanzwirtschaft gibt es nicht, und doch, oder gerade deshalb, funktioniert das System“ .
Eine Referenz an den großen Alberto Giacometti (1901-1966), der sich immer weigerte, an einer Kunstbiennale teilzunehmen, sind die Werke und die Filme, die der von seinem Bruder Bruno Giacometti erbaute „Schweizer Pavillon“ dem großen Bildhauer widmet. Einen Hauch Wahnwitz bringt ins „Britische Pavillon“ die farbenprächtige Installation „folly“ mit Werken aus armseligen Materialien wie Gewebe, Beton, Pappe und Gips von Phillida Barlow, die sich mit abstrakten Begriffen wie Zeit, Gewicht, Rhythmus oder Gleichgewicht auseinandersetzen. Zwischen Abstraktion und sozialem Engagement schwanken wiederum die teilweise an die Architektur vom „Amerikanischen Pavillon“ adaptierten Werke von Mark Bradford, die unter dem Titel „Tomorrow is an other day“ gezeigt werden.
Von gewohnter Raffinesse der „Japanische Pavillon“ mit der Installation „Turned Upside Down, It‘s a Forest“ von Takahiro Iwasaki. Eine minutiöse Rekonstruktion mit dreidimensionaler Technik antiker traditioneller Bauten wie vom altem Shintu-Tempel „Itsukushima“ tritt hier der Darstellung industrieller Anlagen entlang der Künste entgegen. Realisiert wurden sie mit Materialien des täglichen Gebrauchs wie Handtüchern , Büchern und Kunststoffabfallprodukten.
Einer weißgrauen Wolke mit wie Rost anmutenden rosaroten Reflexen ähnelt die Skulptur aus Kissenacrylfüllung und Metallwolle, die eine Abschussrampe für Raketen oder Satelliten darstellen soll. Als Teil der aus sechs verschiedenen Werken bestehenden Installation ist „Sun Sand Still“ im „Israelischen Pavillons“ eine Anspielung an das biblische Wunder bei der Eroberung von Kanaan, als der Prophet Jehoschua der Sonne und dem Mond befahl, stehen zu bleiben. Dabei knüpft sie an die unerfüllbare Sehnsucht des Menschen an, die Zeit anzuhalten. Wuchernder Schimmel an Mauern und Böden bildet die Kulisse für das poetische und zugleich kritische Oeuvre des Tel Aviver Künstlers Gal Weinstein, das zur Metapher der Geschichte Israels mit all ihren Höhen und Tiefen avanciert.
Von den Giardini mit ihren vielen nationalen Pavillons geht es zum Arsenale, wo die Schau ihre geballte künstlerische Ader preisgibt. Dort steht der erstaunte Besucher vor einer Explosion von Farben und Klängen, die sich in einem Kaleidoskop von Texturen und monumentalen Kreationen aus Papier, Stoffen und Fäden, aus recycelten oder organischen Materialien offenbart, wie die aufblühenden Pflanzen, die in Michel Blazys Installation „Collection de Chaussures“(F) aus Sportschuhen heraus sprießen oder die imposanten Gewebe-Architekturen des deutschen, auch preisgekrönten Franz Erhard Walter. In den durch die neue Raumaufteilung entstandenen neun „Transpavillons“ mit den suggestiven Namen „Pavillon der Erde“, „Pavillon der Traditionen“, „Pavillon der Schamanen“, „Dionysischer Pavillon“, „Pavillon der Farben“ oder „Pavillon der Zeit und der Unendlichkeit“ entsteht bei den Besuchern die Wahrnehmung, sich in einem von Kunstschaffenden jeglicher Art und Ausrichtung gemeinsam bespielten
Raum, die ihrer Kreativität freien Lauf geben und dies in voller Autonomie voneinander und ohne vorgegebenem Thema. Zahlreich die Werke, die ins Staunen versetzen, wie die viel beachtete Installation „One thousand and one night“ der Belgierin Edith Dekyndt, in dem ein auf einem weißen Rechteck stehender Mann endlos mit einem Besen Licht kehrt, wie wenn es Staub auf einem Teppich wäre.
Weitere imposanten Großinstallationen füllen die noch verbliebenen nationalen Pavillons im Arsenale. Beispielhaft unter vielen Claudia Fontes stampfendes weißes Pferd in der monumentalen Installation „“El Problema del Caballo“ im „Argentinischen Pavillon“ und die 1.500 rund um den „Chilenichen Pavillon“ eingereihten Mapuche-Masken von Bernardo Oyarzùm, die alle Blicke katalysieren. Ganz anders als in den vergangenen Editionen zeigt sich der „Padiglione Italia“, wo diesmal „nur“ drei Künstler das gespenstische von Cecilia Alemani kuratierte Projekt „Magische Welt“ ins Leben rufen. Dazu gehören die düstere ins Wasser getauchte Kathedrale aus Metallgerüsten des Venezianers Giorgo Andreotta Caló und die ebenso aufwühlende Großinstallation des Mailänders Roberto Cuoghi mit ihrem Medienmix aus Skulptur, Malerei, Video und akustischen Gestaltungsmitteln.
Viel weniger Videos sind in dieser von Malerei und Skulptur in verschiedenen Formen dominierten Biennale.
Dafür aber Spielfilme wie der innovative im „Neuseeländischen Pavillon“ auf einer 40 Meter breiten Leinwand vorgeführte digitale Animationsfilm der Maorie-Künstlerin Lisa Rehiana, der schonungslos-unterhaltend auf die Kolonialgeschichte eingeht.
Ein Thema zieht sich konsequent durch beide Sitze der Schau, die in diesem Jahr in ihrer Gesamtheit von Christine Macel kuratiert wird. Es sind die Bücher als wiederkehrendes Thema bei mehreren Künstlern, gewichtet in einer „post-Internet-Zeit“, in der das „Verhältnis zwischen Künstlern und dem geschriebenen Wort“ sich neu definiert und an Bedeutung hinzugewinnt.
Die Kunstbiennale ist inzwischen ein globalisiertes Phänomen geworden. Initiativen und Projekte rund um sie vermehren sich in Galerien, Museen, Palästen, Kirchen und neulich auch in Hotels oder Bars. Zwischen zwei eleganten Luxushotels der Stadtmitte – „ Ca‘ Pisani“ und „Saturnia International “ – teilt sich die von Doron Polak und Esther Drori kuratierte Doppelausstellung „Vanishing Lands“ auf, die sich mit dem „Dahinschwinden“ von Naturgebieten oder historisch-kulturellen Schätzen beschäftigt und Parallelen zwischen dem von den aufsteigenden Fluten bedrohten Venedig und den sinkenden Landschaften am Toten Meer zieht.
Ein Highlight der ersten Woche war die Installation auf der Dachterrasse des Hotel Gabrielli an der Riva degli Schiavoni mit ihrer atemberaubenden Aussicht auf die Lagune. Dort hat die Künstlergruppe „Super+“ (Alexander Deubl, Konstantin Landuris und Christian Muscheid ) in Kooperation mit dem Architekturbüro UNS eine bewegbare Bar in Anlehnung an den bayerischen König Otto I. installiert, der 1832-1862 von Griechenland aus regierte und dort das Brauereiwesen nach dem deutschen Reinheitsgebot einfuhr. Der Barkörper und die Arkadengänge des Baus sind eine Hommage an den 1909 durch Mitwirkung der Künstlergruppe Münchener Secession im neoklassischen Stil erbauten „Padiglione Bavarese“, den Vorgänger des heutigen in der NS-Zeit erbauten „Deutschen Pavillons“ Zeitgenössische Kunst verwandelt in den nächsten Monaten das äußere Erscheinungsbild der Stadt, die sie großherzig aufnimmt und mehr und mehr zum Freilichtmuseum wird. Aus dem Canal Grande sichtbar wird zum Beispiel die zwanzig Meter hohe „Golden Tower“ von James Lee Byars, während aus einer Terrasse über dem Wasser bei der Ca‘ Doro zwei zyklopische weiße Hände von Lorenzo Quinn emporsteigen und versinnbildlichen, wie es in der Macht des Menschen liege, die Welt zu vernichten oder zu retten.
Bis zum 26.November www.labiennale.org
Weitere Links:
http://olafureliasson.net/archive/artwork/WEK109681/green-light
www.prohelvetia.ch – www.biennals.ch
www.venicebiennale.britishcouncil.org
www.2017.veneziabiennale-japanpavillon.jp
www.bienalvenecia.cultura.gob.cl
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