„Ich brauche das tägliche Notieren und Schreiben (…) lebensnotwendig, ich brauche es seit den frühen Kindertagen, seither habe ich nicht aufgehört, Tag für Tag notierend und skizzierend zu schreiben. Inzwischen füllen meine täglichen Notate und Skizzen Tausende von schwarzen Kladden.“
Dieses außergewöhnliche Weben eines bunten Teppichs aus Schriften und Bildern – Hanns-Josef Ortheil nennt sie die „Architektur eines Tages“, seine „Komposition“, die „Folge seiner Phasen, Erlebnisse und Atmosphären“ – hat eine ganz konkrete Ursache. Weil seine Mutter nach einem schweren Schicksalsschlag (vier ihrer fünf Kinder starben) ihre Sprache verloren hat, bleibt auch Ortheil bis zu seinem siebenten Lebensjahr stumm. Er wächst in einer Art autistischer Symbiose zu ihr auf; in einem Spielzeugland, in einer beinahe großen geräuschlosen Zone. Nur der Vater fungiert als verbindendes Glied zur Außenwelt. Bei einem längeren Aufenthalt auf dem Land, gemeinsam mit ihm, spricht er seine ersten Worte.
All dies hat der Autor bereits in seinem 2009 erschienenen, autobiografischen Roman „Die Erfindung des Lebens“ verarbeitet. Die danach erschienene „Moselreise“, ging noch tiefer an die Wurzeln seiner eigenen Geschichte und entwickelte sich zu einem entscheidenden Wendepunkt in Hanns-Josef Ortheils Leben, weg vom „stummen Idioten“, „der Raum und Zeit kaum erlebt“ und hin zum „Leser, der Räume und Zeiten auf sich bezieht und ihre Wirkungen auf die Wahrnehmung protokolliert.“ Durch sein tagtägliches Notieren, was er sieht und hört, kämpft der damals Elfjährige während der fast zweiwöchigen Wanderung im Jahr 1963 gewissermaßen gegen die Angst an, die Sprache wieder zu verlieren. „Denn in den Spuren der Schrift ist das Vergehen, aber auch die Formung von 'Zeit' ablesbar…“
Nach Berlin reist er erneut nur mit seinem Vater. „Diesmal ging es jedoch nicht um eine Wanderung durch eine beliebte deutsche Ferienlandschaft, sondern um eine Wiederbegegnung mit den Menschen und Räumen, die meine Eltern während der Kriegsjahre kennen gelernt und aufgesucht hatten.“ 1939 bezogen jene frisch verheiratet in Lichterfelde ihre erste gemeinsame Wohnung. Doch das Glück währte nicht lange. Der Vater muss in den Krieg, die Mutter verliert bei einem Fliegerangriff ihr erstes Kind. Als der Zwölfjährige die Reise mit seinem Vater antritt, ahnt er noch nicht, wie tief er in die Vergangenheit seiner Eltern und damit auch in seine eigene vordringen wird. Bis dato wurde dieses Leben beinahe vollständig von ihm ferngehalten. Die Berlinreise – drei Jahre nach dem Mauerbau – entwickelt sich aber nicht nur zu einer Reise zu seinen Wurzeln, sondern auch „zu einer Reise in die Gegenwart des Kalten Krieges und in die Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs.“
Der vorliegende, unveränderte Text des jungen Hanns-Josef Ortheils aus dem Jahr 1964, den er aus seinen damaligen Reisenotizen zu einem kleinen Reiseroman ausarbeitete und seinem Vater zu Weihnachten schenkte, zeugt bereits von der unglaublichen Begabung und Wortgewandtheit und Wortliebe des späteren Schriftstellers. Mitunter merkt man ihm das junge Alter seines Verfassers kaum an. Zuweilen witzig und unverstellt, dann wieder durchdacht und emotional und immer mit einer ungewöhnlichen Beobachtungsgabe ausgestattet, entstehen nicht nur neun intensive und ungeheuer interessante Tagesberichte (30. April bis 08. Mai 1964) in und um Berlin, sondern Ortheil reflektiert, analysiert und realisiert Gegebenheiten, Begegnungen und Erlebnisse mit großer Intensität und Eindringlichkeit. Er hört den damaligen Berliner Bürgermeister Willy Brandt vor dem Reichstag sprechen, verzweifelt beinahe an den langen und langweiligen Reden beim ebenso ausdauernden Frühstück der Berliner, hat ungemein intensive Erlebnisse bei einem Konzert in der neuen Berliner Philharmonie, schaut sich eine Theateraufführung und den neuen James Bond Film im Kino an und besucht gleich zweimal den Osten der geteilten Stadt. „In Ost-Berlin war alles irgendwie angespannt und sehr anstrengend, und es lag eine Art von Knistern in der Luft, denn nichts war so, wie wir es aus dem Westen gewohnt waren.“
Der Text – ein stetes aufmerksames Beobachten – wird zuweilen von Postkarten, die der Bub an seine Mutter schreibt und von tiefsinnigen Gedankenanalysen über bestimmte Begrifflichkeiten und Erlebnisse durchbrochen, in denen Ortheil bereits großartige philosophische Fähigkeiten offenbart. Der Autor überrascht mit einer erstaunlichen Fähigkeit zum Reflektieren und Analysieren, die klare Gedanken und schlüssige Überlegungen beinhalten. Gleichzeitig zeugt die Reise aber auch von einer intensiven Annäherung an all die Welten in denen seine Eltern und vor allem seine Mutter zu Hause war. Dadurch wird die Fremde zu einem Raum, der allmählich seine bedrohliche Fremdheit und Ferne verliert.
Am letzten Tag unternehmen Vater und Sohn noch eine Fahrt mit S- und U-Bahn sowie Bussen durch ganz Berlin bis hinaus in seine Randbezirke. Diese Tour d'Horizon soll im Grunde genommen auch mein Fazit darstellen: „Eine Tour d'Horizon ist also nichts für das genaue und geduldige Kennenlernen und Schauen, sondern eine Tour, bei der man die einzelnen Stationen und Gegenden im Kopf miteinander verbindet, wie man das bei einem Puzzle tut. Stück für Stück setzt man an- und nebeneinander, und langsam entsteht im Kopf dann ein Bild (oder auch ein Gemälde). (…) Schön war auch, dass der krönende Abschluss nicht nur ein Berlin-Abschluss und damit ein Rückblick war, sondern auch schon ein Vorausblick auf das Zuhause, mitsamt dem Zuhause im Westerwald.“
Genau so ein Buch hat der junge Ortheil geschrieben.
Hanns-Josef Ortheil
Die Berlinreise
Luchterhand Literaturverlag (Juni 2014)
284 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3630874304
ISBN-13: 978-3630874302
Preis: 16,99 EURO
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