Arbeiten und nicht verzweifeln

Mit dieser Parole hat Thomas Carlyle im 19. Jahrhundert aus dem asketischen Geist der protestantischen Arbeitsethik etwas gegen die bloße Gewinn- und Wachstumshoffnung ausrichten wollen, damit aber zugleich zur Hypostasierung des Arbeitsbegriffs beigetragen, von dem sich wohl auch ein wenig die Katholische Soziallehre hat anstecken lassen. Freilich hatte Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Laborem exercens“ (1981) nicht bloß die Arbeit (als abhängige Erwerbstätigkeit) in ihrem Verhältnis zum Kapital im Visier. Sondern auch die geistige Form der Arbeit. Seine Arbeit an sozialethischen Konzepten zielte auf die Widerlegung des Marxismus-Leninismus und hat zur Erledigung des östlichen Staatssozialismus beigetragen. Ein schönes, gern erwähntes Beispiel für die Wirkungsgeschichte der Katholischen Soziallehre, mit der sich damals nicht nur Politiker, sondern sogar Intellektuelle ernsthaft beschäftigten.
Mit der „Globalisierung“ nach 1989 schienen die alten sozialen Fragen ausgeräumt, die sozialistischen Utopien ausgeträumt zu sein. Aber vielleicht trifft inzwischen eher die witzige Warnung Kurt Tucholskys zu: „Der Sozialismus wird erst siegen, wenn es ihn nicht mehr gibt.“ Unter der westlichen Freiheitsfahne breitete sich zunächst die Hoffnung aus, daß sich künftig ein Liberalismus (welcher?) in Verbindung mit kapitalistischen Gewinninteressen
quasi geschichtsnotwendig und weltweit („Ende der Geschichte“) ausbreiten würde. Dieser Erwartung ist allerdings die Realgeschichte nicht gefolgt. Das voraussetzungslose Freiheitsverständnis konnte nicht begreifen, daß es Kulturen, Weltanschauungen und Religionen geben könnte, die sich nicht einfach „westlich“ vereinnahmen lassen.
Jedenfalls wollen sich China und Rußland, Afrika und Lateinamerika, die buddhistische, hinduistische und islamische Welt nicht ohne weiteres dem Druck, den Konditionen „des Westens“ unterwerfen. Sie wollen sich vor allem keine neokolonialistische „Diktatur des Relativismus“ (Joseph Ratzinger, 2005) gefallen lassen. Zu dieser sanften Diktatur bekennen sich unausgesprochen vor allem jene, welche das Fortbestehen religiöser Traditionen und Kulturen, überhaupt aller Wahrheitsansprüche unter Ideologieverdacht stellen, ohne diesen Verdacht nach seinem Wahrheitsgehalt zu überprüfen.
Diese Überprüfung hat die katholische Kirche am wenigsten zu befürchten, da es ihrer akademischen Theologie schon immer darum ging, den christlichen Glauben mit der allgemein menschlichen Vernunft in Übereinstimmung zu bringen – oder wenigstens in ein widerspruchsfreies Verhältnis. Aber was bedeutet heute noch Vernunft? Und gibt es überhaupt noch eine klare und distinkte Philosophie, die sich der Erfahrung, dem Phänomen des Glaubens adäquat nähern kann? Es gibt schon lange nicht mehr die Philosophie, die der
Theologie die Kategorien undBegriffe überliefern und damit zu einer Synthese führen könnte, wie sie mittelalterlich von Thomas von Aquin geleistet wurde.
An der modernen pluralistischen Zerrissenheit leidet natürlich vor allem eine religiös normative Soziallehre, die sich nicht risikolos und unkritisch irgendeiner sozial- oder politikwissenschaftlichen Hypothese anschließen kann, deren Geltung schon morgen überholt sein wird. Woher bezieht die Katholische Soziallehre die Kriterien ihrer Kritik, die zugleich als Aufbaukriterien einer reformierbaren Gesellschaft und Wirtschaft gelten können? Und zwar weltweit?
Solche geschichtsübergreifenden Wertkriterien sind der Kirche seit zweitausend Jahren durchaus vertraut, und zwar in biblischer wie auch naturrechtlich-vernünftiger Begründung. In ihrer eigenen Geschichte hat diese Kirche auch genügend Lehrgeld bezahlen müssen, das in ihre Lehrtradition eingeflossen ist. Die vielen Erfahrungen, die diese Kirche auf dem Buckel hat, macht sie nicht gerade attraktiv für eine Gegenwart, die auf das jeweils Neue fixiert ist und Analogien zur Vergangenheit ungern zuläßt. Schlimm wäre es freilich, wenn sich diese Kirche von ihrer eigenen sozialethischen Tradition ablösen könnte, indem sie sich den bloß spontanen, gefühlsmäßigen, zeitgemäßen, rein religiös-mystischen Betroffenheiten öffnete.
Die katholisch-sozialethische Systematik bedarf durchaus einer päpstlich approbierten Lehre, die sich in eine Kontinuität einfügt, wie sie von Papst Benedikt XVI. vorgezeichnet wurde. Der inzwischen emeritierte Papst hat Erhebliches zur Festigung und Weiterentwicklung der Katholischen Soziallehre geleistet, indem er moraltheologische und sozialethische Belange, offenbarungstheologische und natur-rechtliche Aspekte, die tugendethischen mit strukturethischen Linien vermittelte. Der Nachfolger scheint an diesen systematischen Fragen weniger interessiert zu sein. Aber auch ein praktischer Pastoralpapst müßte an der grundsätzlich-ethischen Lösung politisch-ökonomischer Fragen der Gegenwart interessiert sein. Und er täte gut daran, den Spuren seines großen Vorgängers zu folgen.
Die Katholische Soziallehre hat einen schweren Stand in einer Zivilisation, die den christlichen Glauben verwässert, das Soziale durch Sexuelles verdrängt, traditionelle Werte und kulturelle Identitäten auflöst und kirchliche Lehrtraditionen mit Fundamentalismus gleichsetzt. Dies namentlich im „freien Westen“, dessen Freiheitsverheißungen für andere Kulturen immer weniger anziehend wirken. Die relativistische Freiheitsideologie ist dabei, sich selber ad absurdum zu führen, indem sie auf die Probleme, die sie selber erzeugt hat, mit autoritären Mitteln, mit freiheitsberaubenden Kontrollen und Eingriffen reagiert. Zum Schaden der freiheitlichen Ordnungsformen von Demokratie und Marktwirtschaft.
Die Akkumulation der Probleme (Ehe und Familie, Erziehung, Demographie, Sozialstaat, Einwanderung, Islamisierung, Terrorismus, Ökologie, Europa, Finanzkrisen etc.) läßt sich nicht sozialtechnologisch lösen, sondern bedarf der Arbeit an sozialethischen Ordnungskonzepten, an denen sich gefälligst vor allem die Kirchen und ihre Sozialethiker zu beteiligen haben. Diese Arbeit vertreibt die Verzweiflung, aber auch die Hoffnung auf einen Himmel auf Erden.

[c] Die neue Ordnung: Nr. 3/2015 Juni
http://www.die-neue-ordnung.de/

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Über Wolfgang Ockenfels 43 Artikel
Prof. Dr. Dr. Wolfgang Ockenfels, geboren 1947, studierte Philosophie und Theologie in Bonn und Walberberg. 1985 erhielt er eine Professur für Christliche Sozialwissenschaften mit den Lehrgebieten Politische Ethik und Theologie, Katholische Soziallehre und Sozialethik, Wirtschaftsethik sowie Familie, Medien und Gesellschaft an der Theologischen Fakultät Trier. Ockenfels ist zudem Geistlicher Berater des Bundes Katholischer Unternehmer BKU und Chefredakteur der Zeitschrift "Die Neue Ordnung" in Bonn. Er gehört zum Konvent Heilig Kreuz der Dominikaner in Köln.

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