Apokalypse-Blindheit und Apokalypse-Phantasma

Bild von Miroslava Chrienova auf Pixabay

„Einer Studie zufolge haben Kundgebungen gegen die Corona-Beschränkungen im vergangenen Herbst zu einer starken Ausbreitung des Virus beigetragen.“ (tagesschau.de Stand: 09.02.2021 16:12 Uhr)

Die Anwesenheit des Virus hat vollends das durchgesetzt, was Günther Anders die Apokalypse-Blindheit nannte. In seinem Text „Die Wurzeln der Apokalypse-Blindheit“ von 1962 schreibt er: „Das Furchtbare an unserem atomaren Elend besteht tatsächlich darin, dass es als Elend überhaupt nicht oder kaum empfunden wird…“ Empfunden und als drohende Apokalypse beschworen und – häufig mit verkehrten Mitteln – abgewehrt wird aktuell vorrangig die Covid-19-Pandemie.

So war es auch, als am Osterwochenende Menschen auf die Straße gingen, um neben Anderem gegen das permanente Vorhandensein von Nuklearwaffen und gegen eine im wahrsten Sinne des Wortes „tragfähige“ deutsche nukleare Teilhabe zu demonstrieren: Die Verteidigungsministerin möchte die veraltenden Tornado-Kampfflugzeuge durch atombombenfähige Bomber ersetzen, damit endlich auch Deutschland das nukleare Inferno gen Osten tragen kann.

2021 war der Hamburger Ostermarsch ein Osterstand. Am Jungfernstieg, direkt an der Binnenalster, durften sich 200 Personen versammeln – aber eben nicht marschieren, sich nicht in Bewegung setzen und sich so als Bewegung zu erkennen geben. Als der vorgesehene Ort mit 200 Personen angefüllt war, gaben die Organisatoren Order, die überschüssigen Personen mögen sich bitte zu einem zweiten und dritten Osterstand unweit des Jungfernstieg begeben. Zwischendurch erging die Aufforderung, den Bürgersteig frei zu halten. In Anbetracht der überbreiten Promenade an der Hamburger Binnenalster und bei Schnee und Hagel bestenfalls ein groteskes Anliegen.

Offensichtlich hat ein Apokalypse-Phantasma in Hamburg am 5. April dazu beigetragen, dass nicht einmal der Versuch unternommen wird, die Apokalypseblindheit zu kurieren, Apokalypseblinde wieder sehend zu machen: Mit der Reduzierung des Ostermarsches auf einen bloßen Osterstand und der Begrenzung der Teilnehmerzahl pro Osterstand auf 200. Dahinter steckt offenbar die Befürchtung, dass Menschenansammlungen im Freien – egal ob maskiert und mit Mindestabstand zueinander oder nicht – unausweichlich zu mehr Covid-19-Fällen führen.

In meinem Beitrag Entschuldigung: Die Maskenpflicht im Freien war sinnlos verwies ich auf den Aerosol-Experten Gerhard Scheuch, demzufolge Covid-19-Ansteckungen im Freien (im Freien!) so gut wie ausgeschlossen sind. Dem steht eine im Februar 2021 publizierte Forschungsarbeit namens Spreading the Disease: Protest in Times of Pandemics entgegen. Viele Zeitungen oder Nachrichtenkanäle sahen in diesem Artikel die Aussage belegt, dass unmaskiertes Demonstrieren im Freien zu Abertausenden zusätzlichen Covid-19-Ansteckungen führte. Bei der Lektüre des Artikels fand ich keinen Beleg für diese Aussage. Meine These wäre gewesen, dass die Demonstranten sich in den Zubringerbussen infizierten, wenn sie dort keine Masken trugen. Um sicher zu gehen, nichts falsch aufgefasst zu haben, kontaktierte ich die Autoren der Abhandlung und erhielt eine freundliche Antwort des Inhalts: Zu den Ansteckungswegen sagen die erhobenen Daten nichts aus.

Warum also sind sich diverse Zeitschriften und Zeitungen nur so sicher, dass es im Freien, auf Kundgebungen, zu den Ansteckungen gekommen sein musste und dass Demonstrationen somit gefährlich sind? Soweit zur Beleuchtung der Apokalypse-Blindheit.

Nachtrag:

Am Tag nach Einreichung dieses Textes liest man auf tagesschau.de :

„Aerosolforscher haben die beständigen Debatten über Treffen in Biergärten oder Joggen im Freien kritisiert. Damit setzten die Corona-Maßnahmen an der falschen Stelle an. Stattdessen müsse der Schutz in Innenräumen verstärkt werden.“ [Stand: 12.04.2021 07:32 Uhr]

Damit ist der Inhalt des Eingangszitats zu diesem Beitrag relativiert: Demonstrations- und sonstige Aufenthaltsbeschränkungen im Freien sind, aus wissenschaftlicher Perspektive, Makulatur. Sie sind nur dann nicht Makulatur, wenn es der Exekutive um fortgesetzte Machtdemonstration gehen sollte.

Wir stehen am Anfang eines unfasslichen Skandals: Wider besseres Wissen mindestens seit Ende 2020 bestärkt die Bundesregierung und Landesregierungen weite Bevölkerungskreise in der Annahme, dass es gefährlich ist, sich im Freien aufzuhalten. Statt die Menschen aufzuklären, dass es relativ sinnlos ist, im Freien maskiert herumzulaufen, schüren sie wissenschaftlich längst nicht mehr haltbare Ängste: Kinder drücken sich ängstlich ins Gebüsch, Erwachsene springen panisch zur Seite, ältere Bürger rufen „Abstand!“ und Radfahrer fahren wegen ihrer Masken mit beeinträchtigter Sicht.

Nachstehend Zitate aus dem offenen Brief („Ansteckungsgefahren aus aerosolwissenschaftlicher Perspektive“) deutscher Aerosolforscher vom 11. April 2021 u.a. an die Kanzlerin und den Gesundheitsminister:

„Aus der Aerosolforschung sind vielfältige Erkenntnisse zur Übertragung der SARS-CoV-2 Viren über den Luftweg publiziert worden, zusammengefasst und aufbereitet in einem im Winter 2020 erschienenen Positionspapier der Gesellschaft für Aerosolforschung. (…) Leider werden bis heute wesentliche Erkenntnisse unserer Forschungsarbeit nicht in praktisches Handeln übersetzt. (…) Übertragungen im Freien sind äußerst selten und führen nie zu ‚Clusterinfektionen‘, wie das in Innenräumen zu beobachten ist. (…) Auch die aktuell  diskutierten Ausgangssperren  müssen in  diese  Aufzählung  irreführender Kommunikation aufgenommen  werden. (…) Wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen wollen, müssen wir die Menschen sensibilisieren, dass DRINNEN die Gefahr lauert. (…) Wir müssen uns deshalb um die Orte kümmern, wo die mit Abstand allermeisten Infektionen passieren – und nicht unsere begrenzten Ressourcen auf die wenigen Promille der Ansteckungen im  Freien verschwenden.“

Bei alledem beweisen die Autoren, was – mit Abstand! – das Wichtigste ist: Humor, wenn sie formulieren:

„Das Tragen von effektiven Masken ist in Innenräumen nötig. In der Fußgängerzone eine Maske zu tragen, um anschließend im eigenen Wohnzimmer eine Kaffeetafel ohne Maske zu veranstalten, ist nicht das, was wir als Experten unter Infektionsvermeidung verstehen.“

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Über Karim Akerma 76 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).