Seinen Ruhm, so gibt das 25 Jahre alte Herder`sche Handbuch des Musiktheaters an, verdanke der jüdische Komponist Fromental Halévy (1799 – 1862) der Oper „La Juive“ („Die Jüdin“, 1835). Keinem anderen seiner immerhin 36 Bühnenwerke schlug die Gunst von Musikern (von Richard Wagner über Gustav Mahler bis zu Karl Böhm) und Publikum so uneingeschränkt entgegen. In der Bayerischen Staatsoper machte sich Halévys Landsmann Bertrand de Billy am Pult des Bayerischen Staatsorchesters um die am Haus mehr als 170 Mal, jedoch nun schon seit Jahrzehnten nicht mehr, gespielte „Grand Opéra“ verdient. Er präsentierte sie in der unerwartet „braven“, allerdings sehr finsteren und statischenInszenierung des (wie de Billy jesuitisch sozialisierten) Wüterichs Calixto Bieito und dessen bevorzugter Bühnenbildnerin Rebecca Ringst als erste Premiere der eben begonnenen Opernfestspiele.
Man kriegt bei Bieito nicht mit, dass das Stück zur Zeit der Hussitenkriege und des Konstanzer Konzils 1414 spielt. Weder die spartanischen Kostüme der Protagonisten und des Chors – sie kommen in Alltagsklamotten daher – noch die in wuchtige bewegliche Blöcke geteilte schwarze, hohe, symbolträchtig wirkende Mauer verweisen auf den historischen Hintergrund. Dass der orthodoxe Jude Éléazar Goldschmied ist und der Geliebte seiner von ihm aufgezogenen und somit jüdisch geprägten Rachel der Landesfürst Léopold, bleibt nur dem nicht verborgen, der des Librettos (Eugène Scribe) kundig ist. Christ liebt Jüdin – schon allein darin liegt der Konflikt, der die abgehandelte Problematik auslöst, zuspitzt und bis zum tödlichen Ende führt. Rachel, die als einzige Person in grünem Kleid der (vergeblichen) Hoffnung agiert, wird bei Scribe/Halévy am Ende in einen Kessel kochenden Wassers gestoßen, bei Bieito auf offener Bühne im angedeuteten Kerker lebendig verbrannt.
Regisseur Calixto Bieito, der es, so wird kolportiert, den darstellenden Mitwirkenden an dieser Neuproduktion nicht leicht machte, ging radikal vor, auch wenn er diesmal harte Schnitte, Blut und Gewalttaten mied. Er führt uns „La Juive“ als sich ins politische Gewissen eingrabende hochdramatische Auseinandersetzung mit dem seit dem Mittelalter (und gerade im Nazi-Deutschland, das die Oper verboten hatte) herrschenden Antisemitismus und seinen Stigmatisierungen vor. Damit enttäuschte er alle, die sich der Kulinarik der passioniert- schwelgerischen, zwischen Belcanto und Verismo liegenden Partitur hätten hingeben wollen – Erklärung für die unüberhörbaren Premieren-Buhs, die sich in die durch viel Applaus bekundete generelle Zustimmung sogar der oberen Ränge und Galerie mischten.
Die Interpreten der Haupt- und Nebenpartien kamen den Rezipienten dieser Festspiel-Aufführung, auch denen am BR-Klassik-Radio, die Ende Oktober ins Staatsopernrepertoire einfließt, durch hohes stimmliches und darstellerisches Niveau entgegen: allen voran Aleksandra Kurzak als sich bewundernswert verausgabende Titelheldin, deren Rivalin Vera-Lotte Böker (Prinzessin Eudoxie), die mit glasklaren Koloraturen aufwartete und Ain Anger als abgründig orgelndem Kardinal, der hier dem Ziehvater und Retter seiner leiblichen Tochter Rachel unverständlicherweise – als Sühneakt? – die Füße wäscht. Nimmt man Angers kernigen Balten-Bass als gesangliche Top-Leistung wahr, besticht der Léopold des kultiviert singenden, wenn auch als Figur blassen John Osborn (Live-Stream-Foto, 1. Akt).
An Zeiten des stark in Erinnerung an Aufführungsserien der Wiener Staatsoper gebliebenen Neil Shicoff kann Roberto Alagna in der gerade im 4. Akt belcantistisch geforderten Rolle des rachsüchtigen Éléazar nicht ganz anknüpfen. Der Startenor, Gatte der Kurzak, wirkte in allem zu rau, protzte mit Überpräsenz und sparte mit geschmeidigem Ausdruck zarter Gefühlsregungen. Auch der in die Produktion vermutlich sportiv eingestiegene Bertrand de Billy überzeugte nicht wirklich durch satte, packende Passagen Halévy`scher Raffinesse. Ein genussreiches Auskosten orchestralen und sängerischen Aplombs versagte er dem Hörer. Stattdessen belehrte er den Leser im langen Interview im Spezial-Festspiel-„Max Joseph“. Er begründet wort- und kenntnisreich seine Entscheidung, die Oper überhaupt in München „gemacht“, ihre Ouvertüre weggelassen und auf Chor-Wiederholungen verzichtet zu haben.
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