Antike Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit im Denken Benedikts XVI.

In seiner Antrittsvorlesung „Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen, Ein Beitrag zum Problem der theologia naturalis“ von 1959 in Bonn steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen Glauben und Wissen im Fokus von Joseph Ratzinger. Wie verhalten sich Glaube und Vernunft zueinander? Diese Frage ist auch vor dem Hintergrund des Verhältnisses zwischen Natur- und positivem Recht zentral. In der Bonner Rede wird ausgehend von Pascals esprit de finesse Descartes’ esprit de géometrie als eine abstrakte Spekulation über Gott kritisiert, durch die es unmöglich sei, ein konkretes Gottesverhältnis zu stiften, denn per Mathesis universalis kommt das Individuum nicht zum Glauben, allein der esprit de finesse kann die Relation herstellen.

Der Gott der Philosophen und der Gott des Glaubens

Während der Gott der Philosophen, die theologia naturalis, sich auf die Ratio verkürzt und damit letztendlich ein Wissen ohne Offenbarung ist, setzt die personal-relationale Identität des Glaubens die Offenbarung voraus. Damit hängt die Differenz zwischen dem Gott des Glaubens und dem Gott der Philosophen mit der unterschiedlichen Bestimmung der jeweiligen Inhalte zusammen: philosophisch ist der Begriff das Telos und die Reflexion endet im Begriff des Absoluten als des unpersönlichen Gottes, in einem allgemeinen Abstraktum. Das philosophisch Absolute bleibt das begriffsmäßig Bestimmbare, das sich nur der Vernunft zu erkennen gibt, das aber Gott an sich verfehlt. Zum Absoluten, oder dem christlichen Gott, um den es Ratzinger geht, kann man sich nur durch den Namen Gottes nähern. Der Name Gottes bleibt dabei aber ein „Skandal“, da Gott mehr ist, als der, als den wir ihn bestimmen. Genauer gesagt. Der Name ist nicht ein Akt der Benennung seitens der Vernunft, sondern ein Akt Gottes selber, der damit auch die religio oder theologia naturalis überschreitet. Die Namensnennung fällt dabei in seine Offenbarung, oder anders: Gott offenbart sich mit seinem Namen. Damit ist der Unterschied zwischen vernünftiger Namensgebung als theologia naturalis und christlichem Gottesglaube benannt, denn via causalitatis kommt das reflektierende Ich nicht zu Gott, es setzt diesen vielmehr in ein subjektives Bestimmungsverhältnis und macht diesen zum Objekt seiner Setzung. Erst durch den geoffenbarten Namen ist umkehrt eine Anrufbarkeit möglich, vollzieht sich die Einheit von Gott und Mensch, geschieht die „Relation der Mitexistenz mit ihm“[1] Während die Hybris der Philosophie sich in der Selbstermächtigung der Vernunft zeigt, erweitert der christliche Glaube die theologia naturalis und hat ihr gegenüber ein Prä. Die theologia naturalis bleibt zwar die Voraussetzung der religio vera, ist aber nicht ihr endgültiges Ziel. Anders gesagt: erst der christliche Glaube nimmt die philosophische Gotteslehre in sich auf und vollendet sie“.[2]

Das Neuartige des christlichen Monotheismus liegt, so Ratzinger, in der Ansprechbarkeit Gottes, daß man zu ihm beten kann und darin, daß Gott „als Gott zugleich das Absolute an sich und des Menschen Gott ist. […] Das kühne Wagnis dieses Monotheismus bleibt es, daß er das Absolute – den ‚Gott der Philosophen’ anspricht, es für den Gott der Menschen – ‚Abrahams, Isaaks und Jakobs’ hält.“[3] Der Gott des Aristoteles, der unbewegte Beweger und der Gott der Christen sind Einer, dennoch wird die Vernunft ohne den Glauben nicht heil, und der Glaube seinerseits ohne die Vernunft nicht menschlich. Vernunft und Glauben sind verschieden, stehen aber in Korrelation. Damit ergibt sich mit Blick auf den Aufklärungscharakter des Christentums, das sich mit seinem Bekenntnis zur Vernunft eindeutig auf die Seite der theologia naturalis, also an die Seite des Gott der Philosophen stellt, daß auch diese sich reinigen, sich vom antiken Götterverständnisund -himmel distanzieren muß. Die purgatio ist somit eine wesentliche Selbstaufgabe der Vernunft, auch der politisch instrumentellen Vernunft, und sichert dieser damit zugleich ihre Unvertretbarkeit im Blick auf den Glauben. Die Selbstreinigung der Vernunft und ihr spekulativer Unbedingtheitsanspruch, der im Begriff des Absoluten kulminiert, geschieht daher vor dem Hintergrund des Glaubens, soll Gott nicht zu einem bloßen Regulativ bestimmt werden, dem in der endlichen Wirklichkeit keine Wirkmächtigkeit zugesprochen wird.[4] Umgekehrt muß der Glauben transparent für die Vernunft sein, sich ihr gegenüber öffnen, beziehungsweise müssen seine Inhalte vernunftgemäß sein, damit diese von der Ratio anerkannt werden können.

Der Bindestrich zwischen religio naturalis uns wahrer Religion

Daß es einen Bindestrich zwischen religio naturalis und religio vera, zwischen philosophischer Erkenntnis und wahrer Religion qua Offenbarung gibt, findet seine Bestimmung, so Ratzinger, in der „Septuaginta“, denn durch die Selbstaussage Gottes des „Ich bin der Ich-bin“, wodurch aus dem Ich-bin letztendlich der Seiende wird, kommt es zur Synthese zwischen griechischen und biblischen Gottesbegriff, da dieser sich als Seiender offenbart, als einer, in dem Wesen und Dasein zusammenfallen. „Das heißt: Was der oberste Begriff der Ontologie und der Schlußbegriff der philosophischen Gotteslehre ist, erscheint hier als eine zentrale Selbstaussage des biblischen Gottes. […].“[5] Genau in der Identifizierung zwischen Jahwe-Namen und ontologischer Definition sieht Ratzinger den Schlüssel zu einer „Legitimität der Koexistenz von Philosophie und Glaube“ ebenso wie die „Legitimität der analogia entis als der positiven Inbeziehungsetzung von Vernunfterkenntnis und Glaubenserkenntnis, von Natursein und Gnadenwirklichkeit […].“[6]

Dem Thema der religio oder theologia naturalis nähert sich Ratzinger bei seiner Auseinandersetzung mit der römisch-stoischen Philosophie erneut. Dabei im Blick die Dreiteilung der Theologie des Marcus Terentius Varro. In Varros nicht direkt überlieferter Schrift „Altertümer menschlicher und göttlicher Einrichtungen“ („Antiquitates rerum humanarum et divinarum“, [7] einer Caesar gewidmeten römischen Kulturgeschichte in einundvierzig Büchern, [8] auf die auch Augustinus in „De civitate dei“ oft zurückgriff, findet sich der älteste überlieferte Beleg für den Terminus „Natürliche Theologie“. Bezugnehmend auf Varro, der sich auf stoische Quellen stützt,[9] unterscheidet Ratzinger zwischen der mythischen Theologie (theologia mythica), der Theologie der Philosophen (theologia naturalis) und der Staatsreligion samt ihrem Götterglauben (theologia civilis). Die mystische Theologie ordnet Ratzinger wie Varro dem Theater, die politische der Polis und die „natürliche“ dem Kosmos zu. Theologia mythica und civilis konzentrieren sich im Unterschied zur theologia naturalis auf einen zivilreligiösen Aspekt, auf die Ausübung des Kultes und damit nicht auf das Göttliche. So wird die Religion als theologia civilis von der theologia naturalis entkoppelt und die römische pietas bleibt anthropozentrisch, denn die „Norm der Religion ist nicht Gott, sondern die civitas.“[10] „Die theologia naturalis hat es mit der natura deorum zu tun, die beiden andern theologiae aber mit den divina instituta hominem. Damit ist aber letztlich der ganze Unterschied reduziert auf den von theologischer Metaphysik einerseits und von Kultreligion andererseits. Die civilische Theologie hat letztlich keinen Gott, sondern nur ‚Religion’, die ‚natürliche Theologie’ hat keine Religion, sondern nur eine Gottheit.“[11]

Dagegen haben sich die christlichen Theologen gegen das vom Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt, Vernunft und Natur in ihrem Zueinander als die für alle gültige Rechtsquelle anerkannt.“[12] Das Christentum, sofern es sich also gegen die römische Zivilreligion und für den Gott der Philosophen entscheidet, Ratzinger versteht dies als eigentliche Aufklärung, ist atheistisch, wenn darunter „nicht eine Überzeugung, sondern ein kultisches Verhalten“ verstanden wird, das sich nicht „auf den Glauben an Gott, sondern auf das ‚religiöse’ Tun im menschlichen Raum“ bezieht.[13] In der antiken civitas wird Gott konstruiert, zum Faktum des Gesetztseins, denn zuerst existiert die civitas, die sich dann ihre Religion gibt. Im Gegensatz dazu steht die civitas dei Augustinus’. „Nicht weil sie bestand, erhob sie ihren Gründer Christus zum Gott, sondern weil Christus Gott ist, entstand sie. Nicht weil sie Christus liebte, glaubte sie schließlich seine Gottheit, sondern weil sie durch den Glauben auf dem Fundament seiner Gottheit ruht, liebt sie ihn. Hier ist also zuerst Gott da und dann erst die Gemeinschaft der Menschen, die in ihm ihre Einheit haben. Nur dadurch, daß es ihn gibt, und zwar als einen dem Menschen zugewandten, als ein summum bonum für ihn, kann die Liebe zu ihm einende Kraft der Menschen werden. Gott geht der civitas voran – das bedeutet auf Seiten der Menschen: Der Glaube geht der Liebe voran, die Erfahrung des Gegenstandes […] löst den Zustand aus, der jetzt nicht mehr schöpferisches Selbsttun, sondern antwortendes Mittun ist. Nicht die mütterliche civitas steht hier in der Mitte, sondern der Vater-Gott, von dem allein aus sich auch eine Mutterschaft der civitas bestimmen läßt.“

Die Einheit der Nationen – Die Vision der Väter

In seinem Buch „Die Einheit der Nationen, Eine Vision der Kirchenväter“[14] von 1962 thematisiert Ratzinger den Gedanken der civitas erneut und stellt ihr die stoische Kosmologie als „philosophische Opposition“ gegenüber. Während in der römischen civitas das Recht gilt, also positives Recht, handelt es sich bei der Stoa um ein individuelles, apolitisches, auf innere Vernunftfreiheit abgestimmtes Weltbild. Die Stoa, so Ratzinger, hatte die Einheit des Menschen entdeckt, daß es Eine Menschlichkeit gibt, „daß die ganze Menschheit ein einziger Körper war“, der „quer über alle Zeiten und Räume besteht“.[15] Die stoische Philosophie erweist sich damit als Ursprung eines übernatürlichen Rechts, eines überpositiven Rechtes, als Naturrecht, das sich aus der Natur des Menschen ableitet, das das „ganze All in des Zeus großem Leibe“[16] abbildet. Damit stehen sich zwei Bestimmungen des Rechts gegenüber, das Naturrecht des geist-stofflichen Pneuma, das aber pantheistisch begründet wird und die politische Religion oder Theologie Roms, wie sie sich der pax humana als Instrument des Staates zeigt. Sowohl die Stoa als auch die römisch-politische Theologie leiten ihren Geltungsanspruch damit entweder rein metaphysisch oder als irdisch bestimmte Geltungsmacht ab.Beide bleiben einseitig. Denn die Stoa reduziert sich auf den Egoismus von Einzelinteressen, auf die private Glückseligkeit und vernachlässigt den universalen Anspruch der Moral. Die Theologie Roms hingegen verschafft zwar der praktischen Philosophie Geltung, jedoch um den Preis, daß sie diese nur aus dem Recht begründet. Letztendlich wird damit die praktische Philosophie zur Magd der Politik, was schon zu Zeiten Roms, aber mehr, so Ratzinger, im 20. Jahrhundert, zu einer Unterordnung des Rechts unter die Macht geführt hat, die in der Hölle von Auschwitz sich als Macht der Ungerechtigkeit die zweifelhafteste Geltung verschafft hat.

Beiden gegenüber, Pantheismus und römischer Staatsreligion, tritt als dritte prägende Kraft der Antike und ihrer widerstreitenden Rechtsauffassungen die Idee der Einheit von Gott und Mensch gegenüber, wie sie sich im biblischen Glauben, im Bekenntnis zum einzig-wahren Gott und der Verwurzelung aller Geschichte in Adam zeigte. Im Christentum als aufgeklärter Religion, die sich sowohl vom Götterglauben der Vorsokratiker distanziert und den Polytheismus wie Sokrates kritisiert, wird nicht nur zwischen dem „Gegenüberstehen“ von Gott und Welt unterschieden, sondern hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, daß sich kein weltlicher princeps zum Vollstrecker der göttlichen Weltmacht erheben darf. Um dies zu erklären, greift Ratzinger auf die Zwei-Adam-Lehre zurück.

Die strikte Trennung – wie sie in der alten Zwei-Polis-Lehre und in der Zwei-Adam-Lehre zum Ausdruck kommt –, läßt zwar die Einheit der römischen Polis bestehen, nur überbietet sie deren radikalen Anspruch, ihre normativen Gesetzlichkeiten, die einzige Kosmologie zu sein. Gerade im Christentum, das die römische Welt und Gesetzgebung anerkennt, zeigt sich der revolutionäre Geist eben nicht in der politischen Aneignung, in der Macht der Waffen, sondern im Sinne einer eschatologischen Hoffnung, die letztendlich bei Gott liegt und eine universale Gerechtigkeit zwischen den Menschen stiftet. Das Reich Gottes, die christliche Einheitsidee, beschränkt sich damit nicht auf eine weltliche Theokratie, sondern bekräftigt sich in der Anerkennung von Tod und Auferstehung Christi; ihre eigentliche Hoffnung ist die Überwindung des alten Adam in Christi. Jedwede irdische Theokratie bleibt vorläufig. Zu ihrer Dialektik gehört, religiös gesprochen, die Selbstüberwindung, die dann im neuen Adam zu einer „zweiten Humanität“ wird, die nicht nur dem sich selbstverherrlichenden Menschen eine Absage erteilt, sondern für sich in Anspruch nimmt, die einzige und endgültige Menschheit zu sein. Diese christliche Hoffnung, oder um mit Karl Rahner zu sprechen, die „Vision der Väter“ ist eben dahingehend revolutionär, weil sie die griechisch-römischen Kosmopolis zugunsten der Idee der einen Menschheit austauscht, für die letztendlich die Idee von der christlichen Kirche steht. Anders gesagt: An die Stelle von der Idee der einen Menschlichkeit der Stoa und dem einheitlichen römischen Staatsglauben – samt seinem universalem Geltungsanspruch und der Gesamtheit der positivierten Rechte –tritt die Idee der Kirche, verkörpert durch das Christusmysterium. „Das Christusmysterium ist für die Väter als solches und ganzes ein Mysterium der Einheit. […] Die Einheit ist darin nicht irgendein Thema, sondern das Leitmotiv des Ganzen.“[17] Anders gesagt: In der Menschwerdung Jesu Christi inkarniert sich Gott in jeden Menschen. Der „Leib Christi“ wird zum Stellvertreter der gesamten Menschheit, die Kirche dabei zum Träger, in der sich diese Einheit darstellt, zum Volk Gottes, wie Ratzinger in seiner Promotion schreibt. Gegenüber der griechischen Polis sind die Kirche der Väter und die durch sie verkörperte eschatologische Hoffnung auf den neuen Adam tatsächlich übernational, hier wird das partikular-politische Sonderinteresse zugunsten des einen Glaubens aufgehoben und relativiert.

Kelsos contra Origenes

Ratzinger weißt in diesem Zusammenhang auf Kelsos Lehre von den Völkerengeln hin, auf die Lehre, das jedem einzelnen Volk ein derartiger Engel korrespondiert, der die Einzelinteressen der Völker vertritt und die Religion damit zugleich auf den nationalen Fokus reduziert. Kelsos begreift das Nationale nicht nur als den Ort der jeweiligen Religion und des Rechts, sondern als Verordnung der göttlichen Weltregierung und damit letztendlich als religiöses Gebot, was sich in der griechischen Fassung von „Deuteronomium 32, 8 deutlich zeigt, wenn dort steht: „Als der Höchste die Völker teilte, als er die Söhne Adams zerstreute, setzte er den Nationen Grenzen, entsprechend der Zahl der Engel Gottes.“

Während Kelsos also den religiös-nationalen Charakter hervorhebt, vertritt Origenes die Einheit der Idee der Menschheit, die sich im Mysterium von Jesu Christi zeigt. Denn: „Das Sein Jesu Christi und die Botschaft Jesu Christi haben eine neue Dynamik in die Menschheit getragen, die Dynamik des Übergangs aus dem zerrissenen Sein der vielen einzelnen in die Einheit Jesu Christi, in die Einheit Gottes hinein. Und die Kirche ist gleichsam nichts anderes als diese Dynamik, dieses In-Bewegung-Kommen der Menschheit auf die Einheit Gottes hin. Sie ist ihrem Wesen nach Übergang. Vom zerrissenen, gegen den andern gewandeten Menschsein zum neuen Menschsein, zur Vereinigung des Zerscherbten hin. Genau das wollen die Väter ausdrücken, wenn sie die Kirche ‚Leib Christi’ nennen.“[18]

Dieser „Leib Christi“ als transnationale Bestimmung der Kirche – auch im Stadium ihrer Vorläufigkeit – steht nicht nur in Opposition gegen die verschiedenen Regenten (oder himmlische Herrscher), sondern wird von Origenes negativ als Abfall von Gott, als eine Strafe der Völker, die ihre geistige Einheit verraten haben, interpretiert. Die entzweite Menschheit hat sich in die Hände ungnädiger Engel begeben, die den einzelnen Völkern ihre Sprache und Religion verliehen haben. Diese Regentschaft der sogenannten Archonten, wie Origenes die Völkerengel nennt, sind Usurpatoren, die analog zur Gottlosigkeit der Menschen sich ihre Herrschaftsgebiete gesucht haben. Die Archonten erzeugen Unordnung, Chaos und Ungesetzlichkeit. Diese Herrschaft des Chaos, die sie aufrichten, wird letztendlich mit dem Heilswerk Jesu aufgebrochen, denn er besiegt die dunklen Mächte der Finsternis und damit das Prinzip des Bösen und errichtet demgegenüber die neue Friedensordnung als Synthese zwischen „Altem“ und „Neuen Bund“, zwischen Dekalog und Bergpredigt. Er führt die Menschen aus dem Gefängnis des Nationalen in die Einheit Gottes und damit schließlich zur Idee der einen Menschheit, die sich dem Prinzip der nationalen Vielheit widersetzt. Damit wird, so Ratzinger deutlich, daß nur die Kirche für die übernationale Einheit stehen und nur ein Gott regieren kann, der sich in Jesu Christi opfert. Aber auch im Hinblick auf die politische Theologie agieren die Nationen, samt ihren Völkerengeln und ihren Rechtsansprüchen, nur im Range bloßer Vorläufigkeiten, deren eigentliches Ziel das himmlische Jerusalem bleibt, was sich in der theologischen Metaphysik der Nationen bei Origenes zeigt. Letztendlich, so Ratzinger, siegt Origenes gegenüber Kelsos, der beim Christentum ein überregionales Sonderinteresse kritisiert hatte – samt dem Vorwurf, daß sie es seien, die das völkische Gesetz verraten und sich so außerhalb der Gesetzlichkeit des Nationalen und der jeweiligen regionalen göttlichen Ordnung gestellt haben.

Das Übernationale als Korrektiv

Sowohl im Blick auf die Religion als auch auf verschiedenen politisch-religiösen Ordnungen und Bindungen[19] erweist sich das Übernationale als eigentliches Korrektiv, auch – und damit kommt die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Glauben wieder ins Spiel – im Blick auf Origenes Lehre von der dreifachen Weisheit; der Weisheit Gottes, der Welt und der „Fürsten“ dieser Welt. Während die Weisheit Gottes, die sich in Jesus offenbart, für die übernationale Weisheit steht, ist von ihr die Weisheit der Welt sowohl graduell als auch qualitativ verschieden. Diese Weisheit als Wissenschaft, „Weltwissenschaft“[20] hat ihren Ort in der Poesie, Grammatik, Rhetorik, Geometrie, Musik und Medizin. Von dieser wiederum ist die Weisheit der „Fürsten“ zu unterscheiden, wobei Origenes dazu die Geheimlehren der Ägypter, die Astrologie der Chaldäer, die indischen wie auch die griechischen Spekulationen zählt. Und Ratzinger betont, daß diese „volksgebundenen Philosophien“ von den Völkerengeln inspiriert sind und damit nichts weiter als nationale Weisheiten bleiben, wenngleich diese Lehren, und damit positiv, Weisheitslehren sind, in denen sich auch die Vernunft ausspricht, aber eben nicht die universale, gottgegebene Vernunft. Der Protest der „Fürsten“ der Welt gegenüber dem Christentum ist dann nichts anderes als eine Verschwörung gegen das sich im Christentum offenbarende Übernationale. Und mit dem Christentum, so Ratzinger im Anschluß an Origenes, wird auch die Vorläufigkeit des Nationalen deutlich, und nicht nur das: das Nationale kann „nur noch in der Form der wahrheitswidrigen Selbstbehauptung einer überholten Ordnung weiterexistieren“, es hat nach Christus keine Legitimität mehr.[21] Kurzum: Der christliche Glaube durchbricht das alte Ordnungsprinzip des national-religiösen, er setzt anstelle des Vaterlandes die weltumspannende Kirche, die mit ihrer Friedensbotschaft endgültig den Kampf der Kulturen beendet. An die Stelle der absoluten Herrschaft der nationalen Gesetze ist das göttliche Gesetz getreten, das durch die eine Kirche über alle Völker der Welt regiert. Diesen idealen, weltumspannenden Staat als Kirche begreift Ratzinger dann als konkrete Vollendung der platonischen Idee vom ideellen Staat, der die endliche Welt nicht aufhebt, wie der gnostische Dualismus Kelsos’, sondern diese zum Ort des geschichtlichen Heils werden läßt.

Das Christentum stellt durch seinen Begründungsanspruch den bestehenden politischen Kosmos in Frage, wenn es diesen seine eschatologische Sicht gegenüberstellt, die darin kulminiert, daß er zwar das vernünftige Naturgesetz und das positive Recht als die zwei möglichen gäbe, aber letztendlich das göttliche Naturgesetz über das positive obsiegt, die Ethik über dem Recht steht. Weil das Vernünftige dem Christentum innewohnt, stellt es sich an die Seite der philosophischen Opposition und vermag aus der besseren Einsicht die vaterländischen Gesetze zugunsten des göttlichen Gesetzes relativieren. Was die Philosophie und das Christentum damit verbindet, ist, daß sie sich auch gegen die Weisungen der politischen Macht, die Gesetze, gegen das positive Recht entscheiden können. Die Christen haben darüber hinaus noch eine propädeutische Aufgabe, eine erzieherische Funktion: „Die christliche Revolution erscheint aber so erst recht nicht mehr als Angriff auf den Kosmos als solchen, sondern geschieht – wie die philosophische Opposition – letztendlich sogar zu dessen eigenem Nutzen.“[22] Die Christen sind, so Ratzinger mit Origenes, die wahren „Priester der Menschheit“, weil sie die „Frömmigkeit gegenüber dem Gott aller Staaten lehrten“.[23] Wie Origenes so hebt auch Ratzinger hervor, daß die Unterordnung des Heiligen unter das Politische und Nationale letztendlich die Freiheit des einzelnen Menschen aufhebt, weil sie nur seine endliche Freiheit im Fokus hat, aber nicht seine Freiheit als Bild Gottes, der auch den Kosmos samt seinen Regenten und irdischen Mächten geschaffen hat. Die Bejahung des geschaffenen Kosmos durch das Christentum weiß sich letztendlich in der Opposition zum platonischen und gnostischen Dualismus.

Augustinus’ civitas caelestis

Wenn Origenes in seiner Schrift „Contra Celsum“ den gnostischen Dualismus und die Trennung von Schöpfergott und Erlösergott kritisiert, entwickelt der Kirchenvater Augustinus in seinem Werk „De civitate dei“ seine Polemik gegen die römische Polis und politische Kosmologie, also gegen Recht- und Rechtsstaatlichkeit mit dem Anspruch auf Universalität. Sieht Origenes in den Völkerengeln jene Dämonen am Werk, die der christlichen Idee des Übernationalen sich entgegenstellen, so kritisiert Augustinus die Wahrheitslosigkeit der politischen Religion Roms, ja die Selbstermächtigung der Polis gegenüber Gott, ihre Vergöttlichung und den darin eingeschlossenen Werterelativismus, der letztendlich diese Werte absolut setzt. Die Religion wird dem Staat unterstellt, sie hat nur die Funktion eines Gebrauchwertes, der als Dienstleister innerhalb des Apparates zu funktionieren hat. Damit verkommt sie zugleich eben zu bloßer religiöser Gewohnheit und stellt sich letztendlich gegen die geoffenbarte Wahrheit. Mehr noch: In dieser ihrer Reduktion auf den Staat folgt sie letztendlich den gottabgewandten Dämonen, liefert den Menschen diesen aus. Demgegenüber ist das Christentum dann eine Befreiung zur Wahrheit, eine „Befreiung von der Macht der Dämonen, die hinter der Gewohnheit stehen“.[24]
Mit seiner politischen Theologie stellt sich Augustinus somit nicht nur gegen den Platonismus, sondern auch gegen das stoische Weltbild. Während innerhalb der Stoa die Differenz zwischen Gott und Welt verschmilzt, weil im stoischen Monismus die Welt vergöttlicht wird, ist innerhalb des platonischen Dualismus keine Verbindung zwischen Gott und Welt her mehr möglich. Die radikale Transzendenz Gottes kann keine Verbindung zwischen sich und dem Menschen stiften. Diesem Grunddogma, daß es zwischen Gott und Mensch keine Berührung gibt, stellt Augustinus seine Theologie gegenüber, die die Erde als Werk Gottes begreift. Der transzendente Gott der platonischen Philosophie wird dann in der Grundtatsache aufgehoben, daß Gott Mensch geworden ist; der Schöpfer der Welt bleibt dieser zugewendet, zeigt ihr sein Antlitz und ist als Schöpfergott zugleich in der Geschichte präsent, wobei das irdische Reich Abglanz des ewigen ist. Für Augustinus werden die irdischen Theokratien zweitrangig; über ihnen allen gemeinsam steht der Gottesstaat als Vaterland aller Menschen. Dennoch sind sie als irdische Reiche notwendige Ordnungen und damit Rechtens, und als Bürger dieser Staaten muß sich auch der Christ ihnen fügen, allein er muß ihr relatives Sein erkennen. „Die letzte Sorge gehört allein der ewigen Heimat aller Menschen, der civitas caelestis.“[25] Und darin kommen, so Ratzinger, Origenes und Augustinus überein, wenn sie mit dem Namen „civitas caelestis“ „nicht nur das kommende himmlische Jerusalem“ […], sondern auch schon das Gottesvolk auf der Wanderschaft durch die Wüste der Erdenzeit: die Kirche“ meinen.[26] Sie unterscheiden sich aber dann, so Ratzinger, wenn Origenes die christliche Revolution der Kirche durch eine eschatologische Radikalität überbieten will und damit die irdischen Reiche auf-gibt, während Augustinus mit seiner ekklesiastischen-sakramentalen Theologie, Rom nicht nur als sein Vaterland begreift, sondern sich auch mit der Unvollkommenheit irdischer Macht und Recht abgefunden hat. Dieser Ungerechtigkeit stellt er das Martyrium als Gegengröße dem Staat gegenüber. Augustinus’ Sieg liegt im „Nein-Sagen“ gegenüber den Mächten, die die Öffentlichkeit bestimmen. Die Kirche lebt in dieser Welt in der Form des Leidens. „Seine Lehre von den zwei Staaten zielt weder auf eine Verkirchlichung des Staates noch auf eine Verstaatlichung der Kirche ab, sondern darauf, inmitten der Ordnungen dieser Welt, die Weltordnungen bleiben müssen, die neue Kraft des Glaubens an die Einheit der Menschen im Leibe Christi gegenwärtig zu setzen […].“[27]

Erst durch Augustinus, wie Ratzinger betont, und damit kommen wir an den Anfang zurück, wird die theologia naturalis zur wahren Religion. „Der Bindestrich, den Augustinus ‚zwischen neuplatonischer Ontologie und biblischer Gotteserkenntnis’ gesetzt hat, ist also von der Sache des Monotheismus her legitim, er ist die konkrete Weise, wie sich für ihn der Bindestrich zwischen Gott der Philosophen und Gott es Glaubens, Gott der Menschen darstellen mußte. Ja, er hat mit der Feststellung, daß der stumme und unaussprechbare Gott der Philosophen in Jesus Christus zum redenden und hörenden Gott geworden ist, gerade erst den vollen inneren Anspruch des biblischen Glaubens vollstreckt.“[28]

Der Bogen in die Gegenwart – Der Papst vor dem Bundestag

Auch in seiner Enzyklika „Caritas in veritate“ hat Benedikt XVI. die Bedeutung eines universalen Sittengesetzes oder Naturrechtes hervorgehoben, wenn er schreibt: „In allen Kulturen gibt es besondere und vielfältige ethische Übereinstimmungen, die Ausdruck derselben menschlichen, vom Schöpfer gewollten Natur sind und die von der ethischen Weisheit der Menschheit Naturrecht genannt wird. Ein solches universales Sittengesetz ist die feste Grundlage eines jeden kulturellen, religiösen und politischen Dialogs und erlaubt dem vielfältigen Pluralismus der verschiedenen Kulturen, sich nicht von der gemeinsamen Suche nach dem Wahren und Guten und nach Gott zu lösen. Die Zustimmung zu diesem in die Herzen eingeschriebenen Gesetz ist daher die Voraussetzung für jede konstruktive soziale Zusammenarbeit.“[29] Anders gesagt: Das Gesetz, daß dem positiven Recht, die Korrelation im interkulturellen Diskurs stiftet, diese ermöglicht, ist das Naturgesetz, als das dem Menschen eingeschriebene universale Menschenrecht, die ihre Legalität und Legitimität durch die Vernunft und als analogia entis erfährt. Das Naturrecht – entweder aus der Quelle der reinen Vernunft oder als lex aeternatis – widerstreiten sich auch im 21. Jahrhundert nicht, so Ratzinger, sofern ihre Geltungsbereiche jeweils unterschiedlich begründet werden. Entweder in den positiven Gesetzen der jeweiligen Staaten oder in einer dieser Gesetzmäßigkeit vorangegangenen absoluten Idee der universalen Gerechtigkeit oder des göttlichen Rechts. Ratzinger bleibt damit auf Schiene zu Origenes und Augustinus und verschiebt in Analogie zu den beiden Kirchenvätern die Idee der „Einheit der Nationen“ in die Post- oder Postpostmoderne. Die politischen Religionen haben ihren Ort in der Endlichkeit und Fragwürdigkeit endlicher Existenz und bedürfen, wie er im Diskurs mit Habermas hervorhebt, aber dann eine Korrektur, wenn sie widermenschlich, ungerecht, auf einem ungerechten Mehrheitswillen oder selbst gegen die Natur des Menschen als Schöpfungswesen agieren, beziehungsweise dem Humanum widersprechen, sich die Natur als Bild Gottes widerrechtlich aneignen, was sich explizit für Ratzinger in der modernen Biotechnologie und den Neurowissenschaften zeigt. Experimentelle Forschung wie das Klonen oder die Präimplantationsdiagnostik, so dann hart formuliert, gehört nicht unter das Kuratel der technisch-säkular entgrenzten Vernunft, sondern umgekehrt des Glaubens, der zum Korrektiv dieser Vernunft wird, die ins Maßlose greift, die Hybris und Selbstermächtigung ist. Es gilt, und da spricht der Theologe, dem das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft das tiefste Verhältnis ist, das zu denken ist, hier, wie er es in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag formuliert, auf ein hörendes Herz zu achten, auf das Gewissen „als die in der Sprache des Seins geöffnete Vernunft“, das in Distanz geht, wenn positives universales Recht transzendiert, wenn das Recht gegen die Natur des Menschen, gegen alle Menschen, streitet. Der Mensch hat, und darauf spricht der Papst im Bundestag an wenn er den Begriff der Ökologie verwendet, eine Natur, auf die er „achten muß und die er nicht beliebig manipulieren kann“. Als Einheit von Vernunft, Wille und Natur handelt er gerecht, wenn er auf die „Natur hört […] und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.“[30] Bezugnehmend auf denRechtspositivismus Kelsens betont Ratzinger die Abhängigkeit von Normen aus einer voluntativen Begründung heraus, da die Natur Normen nur enthält, „wenn ein Wille diese Normen in sie hineingelegt hat.“ Dies geht, und das begreift Ratzinger als Skandal des Christentums, nur durch einen Schöpfergott, „dessen Wille in die Natur miteingegangen ist.“ Und dann stellt sich auch im 21. Jahrhundert die Frage, ob die „objektive Vernunft, die sich in der Natur zeigt, nicht eine schöpferische Vernunft, einen Creator Spiritus“ voranstellt.[31]
Das Christum jüngster Geschichte hat im Unterschied zu anderen großen Religionen, dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben.“ Dagegen hat es auf die Natur und die Vernunft „als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt.“[32]
Auch im demokratischen Staat, wo das Recht die Grundlage gesellschaftlichen Miteinanders bildet, die Trennung zwischen Kirche und Staat (Neutralitätsthese) akzeptiert und als uneinholbar gesetzt ist, Naturrecht und positives Gesetz unhintergehbar sind, dürfen die vorpolitischen Grundlagen des Rechts nicht wahllos ausgeklammert werden – das Böckenförde-Argument, denn der freiheitliche Rechtsstaat verdankt sich einer Quelle, die er nicht selbst geschaffen hat. Und wenn die Würde des Menschen unantastbar ist, die Gesetzgebung aber dieser –selbst auf demokratischen Weg – zuwiderläuft und sich gegen die Natur des Menschen entscheidet, dann muß das Naturrecht in Form des universalen Menschenrechts diese korrigieren und eingreifen. Dies hatte schon Gustav Radbruch mit seiner Radbruchschen Formel vor Augen. Wenn ein Gesetz Unrecht ist, bedarf es einer Korrektur seitens des Naturrechts, selbst wenn das Recht auf legalem Weg in die Rechtsgültigkeit getreten ist. Das Recht auf Verweigerung hat der Papst in Berlin mit Rückgriff auf Origenes hervorgehoben, der den Widerstand der Christen gegen bestimmte geltende Rechtsordnungen so begründet hatte: „Wenn jemand sich bei den Skythen befände, die gottlose Gesetze haben, und gezwungen wäre, bei ihnen zu leben […], dann würde er wohl sehr vernünftig handeln, wenn er im Namen des Gesetzes der Wahrheit, das bei den Skythen ja Gesetzwidrigkeit ist, zusammen mit Gleichgesinnten auch entgegen der bei jenen bestehenden Ordnung Vereinigungen bilden würde […].“[33]

Die Gefahr, daß das Recht zugunsten der Macht der Religion gebrochen wird, sieht aber Ratzinger nicht so sehr mehr in den „Pathologien der Religion“, die durch die europäische Aufklärung vor zweihundert Jahren, mit Immanuel Kant, eine Katharsis erfahren haben, sondern in einer sich exklusiv gebenden positivistischen Vernunft, „die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann.“ Sie gleicht, fast monadisch, „den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, daß wir in dieser selbstgemachten Welt im stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten.“[34] Damit votiert Ratzinger gegen eine Vernunft, die sich ihres Ursprunges entfremdet hat und qua Vernunft letztendlich dem demokratischen Rechtsstaat ihre Maximen, Regulative und Imperative auferlegt und zeigt ihre Grenzen auf. Mit einer rein utilitaristischen Vernunft, die sich dem technischen Positivismus ausliefert, kann sich Ratzinger nicht abfinden, zumal, so seine Meinung, sich diese in einer Gesellschaft ohne Gott eben in den Aporien des rein Faktischen, des Machbaren, verfängt. Benedikt XVI. plädiert daher eher für ein postmodernes als für ein „vormodernes“ Verhältnis von Vernunft und Glaube, von Glaube und Politik. Dies betont er in seiner Sozialenzyklika „Caritas in veritate“. Auch dort findet sich der Hinweis auf den unverzichtbaren vorpolitischen Beitrag des Christentums in einer Zeit, wo die Herausforderung der Globalisierung und die Krise der Freiheit der freiheitlich-säkularen Grundordnung die Vernunft permanent herausfordern, wo ein nutzenkalkulierendes, vom Egoismus getriebenes Menschenbild regiert. In einem säkularisierten Staat eignet dem Christentum dann aber doch ein zivilisatorischerAspekt, der sich keineswegs, wie Jürgen Habermas aber meint, auf ein Christentum als Zivilreligion reduzieren läßt, sondern aus der kulturellen Vielfalt der Kulturen und der Gläubigen resultiert – dies auch vor dem Hintergrund eines Europa, das seine christlichen Wurzeln zunehmend verleugnet und sich dagegen für die reine aufgeklärte Vernunft, für eine politische Weltformel aus reiner Vernunft entschieden hat. Es gibt diese Weltformel aber nicht, was es dagegen gibt, ist ein Hinhören und eine Aufmerksamkeit auf die verschiedenen, von Glaubensüberzeugungen geprägten Traditionen, wobei der Glaube eben nicht auf die Vernunft allein reduziert werden darf.

Um dem zerstörerischen und den Frieden gefährdenden Potential einer rein technischen Vernunft, die sich jenseits der kulturellen Tradition und religiöser Werte positioniert, zu entgegnen, stellt Ratzinger dem methodologische Kriterium der politischen Vernunft der Moderne, Hugo Grotius’ „etsi Deus non daretur“, einer Verfassung der politischen Ordnung durch ein „als ob es Gott nicht gäbe,“[35] sein „veluti si Deus daretur“ entgegen, das darin kulminiert, daß der Mensch seine Würde wieder entdeckt, die aber in einer transzendenten Dimension seines eigenen Menschseins liegt. Diese kann dann zum „methodologischen“ und nicht „religiösen“ Kriterium der säkularen politischen Ordnung im 21. Jahrhundert werden. Nur so gelingt es, die Unverfügbarkeit des Menschen gegen die politisch-technologische Vernunft zu verteidigen. In seinem Postulat, „das Axiom der Aufklärer um(zu)kehren,“ [36] das „als ob es Gott gäbe“, in dem Ratzinger das moderne Verständnis der verkürzten Würde sieht, geht es ihm darum, den Allzuständigkeitsanspruch einer technischen Vernunft für alle politischen Belange zu unterbrechen. Unterbrechung, darauf hatte Johann Baptist Metz hingewiesen, ist der Inbegriff von Religion im politischen Diskurs. [37] Die Aufgabe der Religion besteht damit einerseits darin zu verhindern, daß die Vernunft „perfektistisch“ der Utopie von Sozialismus, Kommunismus verfällt, wie andererseits in ihrem Anspruch, alle sozialethischen Probleme mit Hilfe einer rein durchtechnisierten Organisation zu lösen.[38] Damit erinnert Ratzinger an die fundamentale Bedeutung der menschlichen Würde, wie sie „sich aus dem politisch nicht verhandelbaren, sondern stets vorauszusetzenden Transzendenzbezug der menschlichen Person ergibt.“ [39]

Europas Kultur, so der Papst, ist das Resultat der„Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom“ – „der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms.“ Diese dreifache Begegnung bildet die Identität Europas ab und sie hat „im Bewußtsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns […] aufgegeben ist.“ [40]


[1] Ratzinger, Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen, A. a. O., S. 18.
[2] A.a.O., S. 16.
[3] A.a.O., S. 28.
[4] Ratzinger, Wie weit trägt der Konsens über die Rechtfertigungslehre?, in: IkaZ 29 (2000), S. 429.
[5] Ratzinger, Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen, Dritte Auflage, Trier 2006, A. a. O., S. 20.
[6] A.a.O., S. 22.
[7] Übersetzt: Altertümer menschlicher und göttlicher Einrichtungen.
[8] Zu Varro: Vgl. Burkhart Cardauns, Marcus Terentius Varro, Einführung in sein Werk, Heidelberg 2001. Vgl. Yves Lehmann, Varron théologien et philosophe romain. Latomus, Bruxelles 1997.
[9]
Wolfgang Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld, Tübingen 1989, S. 416-419.
[10] Ratzinger, Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche, St. Ottilien 1992, S. 268.
[11] A.a.O., S. 270.
[12] Ratzinger, Rede vor dem Deutschen Bundestag. http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/benedict/rede/250244.
[13] Ratzinger, Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche, St. Ottilien 1992, S. 272.
[14] Ratzinger, Die Einheit der Nationen, Eine Vision der Kirchenväter, Salzburg, München 2005, S. 13ff.
[15] A.a.O., S. 14.
[16] A.a.O., S. 19f.
[17] A.a.O., S. 31.
[18] A.a.O., S. 34.
[19] A.a.O., S. 58.
[20] A.a.O., S. 55.
[21] A.a.O., S. 56.
[22] A.a.O., S. 63.
[23] A.a.O., S. 64 und S. 63.
[24] A.a.O., S. 76.
[25] A.a.O., S. 95.
[26] Ebenda.
[27] Ratzinger, Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen, S. 102.
[28] A.a.O., S. 28.
[29] Ratzinger, Caritas in veritate.
[30] Ratzinger, Rede vor dem Deutschen Bundestag. http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/benedict/rede/250244
[31] Ebenda.
[32] Ebenda.
[33] Ebenda.
[34] Ebenda.
[35] Vgl. H. Grotius, De Iure Belli ac Pacis Libri Tres, Prolegomena, 11, 10.
[36] Ratzinger, Europa in der Krise, 82.
[37]
J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 1977, 150.
[38] Vgl. zu diesem Begriff A. Rosmini, Philosophie der Politik, hg. von C. Liermann, Innebruck-Wien 1999, 118.
[39] Markus Krienke, Der sozialethische Beitrag Joseph Ratzingers
[40] Ratzinger, Rede vor dem Deutschen Bundestag.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2159 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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