Anti-Aging-Medizin was ist das? Der Kampf gegen das Altwerden? Will diese Medizin den ewigen Wunsch der Menschheit, jung zu bleiben, mit wissenschaftlicher Methodologie bewahrheiten? Oder steigen Menschen mit dem äußeren Habitus des Alters in ein Bad und verlassen es in der äußeren Gestalt der Jugend, so wie Lucas Cranach d.Ä. (1546) in einem Gemälde der Nachwelt überliefert hat? Was die Haut anbelangt, so ist die moderne Dermatologie diesem Ziel schon ein Stück näher gerückt. Aber es wäre viel zu eng gesehen, wenn die Anti-Aging-Medizin nur die Erhaltung der äußeren Gestalt als wünschenswert sich zum Ziel setzen würde, und sie hätte wohl auch die Ideologie der Eitelkeit zum Inhalt. Es ist der Blick in die Statistik, der den Anlass und den tieferen Grund für die Etablierung dieses neuen Medizin-Zweiges uns aufzeigt. Die Menge an Arzneimittelverordnungen in Deutschland steigt mit dem kalendarischen Alter exponentiell, der steile Anstieg beginnt mit dem 45sten Lebensjahr. Im Jahre 2003 war der Verordungsumfang in der Bevölkerungsgruppe der 65 bis 69-jährigen zehnfach höher im Vergleich zu der Menge, die für die Altersgruppe der 20 bis 26-jährigen verordnet wurde. Für die Gruppe der 85 bis 90-jährigen betrug die Menge immer noch das 2,6fache der eben genannten jungen Altersgruppe, obwohl die Anzahl der Versicherten nur noch ein Sechstel betrug.
Warum steigt der Arzneimittelverbrauch mit zunehmendem Alter so stark an?
Auch hier hilft uns wieder ein Blick in die Statistik. Es sind im Wesentlichen zwei Gruppen von Krankheiten, die dies verursachen. Zu einem die altersassoziierten – typisch für das hohe Lebensalter, weil physiologische Altersveränderungen, Lebensstil und Kontakt mit potenziellen Toxinen über längere Zeit als Ursachen verantwortlich sind – zum anderen die chronischen Erkrankungen. Diese sind heute gut behandelbar und erhöhen somit die Lebenserwartung (z.B. Dysbalance des Immunsystems mit bevorzugten Manifestationsorten: Lunge, Haut, Darm, Gelenke).
Die enormen Erfolge der wissenschaftlichen Medizin in den letzten 200 Jahren haben die Lebenserwartung verlängert, nicht aber die Gesamtmorbidität verringert. Das heißt, ein längeres Leben ist auch häufig mit Krankheitsleid verbunden. Dieses Leid zu mindern und die damit natürlich verbundenen Kosten zu reduzieren, hat sich die Anti-Aging-Medizin zur Aufgabe gestellt. Das ethischen Ziel dieses „neuen“ Medizin-Zweiges ist, beschwerdefrei gesund zu bleiben und somit Lebensqualität und damit verbunden Lebenslust optimal zu erhalten bis zum letzten Atemzug. Man könnte deshalb besser – wenn schon neuhochdeutsch – von einer Happy-Aging-Medizin sprechen.
Die Erkenntnis, dass derzeit das Hauptrisiko für Krankheit und Tod (Arteriosklerose, Osteoporose, Tumorerkrankungen, Demenzen) die Altersveränderungen selbst sind, zeigt uns, wie wichtig es ist, diese Prozesse zu analysieren. Neben den zahlreichen Theorien dazu scheint die „Free Radical Theory of Aging“ erfolgversprechend zu sein und bietet Ansätze für Prophylaxe und Therapie. Alles was man unter dem Begriff „Oxidativer Stress“ versteht, bedingt kumulative Schäden des Alterns und altersbedingte Erkrankungen. Der Körper besitzt ein vielseitiges antioxidatives Schutzsystem, dessen Ausstattung und Funktion genetisch determiniert ist. Schon lange ist bekannt: Lebensspanne und angeborene Effizienz antioxidativer Schutzsysteme korrelieren. Dem hohen Schädigungspotential der reaktiven Sauerstoff-Spezies (ROS) und der freien Stickstoffradikale stehen neben dem endogenen Arsenal auch exogene Antioxidantien gegenüber, die unter normalen Bedingungen einen weitgehenden Schutz für die Zelle und ihre Organellen gewährleisten. Diese antioxidativen Schutzmechanismen können durch Umweltfaktoren wie UV-Strahlen, Ozon, Chemikalien und Schwermetalle, durch Rauchen und übertriebene körperliche Belastung, welche die Entstehung von ROS begünstigen, beeinträchtigt werden. Diese wirken durch Oxidation von Proteinen, Nukleinsäuren oder Lipiden in ihrem unmittelbaren Umfeld. Oxidative Schäden an der DNA, geschätzt werden bis zu 10.000 pro Tag und Zelle, werden unter normalen Bedingungen effizient durch DNA-Repairenzyme beseitigt. Dieses Gleichgewicht, verändert sich mit fortschreitendem Alter, so dass sich Schäden kumulieren. Diese korrelieren invers mit der maximalen Lebensspanne. Die Peroxidation von Lipiden erfolgt vorwiegend durch Reaktion mit mehrfach-ungesättigten Fettsäuren. Werden Membranbestandteile so verändert, führt dies zu funktionellen Einschränkungen, wie der Fluidität und Permeabilität. Die Kommunikation mit anderen Zellen z.B. des Immunsystems wird erschwert. Betrifft dies lösliche Fette wie z.B. das LDL-Molekül, so fördern die oxidierten Produkte die Bildung von Schaumzellen (fettbeladenen Zellen) im Rahmen des atherosklerotischen Umbaus von Gefäßwänden. Vor allem ist die Oxidation von Proteinen mit einer Funktionseinbuße von Enzymen, Signalmolekülen oder Rezeptoren verbunden. Glykoproteine können zu Schiff´schen Basen umgewandelt werden (z.B. das HbA1c bei Diabetes). Als Folge dieser degenerativen Veränderungen können aus körpereigenen Proteinen auch Neoantigene entstehen. Die Rolle von Glykierungsendprodukten, die nicht nur mit Proteinen, sondern auch mit Fettbestandteilen und Nukleinsäuren auftreten im Alterungsprozess (Bräunungsphänomene menschlicher Sehnen) und bei Erkrankungen (Diabetes, Arteriosklerose, Demenz) ist Gegenstand aktueller Forschung. Lösliche Rezeptoren (RAGE) solcher Substanzen binden diese und bessertenden Gesundheitszustand von Mäusen deutlich, die an Diabetes, Arteriosklerose, Alzheimer Demenz oder M. Crohn litten. (RAGE-Hypothese des Alterns.)
Die altersbedingte Zunahme des oxidativen Stresses, verbunden mit krankheitstypischem ROS-Anfall (z.B. bei Diabetes), führen zu einer beschleunigten Entwicklung von atherosklerotischen Komplikationen. Oder die Beeinträchtigung der Clearance modifizierter Proteine fördert die Bildung von Aggregaten, so dass degenerative Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer oder amyotrophe Lateralsklerose begünstigt werden. Die Akkumulation oxidativer Schäden im Laufe des Lebensalters, zusätzliche Schäden durch vermehrten Anfall von ROS bei Infektionen und die Umwelt-bedingten ROS-Schäden werden für die wichtigsten altersbedingten Erkrankungen, wie Arteriosklerose und die daraus entstehenden Folgen (wie KHK und cerebraler Insult), Malignome, neuro-degenerative Erkrankungen, psychische Dysbalance und Erlöschen der geistigen Fähigkeit, verantwortlich gemacht. Dies verdeutlicht, wie eng physiologische Altersprozesse und die Entstehung von krankhaften Veränderungen verwoben sind, und dass alle Ansatzpunkte, die das Gleichgewicht zwischen anfallenden freien Radikalen und der Wirksamkeit des antioxidativen Systems herstellen, äußerst sinnvoll für eine Prophylaxe unter normalen Lebensbedingungen und unter Stresssituationen (z.B Strahlenbelastung bei Tumorbehandlung) sowie einer Therapie sind. In Studien nach wissenschaftlichen Kriterien ist immer wieder versucht worden, durch Zufuhr von exogenen Komponenten des Schutzsystems, z.B. Vitamin E (wirksamer Oxydationsschutz für Lipide), Vitamin C oder Carotinoide als Monokomponenten, einen positiven Effekt auf die Sekundärprävention nachzuweisen. Die Ergebnisse waren widersprüchlich und zeigten z.T. negative Effekte (z.B. ß-Carotin). Nahezu revolutionär aber war das Resultat einer prospektiven, randomisierten 7-Länder Ernährungsstudie bei Patienten nach Myokardinfarkt mit hohem Risiko für Reinfarkte. Verglichen wurden über einen Zeitraum von 4 Jahren zwei verschiedene Ernährungsweisen: eine Gruppe erhielt eine mediterrane Diät (reich an Alpha-Linolensäure, Obst, Gemüse, Ballaststoffen) und die andere Gruppe eine normale, cholesterinarme Diät. Das kardiovaskuläre Risiko war unter mediterraner Ernährung um 50% gesenkt. Ein Erfolg, der bislang von keinem Pharmakon erreicht wurde. Neben einer höheren Konzentration der antioxidativen Vitamine C und E fand sich bei den Studienteilnehmern auch ein Anstieg der Plasmakonzentration von Omega-3 Fettsäure und Ölsäure, während die der Linolsäure zurückging. Gegenwärtig gilt deshalb als beste Prophylaxe vor dem oxidativen Stress eine gesunde Ernährung, die reich an Obst, Gemüse, Ballaststoffen und – ganz wichtig – reich an ungesättigten Fettsäuren ist, mit einem Verhältnis von Omega-6 zu Omega-3 Fettsäuren von 4,5 (z.B. günstig Rapsöl). Kann dieses Verhältnis mit der Nahrungszufuhr nicht realisiert werden, ist eine Zufuhr von Alpha-Linolensäure in Form von arzneilichen Präparationen sinnvoll.
Populäre Diskussionen kreisen um die positive Wirksamkeit von anderenpflanzlichen so genannten Vitalstoffen, den Oligo- oder Polyphenolen (Gerbstoffe) mit den beiden großen Gruppen Anthrocyane und Flavonoide. So werden als Nahrungsergänzung oligomere Proanthrocyanidine (OPC-Extrakt aus dem Traubenkern), Resveratrol (wichtiger Bestandteil der Traubenschale) oder Catechin (im grünen Tee) empfohlen. Neben der Eigenschaft als Radikalfänger werden ihnen vielseitige Eigenschaften auf molekularer Ebene zugeschrieben, wie Hemmung der Blutplättchenaktivierung, Hemmung der Freisetzung proinflammatorischer Zytokine u.a., die Alterungsprozesse verzögern können und zur Reduktion der Morbidität und Mortalität (Arteriosklerose, chron. entzündliche Erkrankungen, Krebs) und Schutz vor seelischem Stress u.a. beitragen. Es ist unklar, ob und wenn ja, wann eine zusätzliche Supplementierung solcher Stoffe nötig ist. Die sogenannte orthomolekulare Medizin (nach Linus Pauling) – als ein Grundpfeiler der Anti-Aging-Medizin – hat sich zum Ziel gesetzt, mit Hilfe gezielter Diagnostik, z.B. Bestimmung des Anti-Oxidantien-Status in der Haut, den individuellen Bedarf zu ermitteln und unter Beachtung von Risiken, der genetischen Disposition und Umweltbelastung, den individuellen Bedarf zu ermitteln, um dann den Körper gezielt mit Vitaminen, Mineralstoffe, Spurenelementen, bestimmten Aminosäuren, Enzymen, Anti-Oxidantien und anderen Vitalstoffen zu versorgen. Die Bemühungen der orthomolekularen Medizin auf ein solides wissenschaftliches Fundament zu stellen, müssen ein wichtiges Anliegen sein, um der Gefahr von „Geldschneidereien“ vorzubeugen bzw. zu entgehen.
Basierend auf der epidemiologischen Beobachtung der Veränderungen von Hormonkonzentrationen im Alter beruht wohl die populärste Theorie des physiologischen Alterns (Endokrine Regulation der Lebenszeit). So nimmt die Konzentration von Steroiden, Wachstumshormon (hGH) und Melatonin ab. Viele alterstypische klinische Erscheinungen (Abnahme der Muskelmasse, Zunahme der Fettmasse, Verringerung der Leistungsfähigkeit) korrelieren mit den Befunden von definierten Hormondefiziten, z.B. Testosteron-Mangel, Wachstumshormonmangel. Es ist deshalb nicht unplausibel, mit Supplementierung der Hormone Beschwerden lindern zu wollen. Der Einsatz von Hormonen gegen Altersbeschwerden hat als Basisparadigma die Erfahrung mit der postmenopausalen Hormonsubstitution. Diese als Ersatztherapie bezeichnete Supplementierung mit Estrogen und Gestagen lindert unbestritten die postmenopausalen Beschwerden (Hitzewallungen, Schlafstörungen etc.). Die anfängliche Euphorie, damit auch Osteoporose zu verhindern, die kardiovaskuläre Mortalität zu senken und der Entwicklung einer Demenz vom Alzheimer-Typ vorzubeugen, ist schnell verflogen. Die gewünschten Erfolge haben sich nicht eingestellt oder es wurden sogar gegenteilige Effekte beobachtet. Die epidemiologische Datenbasis für ein erhöhtes Brustkrebsrisiko bei Frauen unter postmenopausaler Hormontherapie ist eindeutig, die modulierende Rolle der Gestagene noch Gegenstand der Forschung.
Die Supplementierung von Wachstumshormon bei älteren Männern führte zu Veränderungen der Körperzusammensetzung (Zunahme der Muskelmasse und Abnahme des Fettgewebes), bezüglich der Muskelfunktion sind die Aussagen von Studien aber widersprüchlich. Wegen der insulinantagonistischen (diabetogenen)und der durch IGF-vermittelten mitogenen Wirkung ist eine unkontrollierte Langzeiteinnahme nur aus der Indikation heraus, das Altern zu verzögern, nicht vertretbar. Dies gilt auch für Dehydroepiandrosteron (DHEA), welches als ein Vorläuferhormon für weibliche und männliche Sexualsteroide gilt. Da seine Konzentration während des Alterns um bis zu 95 Prozent abnimmt, wird seine Supplementierung als Anti-Aging-Hormon ganz besonders als einfaches Nahrungsergänzungsmittel propagiert.
Nicht auf alle Einzelheiten des Für und Wider einer Hormonsupplementierung im Alter kann an dieser Stelle eingegangen werden, sondern nur die derzeit gültige Empfehlung zusammengefasst werden. Diese lautet: eine Hormongabe (streng genommen eine Arzneimitteltherapie und keine Substitutionstherapie) ist nur bei krankhaften Erscheinungen des Hormonmangels – unter Kontrolle des behandelnden Arztes (Risikobeurteilung) – ethisch vertretbar. Erniedrigte Hormon-Konzentrationenallein sind kein ausreichender Behandlungsgrund. Schwieriger ist, eine Pauschalaussage für die in Deutschland nicht zugelassenen Hormone wie DHEA und Melatonin zu treffen. So gibt es schon vielversprechende Studien zur Wirksamkeit von Melatonin bei Schlafstörungen im Alter. Melatonin ist außerdem ein starkes Antioxidanz, und bedeutende Risiken sind anhand des bisher Bekannten nicht zu erwarten. Der Prozess zur wissenschaftliche Etablierung der derzeit als Anti-Aging-Hormon gehandelten Substanzen wird zeigen, ob und wenn ja welche Alterungsvorgänge sie verzögern können, um dann nützlich zur Prävention von ungewünschten Störungen zu sein.
Das hier dargestellte Rüstzeug in Einklang mit einem körperlichen Training, einer psycho-sozial-geistigen Hygiene und dem Ausschalten von diversen Umweltfaktoren bildet den Inhalt der Anti-Aging-Medizin. Sie ist eine Präventivmedizin, deren Ziel es ist, die Beeinflussung von Alterungsprozessen auf den verschiedensten Ebenen und damit die Vermeidung von altersbedingten Erkrankungen und den Erhalt von Vitalität, Leistungsfähigkeit und seelischem Wohlbefinden zu erreichen.
Es ist eine Medizin, die in transdisziplinärer Ganzheit gegenwärtig ihre Dignität beweisen muss und somit die vorwiegend kurative Medizin bereichern und sich zu einem wichtigen, wenn nicht dem dominanten, Bestandteil der Medizin des 21. Jahrhundert entwickeln wird.
Dr. med. habil. Annegret Balogh ist Privatdozentin am Institut für Klinische Pharmakologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
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