Was macht unter anderem den Reiz der Bücher des 2010 verstorbenen französischen Schriftstellers Pascal Garnier aus? Wie so oft in den angenehm kurzen Romanen Garniers konzentriert sich die Handlung auf wenige Personen. So fällt es dem Leser leicht, den Überblick zu behalten. Und die Beschreibung der Charaktere bewegt sich nicht nur an der Oberfläche, trotz der knappen 160 Seiten in dem Werk „Die Insel“, das in Garniers Todesjahr erstmals in Frankreich herauskam.
Wir haben es mit Roland, einem Obdachlosen, zu tun, der nach ein paar Handgreiflichkeiten seinen Job als Weihnachtsmann verloren hat. Dieser trifft auf den Blinden Rodolphe, einen zutiefst ängstlichen, aber auch bösartigen Menschen, der sich in einem Wust aus Fett versteckt. Rodolphe macht seiner Schwester Jeanne das Leben schwer, die im Lauf der Handlung auf ihre Jugendliebe Olivier trifft, der zur Beerdigung seiner Mutter angereist ist. Beide verbindet ein schlimmes Verbrechen aus ihrer Jugendzeit, um das der blinde Bruder weiß.
Alle vier Hauptpersonen sind recht traurige Gestalten, zum Scheitern verurteilt. Garnier beschreibt den Gemütszustand Rodolphes treffend wie folgt: „Er fühlte sich wie ein welkes Salatherz, das man im Gemüsefach des Kühlschranks vergessen hat.“ Kann aus einer solchen Figurenkonstellation etwas Positives entstehen? Nein, das ist von Anfang an klar. Auch wenn sich Jeanne und der alkoholkranke Olivier, der eigentlich verheiratet ist, wieder annähern, so gleicht ihre Reise auf die imaginäre „Insel“, die schon im Titel genannt wird, einer Höllenfahrt.
Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als sich die vier einsamen Herzen zu einem gemeinsamen Abendessen verabreden, bei dem der Alkohol in Strömen fließt und es zu einem Mord kommt.
Dieser Mord wird nicht im klassischen Sinn aufgeklärt, denn die Polizei spielt in den Büchern des düsteren Franzosen keine große Rolle. Inspektor Luneau raucht zwar auch Pfeife, aber ein genialer Detektiv wie Sherlock Holmes ist er nicht. Auch er fällt dem Wahnsinn von Jeanne und Olivier zum Opfer, die sich auf ihre imaginäre Insel retten wollen und gegen Ende des Romans immer mehr von der Außenwelt abkapseln.
„Die Insel“ ist nicht so witzig geschrieben wie andere Werke des Autors. Die Geschichte ist sehr düster und ohne Hoffnung. An einer Stelle des Romans möchte Roland die Kirche Notre-Dame in der Rue de la Paroisse aufsuchen, die „natürlich verschlossen“ ist. „Gott hat nur von dann bis dann geöffnet“, lautet der bissige Kommentar dazu. Glaube, Gott, echte Liebe, Sinn: all das findet sich nicht in den trostlosen Leben der Protagonisten dieses Romans.
Man würde dieses Buch wahrscheinlich nicht als Lektüre auf eine einsame Insel mitnehmen, um beim Lesen Trost zu schöpfen. Sie ist auch nichts für schwache und empfindliche Nerven, sondern eher für ein Publikum geeignet, welches das Entlegene, Ungewöhnliche schätzt. Es gibt immer mehr 600-Seiten-Krimiwälzer nach dem Schema F. Warum nicht mal zu einem Exoten aus einem kleinen Verlag greifen?
Pascal Garnier: Die Insel. Septime Verlag: Wien 2025, 22 Euro.
Die Insel