José Saramago Kleine Erinnerungen Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis Titel der Originalausgabe: As pequenas memorias Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg (Februar 2009) 160 Seiten, Gebunden ISBN-10: 3498063995 ISBN-13: 978-3498063993 Preis: 16,90 EURO.
Zweifelsohne fließen in Romane und Erzählungen viele persönliche Erlebnisse und Erinnerungen des jeweiligen Autors ein. Ausgeschmückt, hinzugedichtet, erweitert, drapiert und ausstaffiert treten diese ihren Weg ins Buch und letztendlich zum Leser an. Dabei ist es völlig egal, ob es sich um einen „Debütanten“ oder einen „hoch dekorierten, gestandenen“ Schriftsteller wie den 86-jährigen portugiesischen Literaturnobelpreisträger José Saramago handelt.
In seinem soeben erschienenen schmalen Buch „Kleine Erinnerungen“ erwähnt er an einigen Stellen solche Begebenheiten, die ihn später zu einigen seiner Romane inspiriert haben. Sei es nun ein denkwürdiger Ausflug nach Mafra in die monumentale Basilika mit ihrem gehäuteten heiligen Bartholomäus, die ihn zu „Das Memorial“ animierte. Oder aber der von Zeit zu Zeit stattfindende Besuch eines etwas streng riechenden blinden Verwandten, dessen Ausdünstungen er seitdem mit Blindheit verbindet und dies vermutlich in „Die Stadt der Blinden“ seinen Niederschlag fand. Der frühe und für ihn nicht geklärte Tod seines Bruders Francisco sowie seine späteren Recherchen in Personenstandsregistern regten ihn wiederum zum Roman „Alle Namen“ an.
Wortreiche Verführungen
Doch dies sind nur kleine Randnotizen des vorliegenden autobiografischen Buches, das von Reminiszenzen Saramagos aus einer Zeit, in der er Kind war berichtet. Sie reichen von den frühesten im Gedächtnis haften gebliebenen Retrospektiven mit ca. 2-3 Jahren bis ins jugendliche Alter. Auch wenn „Kleine Erinnerungen“ nicht die vergleichbare Tiefe und Substanz seiner großartigen Romane hat, so ist es doch ein kleines-großes und vor allem liebevolles Werk.
„Lass dich von dem Kinde verführen, das du einmal warst.“ Diesen Satz aus dem „Buch der Ratschläge“ stellt der bescheidene Autor, der zurzeit an einem neuen Roman arbeitet, seiner Erzählung voran. Und im wahrsten Sinne des Wortes verführt und bezaubert José Saramago den Leser. Er schreibt voller Liebe von seinem Geburtsort Azinhaga, am Ufer des Flusses Almonda, der wiederum „einen knappen Kilometer südlich der letzen Häuser“ mit dem Tejo zusammentrifft.
„Dort kam ich zur Welt, dort wurde ich, weil die Not meine Eltern nach Lissabon trieb, als knapp Zweijähriger wieder herausgerissen und in eine andere Art zu fühlen, zu denken und zu leben eingeführt, als sei mein Geborenwerden an diesem Ort ein gerade noch aufzugebender misslicher Zufall, ein Versehen des Schicksals gewesen. Zu spät. Von aller Welt unbemerkt, hatte das Kind Ranken und Wurzeln geschlagen, hatte dieser zarte Keim, der ich damals war, die Zeit genutzt, seine winzigen, unsicheren Beinchen auf den Lehmboden zu setzen, um von diesem unauslöschlich das Siegel der Heimat eingebrannt zu bekommen […]. In dem geheimnisvollen Buch des Schicksals und den dunklen Wirren des Zufalls stand geschrieben, und ich allein wusste das, ohne mir dessen bewusst zu sein, dass ich nach Azinhaga zurückkehren sollte, um fertig geboren zu werden. Meine ganze Kindheit und frühe Jugend über war dieses arme, einfache Dorf […] der Geburtsort, in dem ich noch immer ausgetragen wurde, der schützende Beutel, in dem dieses kleine Beuteltier steckte, um im Guten und vielleicht auch im Schlechten das aus sich zu machen, was es heimlich, still und leise nur für sich alleine machen konnte. „
Feinfühlige Töne
Mal heiter und mit subtilem Humor, hin und wieder mit einem Schuss Ironie, manchmal traurig, melancholisch oder nachdenklich, hier mit verschmitztem Lächeln und da voller Zuneigung, erzählt der große Schriftsteller von den kleinen Dingen des Lebens, den Abenteuern und „kaum nennenswerten Heldentaten“ des heranwachsenden Jungen. Das tut er auf so wunderbare Art und Weise, mit subtil erzeugten Schwingungen, die ein angeregtes Leseerlebnis hinterlassen und einen hinreißenden Blick in intime Momente der Vergangenheit des portugiesischen Autors gewähren.
So erfährt der Leser wie José Saramago zu seinem Familienname kam, der keineswegs der väterliche war, sondern ein Spitzname, dem er einem betrunkenen Standesbeamten zu verdanken hat. Auch seine erste „poetische Komposition“ gibt der Autor zum Besten. Es ist ein volkstümlicher Vierzeiler, den der damals 17-jährige auf einen kleinen, herzförmigen Teller brennen lies, um seine Liebschaft (und spätere Frau) Ilda Reis zu beglücken: „Lass es niemand hören / denn es ist geheim / dies Herz aus Ton soll dir gehören / mein eignes ist schon dein.„
Und immer wieder schlägt er feinfühlige Töne an, die einen wohligen Schauer auf der Haut des Lesers zurücklassen: „… vor mir stand, als wollte er mir den Werg versperren, ein hoher Baum, der vor dem klaren Nachthimmel zunächst sehr dunkel wirkte, Da erhob sich eine Bö. Sie ließ die zarten Grashalme, das scharfe grüne Schilf erzittern und kräuselte das schlammige Wasser einer Pfütze. Wie in einer Wellenbewegung richtete sich das breit gefächerte Geäst des Baumes auf und stieg rauschend den Stamm empor, bis auf einmal alle Blätter ihr verstecktes Gesicht dem Mond zuwandten und die Buche (es war eine Buche) bis in ihre obersten Wipfel in weißem Glanz erstrahlte. Es war nur ein Augenblick, nichts weiter als ein Augenblick, doch die Erinnerung an ihn wird so lange währen wie mein Leben.“
Marianne Gareis, der Übersetzerin aus dem Portugiesischen, ist es zu verdanken, dass diese dezenten, sensitiven Töne dem deutschsprachigen Leser ohne Verluste zugängig geworden sind.
Fazit:
Bilder, Gerüche, Geräusche, Düfte, Empfindungen weiß der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago auf eindrucksvolle Art und Weise wiederzugeben. „Kleine Erinnerungen“ ist eine wunderbare Reise in die Vergangenheit, zu seinen Wurzeln und familiären Bindungen. Ein leises, zartes Buch, das eine ganz andere Seite des Literaturnobelpreisträgers zeigt.
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