Anna Seghers, Briefe 1953/83 neu ediert

Briefe von Anna Seghers — vom Jahr des Arbeiteraufstands 1953 bis ins Jahr ihres Todes 1983

Trojanisches Pferd, Foto: Stefan Groß

Der zweite Band der Briefe von Anna Seghers, vom Jahr des Arbeiteraufstands am 17. Juni 1953 bis ins Jahr ihres Todes 1983, sechs Jahre vorm Untergang des SED-Staates, ist zweifellos der politisch und literarisch aufschlussreichere als der erste von 2008 mit den Briefen 1924/52. Wenn man die 645 Seiten durchgearbeitet hat, dann ist man erstaunt, was die Autorin alles an Informationen über ihr aufregendes Leben preisgibt, wo sie doch bis zu ihrem Tod am 1. Juni 1983 wegen ihrer „autobiographischen Enthaltsamkeit“ (Kurt Batt) gescholten wurde, woran dann auch eine von Christa Wolf 1965 geplante „Biographie der Anna Seghers“ scheiterte
Nach welchen Kriterien soll man diese Fülle an Stoff bewältigen? Schon ein Blick in das Verzeichnis der Briefpartner zeigt, wie weitverzweigt der Kreis derer war, mit denen Anna Seghers in 30 DDR-Jahren korrespondierte. Da war zunächst ihr Sohn Pierre Radvanyi (1926), der 1945 noch vor seiner Mutter aus dem mexikanischen Exil nach Paris zurückgekehrt war, um dort Physik zu studieren, mit Kindern und Enkelkindern. Die Tochter Ruth Radvanyi (1928-2010) war ihm 1946 nach Frankreich gefolgt, hatte in Paris Medizin studiert, war aber 1954 nach Ostberlin übergesiedelt, wo sie als Kinderärztin arbeitete; auch mit ihrem nach London emigrierten Vetter Sally David Cramer (1893-1977) stand sie in brieflicher Verbindung.
Dann folgte die lange Reihe der Freunde, Genossen und Kollegen, darunter ihre einstige Mainzer Lehrerin Magdalena Herrmann (1888-1988) von der „Höheren Töchterschule“, der heutigen „Anne-Frank-Schule“ am Petersplatz, die ihre Schülerin um fünf Jahre überlebte, die Mainzer Schulkameradin Elisabeth Stimbert (1901-1976) und die aus Frankfurt am Main stammende Kommunistin Lore Wolf (1900-1996), Exilgefährtin in Paris, die nach dem Einmarsch deutscher Truppen 1940 verhaftet und bis Kriegsende 1945 eingesperrt wurde.
Unter den Schriftstellern war sie eng befreundet mit dem Brasilianer Jorge Amado (1912-2001), den sie zweimal, 1961 und 1963, mit dem Schiff besuchte, und mit Ilja Ehrenburg (1891-1967), einem russischen Juden, der 1954 mit seinem Roman „Tauwetter“ berühmt geworden war. Auch drei russischen Germanisten war sie freundschaftlich verbunden: der Übersetzerin Tamara Motyljowa (1910-1992), dem Literaturhistoriker Lew Kopelew (1912-1997), dem Übersetzer ihres Exilromans „Transit“ (1943), mit dem sie aber den Kontakt abbrach, nachdem 1971 in Köln sein Lagerbuch „Aufbewahren für alle Zeit“ erschienen war, und dem Moskauer Literaturkritiker Wladimir Steshenski (1921-2000). Mit den marxistischen Literaturtheoretikern Georg Lukacs (1885-1971) in Budapest und Ernst Fischer (1899-1972) in Wien hielt sie auch dann noch Verbindung, nachdem der eine wegen Beteiligung an der ungarischen „Konterrevolution“ im Herbst 1956 verhaftet und nach Rumänien verschleppt worden war, während der andere, den sie noch auf der Prager Kafka-Konferenz 1963 getroffen hatte, 1969 wegen seiner Kritik am „Panzerkommunismus“ (Prag 1968) aus der KPÖ ausgeschlossen worden war. Dem niederländischen Kommunisten Nico Rost (1896-1971), der in den Jahren 1943/45 ins Konzentrationslager Dachau verschleppt war, Autor des Buches „Goethe in Dachau“ (1946), und 1951 in Ostberlin verhaftet und ausgewiesen worden war, schrieb sie noch 1959 einen kritischen Brief nach Amsterdam, vermutlich den letzten. Mit den Exilgefährten Bruno Frei (1897-1988) und Lenka Reinerová (1916-2008), der letzten Vertreterin des „Prager Dichterkreises“, korrespondierte sie bis zuletzt.
Jenseits aller Freundschaftsbekundungen geben diese 250 Briefe aber auch Auskunft nicht nur über die Autorin und politische Aktivistin Anna Seghers, die es als Ehre ansah, ihrem sozialistischen Staat zu dienen, sondern auch über die Ängste und Hoffnungen der DDR-Bürgerin Netty Radvanyi, die offenbar ganz genau wusste, wo sie lebte. So wurde sie, obwohl sie sich wiederholt und mit starken Worten zu ihrem Staat bekannt hatte, spätestens seit dem Ungarnaufstand im Herbst 1956 von der „Staatssicherheit“ überwacht, Zuträger waren, neben Klaus Gysi (1912-1999) , dem Leiter des Ostberliner Aufbau-Verlags 1957/66 und späteren DDR-Kulturminister bis 1973, die Schriftstellerkollegen Hermann Kant (1926) und Günter Görlich (1928-2010), die Frau des Lyrikers Paul Wiens (1922-1982), der selbst seit 1962 für Erich Mielke arbeitete, und Gerhard Henniger (1928-1997), Sekretär des Schriftstellerverbands 1966/90.
Wie gut sie wusste, dass das in der DDR-Verfassung zugesicherte Briefgeheimnis kein einklagbares Recht war wie in demokratischen Staaten, sondern ständig gebrochen wurde, erhellt die Korrespondenz mit Georg Lukacs, den sie seit 1931 kannte. Diesem väterlichen Freund aus den Exiljahren, mit dem sie 1938/39 in zwei Briefen nach Moskau literaturtheoretische Fragen erörtert hatte, schickte sie von der zweiten Brasilien-Reise 1963 zwei Briefe nach Budapest und gab, in der Hoffnung auf Antwort, ihre Anschrift bei Zelia Amado in Rio de Janeiro an. Warum schrieb sie ihm nicht aus Ostberlin, sondern aus weiter Ferne? Es war wohl damals nicht ratsam, mit dem einstigen „Konterrevolutionär“ von 1956 und „Renegaten“ im Briefwechsel zu stehen. Schließlich waren seit 1958 keine Bücher mehr von ihm in DDR-Verlagen gedruckt worden, und 1960 war in einem Sammelband „Georg Lukacs und der Revisionismus“ das definitive Verdammungsurteil über ihn gesprochen worden.
Ein weiterer „Schwachpunkt“ im DDR-Leben der Anna Seghers waren ihre Westreisen. Sie war süchtig nach immer neuen Eindrücken und benutzte bei ihren Reisen Eisenbahn und Schiff, aus Gesundheitsgründen waren ihr Flugreisen vom Arzt verboten worden. Mit der Übersiedlung am 15. August 1950 von Westberlin in den Ostsektor war ihr die mexikanische Staatsangehörigkeit entzogen worden, weshalb sie jede begehrte Westreise von den Behörden genehmigen lassen musste; dennoch war sie dadurch gegenüber dem einfachen „DDR-Volk“ privilegiert, das bis 1961 nur eingeschränkt und nach dem Mauerbau überhaupt nicht mehr nach Westdeutschland reisen durfte, vom westlichen Ausland ganz zu schweigen. So fuhr sie 1962, zwischen den beiden Brasilien-Reisen 1961 und 1963, zur Frankfurter Buchmesse, als mit dem Exilroman „Das siebte Kreuz“ (1942) die westdeutsche Werkausgabe im Luchterhand-Verlag eröffnet wurde, und in ihre Geburtsstadt Mainz. Im Sommer 1965 war sie in Stockholm und las am 4. Oktober 1965 in Mainz, wie immer, wenn sie dort auftrat, mit raunender Stimme ihre autobiografische Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ (1946), auch in Westberlin und Hamburg las sie 1965. Zwei Jahre später war sie unterwegs nach Heidelberg, wo sie studiert hatte und 1924 promoviert worden war, und nach Zürich, 1973 nach Paris zu ihrem Sohn Pierre. Über Weihnachten und Neujahr 1956 fuhr sie mit ihrem Mann nach Schierke/Harz in den Urlaub, ins Sperrgebiet, wozu sie eine Sondergenehmigung benötigte. Kritische Gedanken darüber, warum die innerdeutsche Grenze auf DDR-Seite so stark gesichert war, gab es in ihrem Brief vom 24. Dezember 1956 nach Moskau nicht. In einem anderen Brief, gerichtet an Peter Huchel (1903-1981), den Chefredakteur der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“, vom 1. November 1961 verteidigte sie den Mauerbau in Berlin vom 13. August mit den Worten: „Wir haben den Ausbruch eines Krieges verhindert, und wir werden ihn weiter verhindern.“
Anna Seghers war, daran besteht kein Zweifel, fest eingebunden in die Staatsideologie des Marxismus-Leninismus, schließlich war sie Kommunistin, wenn auch mit wachem Blick für die wirklichen Zustände. Über den Arbeiteraufstand von 1953, den sie nicht miterlebte, weil sie vom 15. Bis 20. Juni dienstlich nach Budapest gereist war, äußerte sie sich zunächst zurückhaltend. In einem Brief nach Moskau vom 3. Juli 1953 sprach sie von „diesen zwei, drei verrückten Tagen“, die „wie eine Divergenz“ zur Friedenshoffnung der Menschheit stünden. Vier Tage später, am 7. Juli, veröffentlichte sie in der sowjetamtlichen Zeitung „Tägliche Rundschau“ eine Erzählung „An einer Baustelle in Berlin“, worin sie die SED-Version vom „konterrevolutionären Putschversuch“ übernahm. Das tat sie auch dann in ihrem Roman „Die Entscheidung“ (1959), sechs Jahre später, wo der Aufstand dann breit diskutiert, letztlich aber dann doch parteikonform interpretiert wurde. Auch beim Berliner Mauerbau vom 13. August 1961 war sie keine Augenzeugin, weil sie für ein Vierteljahr nach Brasilien gereist war. Wie sehr sie freilich unter dem „Panzerkommunismus“ (Ernst Fischer) litt, zeigte ihr Brief vom 10. Dezember 1956 an Walter Ulbricht, von dem sie sich, merkwürdig genug, Rat und Aufklärung erhoffte bei der ideologischen Einschätzung des Ungarnaufstands, den sie 1958 in ihrer Erzählung „Brot und Salz“ als von „Westagenten“ inszeniert verurteilte.
Es ist bezeichnend für Anna Seghers, dass sie Menschen in Not half, wenn es im Bereich ihrer Möglichkeiten lag; wenn nicht, leitete sie die Angelegenheit an höhere Stellen weiter, wo ihr Wort Gewicht hatte. So schrieb ihr die Literaturwissenschaftlerin Trude Richter (1899-1989), die 1936 im Moskauer Exil wegen „trotzkistischer Tätigkeit“ verhaftet und zu 20 Jahren Arbeitslager und Verbannung verurteilt worden war, im Sommer 1956 aus Magadan, einer Hafenstadt am Ochotskischen Meer in Sibirien. Nach ihrer durch Anna Seghers erwirkten Ausreise 1957 wurde sie Dozentin am Leipziger Literaturinstitut. Eingesetzt hat sie sich auch, wie ein Brief vom 6. Januar 1958 an Wieland Herzfelde (1896-1988) bezeugt, für die Lyrikerin Christa Reinig (1926-2008), die 1964 nach Westdeutschland ausreiste. Auch für andere Nachwuchsautoren wie Christa Wolf (1929), mit der sie befreundet war, aber auch für den Dramatiker Peter Hacks (1928-2003), dessen Gegenwartsstück „Die Sorgen und die Macht“ (1962) verboten worden war, und für den Lyriker Volker Braun (1939), dessen „Unvollendete Geschichte“ (1975) sie mit Begeisterung gelesen hatte, ist sie eingetreten. Am schönsten und längsten aber ist der Brief an die Germanistin Renate Francke vom 28. Februar 1963, wo sie auf sechs Druckseiten „die Entstehung meiner Antillen-Novellen“ erklärt. Unwirsch dagegen konnte sie reagieren, wenn es um die Verfilmung ihrer Romane und Erzählungen ging und sie mit der Konzeption nicht einverstanden war.
Einer Frau ist noch zu gedenken, deren Schicksal ungewöhnlich war und die Anna Seghers aus dem französischen Exil kannte: Maria Leitners! Die aus Kroatien stammende, in Budapest aufgewachsene Schriftstellerin (1892-1941), die in beiden Briefbänden genannt wird, ist irgendwo während des Krieges in Südfrankreich verschollen. Die Amerikaner hatten ihr, weil sie geborene Ungarin war, das Einreisevisum verweigert. Ihre unter Lebensgefahr erstellten Reportagen aus dem „Dritten Reich“, wohin sie mehrmals illegal aus dem Exil einreiste, hätten eine Neuauflage verdient.
In Ihrer Ausführlichkeit und Reichhaltigkeit kaum zu würdigen sind der Anmerkungsapparat und das unentbehrliche Namensregister. Bei dieser Datenfülle sind Fehler kaum zu vermeiden: So ist mit dem „Pawel“ im Brief vom 29. April 1961 keineswegs „Pawel Kortschagin“ aus Nikolai Ostrowskis Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ (1934) gemeint, sondern „Pawel Wlassow“ aus Maxim Gorkis Roman „Die Mutter“ (1906), den Anna Seghers im Brief auch zitiert.

Anna Seghers „Tage wie Staubsand. Briefe 1953-1983“, herausgegeben und bearbeitet von Christiane Zehl Romero und Almut Giesecke, Aufbau-Verlag, Berlin 2010, 645 Seiten, 42.00 Euro

Über Jörg Bernhard Bilke 261 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.