Zum 15-jährigen Jubiläum von Angela Merkel als deutsche
Bundeskanzlerin hält Professor Michael Ben-Gad [1] von der
Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der City, University of London
folgende Analyse bereit.
PROFESSOR MICHAEL BEN-GAD [1], DEPARTMENT OF ECONOMICS, CITY, UNIVERSITY OF LONDON
In einer Welt, in der westliche Führungspersönlichkeiten zunehmend
Aufmerksamkeit suchenden Prominenten ähneln und eine immer
populistischere Politik betreiben, gilt Angela Merkels nüchterne und
bescheidene Herangehensweise an Politik gemeinhin als bewundernswert.
Hier einige Beispiele, bei denen die Beurteilung ihrer Leistungen jedoch
weniger freundlich ausfallen dürfte:
FLÜCHTLINGSKRISE
Deutschlands Erfolgsbilanz bei der Integration von Zuwanderern aus dem
nichteuropäischen Ausland ist nicht durchgehend gut. Angela Merkels
Entscheidung, 1,5 Millionen Flüchtlingen während der Krise 2015/2016
Asyl zu gewähren, wird über Generationen hinweg erhebliche
Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft haben. Darüber hinaus hatte
sie fünf kollaterale Folgen:
Erstens entstand dadurch das Potenzial für eine gefährliche
nationalistischen Gegenbewegung, die durch die Politik, die Flüchtlinge
über das ganze Land zu verteilen, anstatt sie in Massenunterkünften
unterzubringen, zusätzlich verschärft wurde. Zwar hatte sie zum Ziel
die Integration zu erleichtern, verschärfte jedoch auch die Spannungen
innerhalb kleiner Gemeinschaften, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte
eine große Zahl von Menschen aus völlig fremden Ländern aufnehmen
mussten. Häufig geschah dieses zudem mit nur geringer Absprache.
Zweitens verschärften sich die Spannungen mit den Verbündeten
Deutschlands, insbesondere im Osten. Zwar könnte argumentieren, dass
populistische Politiker in Polen und Ungarn die Furcht vor
Massenmigration für ihre eigenen Zwecke ausnutzten, doch ist es eine
Tatsache, dass Deutschland die Entscheidung traf, humanitäre Hilfe
anzubieten, ohne seine Nachbarn dazu zu befragen. Anschließend bestand
Deutschland darauf, dass andere europäische Länder sich anschließen
und die Last mittragen sollten, worüber die Kritik nicht nachgelassen
hat.
Drittens: Die erschreckende Tatsache, sich an der möglichen Aufnahme
der Flüchtlinge beteiligen zu müssen, welche Angela Merkel
ursprünglich eingeladen hatte, wurde ein zusätzliches Argument für
die Brexit-Befürworter.
Viertens: Die Öffnung der Grenzen ermutigt andere Flüchtlinge, die
gefährliche Entscheidung zu treffen, sich ebenfalls auf den Weg nach
Europa zu machen. Nicht unbedingt, um Krieg oder politische
Unterdrückung zu vermeiden, sondern um eine bessere Zukunft zu suchen.
In der Tat waren die syrischen Flüchtlinge nicht mehr in Gefahr, sobald
sie die Grenze zur Türkei überschritten hatten. Anstelle dort zu
bleiben, entschieden viele, dass Deutschland oder ein anderes
westeuropäisches Land langfristig die besseren wirtschaftlichen Chancen
für sie selbst und ihre Kinder bieten würde.
Fünftens gehören die Flüchtlinge aus Syrien nicht zum
repräsentativen Teil der hiesigen Gesellschaft. Sie stammen
unverhältnismäßig stark aus der sunnitischen Mehrheit, und zwar
entweder aus ländlichen Gebieten oder von Bevölkerungsgruppen, die in
den letzten zwei Jahrzehnten vom Land in die größeren Städte gezogen
waren. Diese Personengruppe bildeten die Grundlage der Opposition nicht
nur gegen das Regime von Baschar Assad, sondern seit den 1970er Jahren
auch gegen das Regime seines Vaters Hafez. Das Asylangebot erleichterte
den seit langem bestehenden Wunsch des Regimes, diese Bevölkerung
zahlenmäßig zu verkleinern.
BREXIT
Abgesehen von der Flüchtlingskrise und angesichts der bevorstehenden
Brexit-Abstimmung scheint es nicht ausgeschlossen, dass das
Brexit-Referendum anders verlaufen wäre, wenn Merkel sich Cameron
gegenüber entgegenkommender verhalten hätte. Langfristig ist der
Verlust Großbritanniens als Verbündeter bei der Begrenzung der
europäischen Steuerintegration ein Verlust für die deutschen
Interessen [siehe unten].
KRISEN IN DER EUROZONE
Merkel wurde heftig kritisiert, weil sie nicht nur Griechenland
gegenüber, sondern auch einer Mehrheit der Länder, die auf dem
Höhepunkt der Staatsschuldenkrise Schwierigkeiten bei der Finanzierung
ihrer Haushalte hatten, deutlichen Hilfeleistung verweigerte. Ich teile
diese Ansicht nicht, denn ich bin sogar der Meinung, dass es nichts
Gefährlicheres für die langfristige Stabilität Europas gegeben hätte
als die Entscheidung, die deutschen (und vermutlich auch die
österreichischen, niederländischen, finnischen usw…) Steuerzahler
für die Finanzierung der Staatsausgaben in den so genannten PIIGS
verantwortlich zu machen. Eine derartige Lösung hätte den Verzicht auf
explizite Garantien bedeutet, die den Deutschen angeboten wurden, als
sie dem Verzicht auf die Deutsche Mark zugunsten des Euro zustimmten,
und hätte rechtspopulistische Bewegungen hervorgerufen.
Man erinnere sich nur daran, dass der damalige griechische
Finanzminister Yanis Varoufakis in seinem Buch _The Global Minitour_
argumentierte, dass solche Transferleistungen dauerhaft sein müssten.
Natürlich hätte vor dem Hintergrund der sehr konservativen deutschen
Finanzpolitik indirekt mehr getan werden können, indem man die
deutschen Inlandsausgaben, insbesondere für die marode Infrastruktur,
erhöht hätte. Aber durch die jüngste Entscheidung, eine einmalige
Rettungsmaßnahme in Höhe von 750 Milliarden Euro zur Eindämmung der
Corona-Pandemie zu bewilligen, bürdet Angela Merkel ihrem Nachfolger
eine sehr große Finanzlast auf.
WESTLICHES BÜNDNIS
Es ist schnelle getan, Präsident Trump für sein eigenwilliges
Verhalten und das Zerwürfnis des westlichen Bündnisses verantwortlich
zu machen. Nebenbei bemerkt, ist viel über sein schwieriges Verhältnis
zu Merkel und die Tatsache, dass sie eine weibliche
Führungspersönlichkeit ist, berichtet worden. Dabei wird ist eine
weitere Quelle der Unsicherheit vernachlässigt. Trotz seiner Appelle an
den Nationalismus sind die Beziehungen der Trump-Familie zu Amerika
relativ jung, da sie selbst Einwanderer der zweiten und dritten
Generation ist.
Trumps Mutter immigrierte als junge Erwachsene aus Schottland, und seine
beiden Großeltern väterlicherseits waren Einwanderer aus Kallstadt in
der Pfalz. Tatsächlich war damals bekannt, dass sein Vater, Frederick
Trump, ein Deutsch-Amerikaner der zweiten Generation, alle Anstrengungen
unternahm, seinen familiären Hintergrund zu verschleiern, während er
im New York der Nachkriegszeit sein Immobilienimperium aufbaute, indem
er manchmal fälschlicherweise behauptete, die Familie stamme aus
Schweden.
Hervorzuheben wäre noch, dass Trumps Enttäuschung über Deutschlands
geringe Rüstungsausgaben und die Bereitschaft, sich durch den Bau der
Nord Stream 2-Pipeline noch stärker von Russlands Gasexporten abhängig
zu machen, auch von seinen Vorgängern, darunter Obama, zum Ausdruck
gebracht wurde. Da Nord Stream 2 an Polen vorbeiführt, untergräbt auch
dieses Projekt das Vertrauen dieses Landes in das Westliche Bündnis.
Biden mag diese Ansichten auf weniger aufdringliche Weise zum Ausdruck
bringen, aber auch er wird bald enttäuscht über Europa und Deutschland
sein, deren Aufmerksamkeit und Ressourcen dafür aufgewendet werden
müssen, der chinesischen Macht im Pazifischen Raum entgegenzuwirken.
Links:
——
[1] https://www.city.ac.uk/people/academics/michael-ben-gad
—
Ida JUNKER
international consultant