Andrej Hermlin schreibt einen offenen Brief an den Parteivorstand der Linken. Der Verfasser ist der Sohn des DDR-Lyrikers Stephan Hermlin (1915-1997), der mit einer Russin verheiratet war. Er schreibt: „Wer in dieser Zeit und im Angesicht von Hunderten geschändeter jüdischer Frauen und Kindern nicht entschlossen und ohne jedes wenn und aber an der Seite des jüdischen Staates steht, kann kein Sozialist sein.“
Offener Brief an den Parteivorstand der Partei „Die Linke“ und deren Vorsitzende
Ich bin dieser Partei vor über 33 Jahren in einer Situation beigetreten, als Hunderttausende sie verließen.
Sie gingen, wie der damalige Vorsitzende Gysi richtig sagte, aus den gleichen Gründen, aus denen sie zuvor in die SED eingetreten waren.
Ich trat dieser Partei bei, weil ich darauf hoffte, dass sie nun, da sie die Macht verloren hatte, endlich zu einer Partei des demokratischen Sozialismus werden könnte.
Ich war naiv. Ich hatte den Drang zur Verleugnung des eigenen Versagens unterschätzt. Auch das Gift, dass sich in den Köpfen vieler Parteimitglieder über Jahre verbreitet hatte und noch immer deren Denken und Tun bestimmte.
Ich war noch nicht ein halbes Jahr in dieser Partei, als mir der damalige stellvertretende Vorsitzende in Berlin erklärte, dass das schlimmste, was den Juden in ihrer zweitausendjährigen Geschichte widerfahren sei, die Gründung des Staates Israel gewesen wäre. Nicht die Shoah, Israel!
Vielleicht hätte ich schon damals gehen sollen. In den folgenden Jahrzehnten häuften sich die Enttäuschungen, politische wie menschliche, und dass es diese Enttäuschungen gab, war vielleicht nicht einmal der Partei zuzuschreiben, sondern meiner Unbedachtheit, ihr beizutreten.
Alles aber hat seine Grenzen, und manchmal genügt scheinbar ein Detail, um eine Situation radikal zu ändern.
Die Erklärung des Parteivorstandes zum Krieg in Israel ist freilich kein Detail.
Sie reiht sich nahtlos ein in zahlreiche politische Bekundungen unserer Partei oder ihr nahestehender Organisationen zum Nahostkonflikt. Ich versage es mir, uns die entsprechenden Beispiele der vergangenen Jahre in Erinnerung zu rufen.
Nichts erscheint mir würdeloser als Feigheit.
Der Parteivorstand verurteilt in seiner in höchst fragwürdigem Deutsch abgefassten Erklärung zwar die Angriffe auf Israel und die arabischen Massaker an jüdischen Kindern. Zugleich aber glaubt der Parteivorstand, Israel vor dem Einsatz des Militärs warnen zu müssen und relativiert den Genozid an den Juden mit dem Hinweis auf die Besatzungspolitik Israels, obwohl jeder halbwegs gebildete weiß, dass das israelische Militär Gaza schon vor fast 20 Jahren verlassen hat und die Lebensbedingungen der dortigen Bevölkerung in erster Linie auf die Diktatur des korrupten Hamas – Regimes zurückzuführen sind.
Die Forderung des Parteivorstands, die finanzielle Unterstützung der dortigen Behörden beizubehalten, wird begründet mit humanitären Erwägungen.
Dabei ist seit langem bekannt, dass mit den aus Europa fließenden Geldern Schulbücher gedruckt werden, in denen Juden als Kindermörder und Kannibalen dargestellt werden.
Jetzt ist Schluss.
Ich bin dieser Partei auch meines Vaters wegen beigetreten, der als Jude und Kommunist in Zeiten, als es um nichts anderes ging, als um den Kopf, für die sozialistische Utopie kämpfte.
Mit Schaudern würde sich mein Vater – lebte er noch – von diesem Parteivorstand und seinen feigen Erklärungen abwenden.
Und so tue auch ich es.
Wozu sollte ich in einer Partei verbleiben, die das Wort Sozialismus aus gutem Grund schon lange nicht mehr im Munde führt?
Die sich verloren hat in zänkischen Auseinandersetzungen zwischen tödlich verfeindeten Fraktionen.
„Die Linke“ ist eine Partei geworden, die keinen Mut mehr hat.
Die alles sein will, und fast nichts ist.
Ich habe dazu jahrelang geschwiegen, von einzelnen Wortmeldungen abgesehen.
Das kann man mir vorwerfen, und diesen Vorwurf muss ich mir wohl auch machen lassen.
Wer in dieser Zeit und im Angesicht von Hunderten geschändeter jüdischer Frauen und Kindern nicht entschlossen und ohne jedes wenn und aber an der Seite des jüdischen Staates steht, kann kein Sozialist sein.
Wer die arabischen Mörderbanden nicht als Todfeinde der sozialistischen Idee brandmarkt, hat jedes Recht verwirkt, sich auf Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu berufen.
Eine Organisation, die von Verfolgten des Naziregimes, also auch von meinem Vater, begründet wurde und den Beinamen „Bund der Antifaschisten“ im Namen führt, hatte kürzlich eine ähnliche Erklärung veröffentlicht, wie jetzt der Parteivorstand der Linken.
Die Vereinigung habe ich bereits verlassen.
Nach mehr als drei Jahrzehnten in der Partei ist das Maß jetzt voll.
Einer Partei, die Juden und Judenmörder gewissermaßen in einem Atemzug nennt, einer Partei, die Verhandlungen erwartet mit den Henkern jüdischer Kinder muss ich nicht angehören. Jeder hat seine Grenzen, dies ist meine Grenze.
An meinen Überzeugungen hat sich nichts geändert.
Was sich geändert hat, ist die Partei.
Ich fordere den Parteivorstand zur Rücknahme seiner Erklärung „Für ein Ende der Gewalt in Israel und Palästina“ auf, widrigenfalls ich die Partei verlassen werde.
Wie schwer mir das fiele, werden jene, die mich kennen, wissen.
Andrej Hermlin