Die Bearbeitung des Kunstfundes Gurlitt hat eine Reihe von Erkenntnissen zum Umgang mit Kunst in der NS-Zeit zutage gefördert. Das gewonnene Wissen zu Sammlern, Händlernetzwerken und den Kunstwerken und auch das Wissen über die Fallstricke und Lücken transparent zu machen, ist ein Anliegen des Buches. Es hat den Anspruch, den gegenwärtigen Stand der Forschung zu reflektieren und darüber hinaus in einzelnen Untersuchungen Aspekte zu beleuchten, die bisher nicht im Mittelpunkt standen. Außerdem will das Buch zu weiteren Forschungen anregen und helfen, offene Provenienzfragen zu einzelnen Werken zu klären.
Im ersten Essay gibt Andrea Baresel-Brand einen Überblick über die Provenienzrecherche Gurlitt und stellt Methoden und Ergebnisse vor. Außerdem werden die Gründe dargelegt, warum trotz intensiver Bemühungen die Provenienzen vieler Kunstwerke nicht abschließend aufgeklärt werden konnten. Die speziellen Bedingungen der Recherche ließen auch eine stringente wissenschaftliche Planung nicht zu. Danach geht Nadine Bahrmann auf Hinweise von Nummern und Listen als Wegweiser für die Recherche ein. Es zeigt sich, dass die Kunstwerke selbst entscheidende Informationsträger sind, mit deren Hilfe und in der Zusammenschau mit anderen Quellen ihre eigene Geschichte rekonstruiert werden kann. Lukas Bächer zeigt danach, wie wichtig der Handel mit serieller Grafik war und was bekannt ist über die Ursprünge von den grafischen Arbeiten im Kunstfund Gurlitt. Dabei geht er speziell auf die Lithografien von Honoré Doumier und Henri de Toulouse-Lautrec ein.
Johannes Gramlich nimmt danach unter besonderer Berücksichtigung des schriftlichen Gurlitt-Nachlasses Gurlitts Zeit in Frankreich in den Blick, skizziert seinen Weg dorthin und stellt seine Aktivitäten auf dem Pariser Markt vor. Außerdem geht er auf die Zahlungs- und Ausfuhrbedingungen im von Nazi-Deutschland besetzten Teil Frankreichs ein. Vanessa von Kolpinski skizziert die französischen Exportlizenzen als Quelle für Provenienzen aus dem Kunstfund Gurlitt. Die Exportlizenzen verzeichnen jeweils neben Informationen zu Antragsteller und Empfänger Daten zum Kunstwerk wie Künstler, Titel, Gewicht und Schätzpreis. Fast jedem Antrag wird eine Nummer zugeordnet, mit denen die Anträge innerhalb der unterschiedlichen behördlichen Geschäftsgänge zurückverfolgt werden können.
Britta Olenyi von Husen und Marcus Leifeld gehen danach auf die engen Verbindungen von Hildebrand Gurlitt und dem Kölner Wallraf-Richartz-Museum ein. Das Museum nutzte die militärische Besetzung der Niederlande und Frankreichs, um die Bestände des Hauses durch Erwerbungen zu erweitern. Dabei griff es insbesondere auf die Dienste von Gurlitt zurück. Vanessa von Kolpinski legt danach dar, wie es gelang, die verlorenen Objekte der Familie Deutsch de la Meurthe Werken aus dem „Konvolut Süddeutschland“ aus dem Kunstfund Gurlitt zuzuordnen. Ev-Isabel Raue zeigt die Erforschung der Provenienz anhand des Gemäldes von Gustave Courbets „Jean Journet“, das vor dem Kunstfund Gurlitt 2014 über hundert Jahre als verschollen galt. Die Provenienzrecherche zu „La Montagne Sainte-Victoire“ von Paul Cezanne wird von Jan Thomas Köhler dargestellt.
Nathalie Neumann verdeutlicht die Recherche bei Èdouard Manets Bild „Marine, temps d‘ orage“ und die Sammlung des japanischen Kunstliebhabers und Unternehmers Kojiro Matsukata französischer Malerei und Skulptur zur Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs. Pieter W. Kievet beleuchtet die geschäftlichen Aktivitäten von Hildebrand Gurlitt auf dem niederländischen Markt während des Zweiten Weltkriegs. Mit Hilfe von Primär- und Sekundärquellen verfolgt er die Kontakte des Kunsthändlers zurück und identifiziert die Kunstwerke, mit denen dieser gehandelt hat. Die Adressbücher Gurlitts bieten einen Überblick über seine Geschäftskontakte in den Niederlanden, darunter namhafte Kunsthändler der 1930er und 1940er Jahre. Sebastian Peters geht danach noch auf das Potential des Nachlasses von Gurlitt ein, das seine zahlreichen Verbindungen dokumentiert und auch eine Perspektive für die Kontextforschung zu Kunstraub und Kunstmarkt bietet. Er zeigt dies an seinen Verbindungen zum Kunsthistoriker-Ehepaar Albin und Charlotte von Prybram-Gladona und dem Kunsthändler Hans-Hellmut Kliehm. Peters weist nach, dass Gurlitt auch in der Nachkriegszeit auf bestehende Verbindungen zu Händlern, Sammlern und Fachleuten zurückgreifen konnte.
Im Anhang findet man noch ein Register, ein Abbildungsverzeichnis, ein Autorenverzeichnis und eine Liste beteiligter Wissenschaftler.
Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zur inhaltlichen Aufarbeitung der Sammlung Cornelius Gurlitts. Er zeigt die konkreten Ergebnisse aber auch die Grenzen der Aufarbeitung an vielen Beispielen. Und es zeigt, dass noch viel aufzuarbeiten ist über den Handel von NS-Raubgut während des „Dritten Reiches“ und in der Nachkriegszeit.
Andrea Baresel-Brand/Nadine Bahrmann/Gilbert Lupfer: Kunstfund Gurlitt. Wege der Forschung. Provenire. Schriftenreihe des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, De Gruyter, Berlin/Boston 2020, ISBN: 978-3-11-065813-2, 39,95 EURO (D)