Alt-Bundespräsident Joachim Gauck hat ein Buch über Toleranz geschrieben. In Zeiten von Fake News und Gegenaufklärung sieht er im toleranten Miteinander den einzigen Ausweg aus einer gespaltenen Gesellschaft.
Joachim Gauck ist so etwas wie der gefühlte Bundespräsident der Herzen – und dies über seine Amtszeit im Schloss Bellevue hinaus. Der im Osten sozialisierte Pastor war in der Reihe der deutschen Bundespräsidenten sicherlich einer, dem man mehr vertraute, dem man zuhörte, weil er anders als seine Vorgänger nicht Ökonom oder Jurist, sondern protestantischer Theologe war, also per Passion einer der Empathie hat, der Vertrauen stiftet, auf den man hört, dessen Stimme gewichtig ist.
Der Bundespräsident der Mitte
Der elfte Bundespräsident ist nie ein weichgespülter Bürokrat gewesen, erwuchs nicht der Parteielite, verbog sich nicht im Ränke- und Machtspiel, blieb eigenständig denkend, ein Mensch mit Gesundem Menschenverstand, der sich wie einst Thomas Paine die Menschenrechte auf die Charta geschrieben hat. Und es war immer wieder Gauck, der der eher taktisch und machtpolitisch agierenden Bundeskanzlerin Merkel Paroli bot. Gauck spricht aus, was er denkt – und er mischte sich immer wieder ein. Er verteufelte Thilo Sarrazin nicht als dieser verunglimpft wurde, er unterstützte Gerhard Schröders Agenda-Politik. Sich selbst nennt Gauck einen „linken, liberalen Konservativen“, einen „aufgeklärten Patrioten“, für den Freiheit nicht ein bloßes Lippenbekenntnis, sondern eine Liebhaberei ist, etwas, das angeht, das tief geht, das erstritten, erkämpft werden muss.
Im Unterschied zu einer Vielzahl seiner Politikkollegen war Gauck immer überparteilich, kein Nach- und Dampfplauderer. Worte, das weiß er, sind elementare Bausteine des Gewissens, moralischer Überzeugung und Strahlkraft. Und so hatte das Wort – wie in der ganzen Tradition des Protestantismus – bei ihm immer Gewicht. Worte sind in aller Bedächtigkeit zu wählen – das weiß keiner besser als Gauck. Aber wer offen spricht, läuft Gefahr missverstanden zu werden, droht schnell aus der Wohlfühlwärme des gesellschaftlichen Miteinanders in die Eiseskälte, Isoliertheit und Einsamkeit abgeschoben zu werden.
Statt Intoleranz mehr Toleranz
Diese Intoleranz, die Abstemplung, das perfide Unterjochen Andersdenkender bleibt ihm ein Gräuel – gerade in Zeiten von Fake News und in einer Gesellschaft, die sich immer mehr polarisiert, wo die Töne rauer, unverbindlicher und rigoroser geworden sind, wo die gegenaufklärerische Leugnung von Fakten zur Tagesordnung gehört, wo der politische Gegner nicht gehört, sondern nur allzu schnell mundtot gemacht wird, ja, wo die Dialogkultur zur Entfremdungskultur geworden ist. Wo der als Rassist oder rechtsradikal diskreditiert wird, der seine Meinung sagt, wenn er Diversität nicht als neue Leitkultur anerkennen will oder diese zumindest kritisch hinterfragt.
Diese neue Intoleranz, so der Befund, der unter dem Titel „Toleranz, Einfach schwer“ in Buchform nun vorliegt, treibt Gauck um. Sie ist es, die den Zeitgeist prägt, ihn versäuert und die den ehemaligen Bundespolitiker befremdet. Gauck dagegen setzt auf einen Diskurs in alle Schichten, auf einen vertikalen, der gerade denen eine Stimme gibt, die keine haben, den Wendeverlieren, denen, die kein Gehör finden, denen, die in Parallelgesellschaften vor sich hindümpeln, über die die Geschichte wie ein kalter Windstoß weht.
Der „Spiegel“ irrt
Unlängst titelte der Spiegel „Joachim Gauck will den Begriff rechts ‚entgiften’“ im Replik auf die Buchveröffentlichung. Doch diese Anklage aus dem divers-grünen Journalismus trifft Gauck keineswegs. Irritiert eher. Denn der ehemalige Bundespräsident ist keiner, der in einer auch nur denkbaren Form rechtsaußen steht. Vielmehr geht er in kritische Distanz zur AfD, straft den Rechtsextremismus als eine Kultur der Niveaulosen ab und sieht im perfiden politischen Rechtsfundamentalismus gerade das, was seiner eigenen demokratischen Idee zutiefst zuwiderläuft. Dennoch ergreift er Partei für jene, die dem grünen Zeitgeist diametral entgegenstehen, sucht nach den Ursachen des Ressentiments und findet diese nicht nur im Abgekoppeltsein. Was Gauck konkret beklagt, ist eine neue Intoleranz, die all jene zu ihren Feinden erklärt, die nicht derselben Meinung sind.
Wir brauchen eine neue Kultur des Miteinanders
In seinem neuen Buch „Toleranz“ heißt es dann auch: „In unserer politischen Landschaft und in unserem politischen Diskurs ist es zu einer Unwucht gekommen. Als inakzeptabel rechts werden gemeinhin schon diejenigen apostrophiert, die nicht anderes wollen, als an dem festhalten, was ihnen vertraut und bekannt ist: Konservative, die Gesetze über Abtreibung und die ‚Ehe für Alle‘ am liebsten rückgängig machen würden und das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare ablehnen. Menschen, die darauf verweisen, dass schwere Straftaten bei Teilen von Migranten überproportional zu ihrem Anteil an der Bevölkerung vertreten sind. Als inakzeptabel rechts gilt häufig schon, wer zu seiner Heimat eine besondere Verbundenheit empfindet und am Nationalstaat hängt.“ Gauck verwehrt sich in aller Radikalität gegen einen derartigen politischen Diskurs, der die Gleichung von konservativ und rechtsradikal, rassistisch oder nationalsozialistisch aufmacht. Denn wer sich zu Heimat und Nationalstaat bekennt, bleibt einer, der im Unterschied zum Radikalen, sei es zum islamischen Fundamentalisten, Links- sowie Rechtsextremisten, die Extreme meidet. Sein Weltbild ist nicht manichäisch auf Spaltung und Polarisierung angelegt, er hinterfragt nur kritisch, ob der Multikulturalismus tatsächlich alternativlos sei, ob er nicht zu viel Naivität und Toleranz gegenüber Intoleranten trägt, ob man fremde Kulturen, Sitten und Religionen tatsächlich ein- und ausschließlich nur als bereichernd definieren vermag, ob durch einen zügellosen Fortschritt das Gute befördert und das Schlechte gemieden wird. Wer hier Geltungsansprüche präferiert, indem er das Eigene zugunsten des Fremden, oder auch umgekehrt, verabsolutiert, gerät in Schieflage. Aber genau dieser gilt es zu entkommen, sie verfängt allein ins Negative. Die Forderung nach mehr Toleranz, nicht nur als Tugend, sondern zugleich als Gebot der politischen Vernunft, ist das, was Gauck allen Radikalen, allen Rattenfängern des Extremismus entgegenzustellen sucht, eine Toleranz die kämpferisch agiert – und weil sie den anderen in seiner Andersheit aushalten und respektieren soll, eben auch eine Zumutung sein muss. Und genau diese Zumutung, so sein Credo, müssen wir wieder lernen, denn sonst spaltet sich unsere Gesellschaft noch mehr und die Demokratie steht mehr denn je auf dem Spiel. „Toleranz ist nicht, Toleranz wird.“ Toleranz ist lernbar, setzt aber die Meinungsfreiheit voraus, die nicht nur von rechts, sondern eben auch von links derzeit bedroht wird.