Als „Konterrevolutionär“ ins Zuchthaus geworfen – Zum Tod Günter Zehms am 1. November

Günter Zehm

In den letzten Jahren vor seinem Tod erzählte er mehrmals davon, dass Freunde ihn bedrängt hätten, er sollte doch endlich seine Autobiografie schreiben, da er Aufschlussreiches zu berichten hätte über sein DDR-Leben, das im Januar 1961, nach drei Jahren politischer Haft, mit der Flucht nach Westberlin geendet hatte. Er war schließlich einer der Lieblingsschüler des Leipziger Philosophen Ernst Bloch (1885-1977) gewesen und war 1956 als Assistent an die Universität Jena versetzt worden, wo er seine Dissertation über marxistische Anthropologie schrieb und im Sommer 1956 Wolfgang Harich (1923-1995) traf. Der hatte eine Professur für Philosophie an der Ostberliner Humboldt-Universität inne und sammelte kritische Intellektuelle um sich mit dem Ziel, die stalinistische Clique um SED-Führer Walter Ulbricht auszuschalten. Günter Zehm, der erschüttert war über die Niederschlagung des Ungarnaufstandes im Herbst 1956 durch Sowjettruppen, wurde von der Staatssicherheit diesen „Konterrevolutionären“ um Wolfgang Harich zugerechnet, am 5. Juni 1957 verhaftet und zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Er saß in den Zuchthäusern Torgau und Waldheim, wurde im Dezember 1960 vorzeitig entlassen und floh nach Westberlin. Nach seiner Registrierung im Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde wurde er nach Frankfurt/Main ausgeflogen. Dort setzte er sein Studium bei Theodor Adorno, Iring Fetscher und Carlo Schmid fort und wurde mit einer Arbeit über Jean-Paul Sartre (1905-1980) promoviert.

Wir werden also, leider, auf seine Autobiografie, die Erhellungen gebracht hätte über sein außergewöhnliches DDR-Leben, verzichten müssen. Als Grund nannte er mir, und das ehrt ihn, er hätte dann seine Mitarbeit bei der „Jungen Freiheit“ einstellen müssen, das aber wollte er der Lesergemeinde der Wochenglosse „Pankraz“ nicht antun.

Noch 1961 hatte er in der Kölner Zeitschrift „SBZ-Archiv“ unter dem Titel „Weh dem, der denkt“ über seine Verurteilung vor dem Bezirksgericht Gera und ihre Hintergründe berichtet. In diesem Artikel erfuhr man dann auch, dass seine Leipziger Diplomarbeit von 1956, die mit der Note „summa cum laude“ beurteilt worden war, eingezogen worden war, weil er dort die Werke „imperialistischer Philosophen“ ausgewertet hatte. Sein eigenes Exemplar musste er damals dem „Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen“ einsenden, es ist bis heute nicht auffindbar! In der Erfurter SED-Zeitung konnte man am 21. Oktober 1957 über Günter Zehm lesen, er verbreite „in Wort und Schrift Verleumdungen über unsere Republik, gegen die Macht der Arbeiter und Bauern“ und übe „Zersetzungstätigkeit unter Wissenschaftlern und Studenten“ aus, die der „Vorbereitung staatverräterischer Handlungen“ dienten.

Und dann kam in der Nacht zum 13. August 1961 der Mauerbau in Berlin. Jetzt wurde ich doch unsicher, ob ich am 6. September zur Buchmesse nach Leipzig fahren sollte. In diesen drei Wochen bis zu meiner Abreise las ich wieder von Günter Zehm. In einem Leserbrief für die Hamburger Tageszeitung „Welt“ hatte er in anerkennenswert offener Weise zum Mauerbau Stellung bezogen. Dieser Leserbrief war eine Reaktion gewesen auf die Antwort des DDR-Schriftstellers Stephan Hermlin (1915-1997) an Günter Grass(1927-2015), der am 14. August 1961 in höchster Erregung an Anna Seghers (1900-1983), die Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbands, geschrieben hatte, um ihre Meinung zum Mauerbau zu erkunden. Sie hatte aber darauf nicht antworten können, weil sie nach Brasilien gereist war. An ihrer Stelle hatte Stephan Hermlin geantwortet. Günter Zehms Entgegnung ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Wie tief müssen er und Burschen seines Schlages gesunken sein, dass sie ohne Gewissensbisse und offensichtlich sogar mit penetranter Eitelkeit eine privilegierte Sonderexistenz in Anspruch nehmen, während um sie herum die Menschen geknechtet werden.“

Am 4. Und 5. September 1961 fuhr ich zweimal von Hanau, wo ich wohnte, nach Langen bei Frankfurt, um mich mit Günter Zehm über meine geplante Leipzig-Reise zu beraten. Als ich die Klingel, unter welcher der Name „Günter Albrecht Zehm“ stand, betätigte, kam ein Mitbewohner heraus und erklärte mir, Günter Zehm wäre noch zur Kur in Bad Hersfeld. Ich fuhr nach Leipzig, wurde am 9. September verhaftet und zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. In den Zuchthäusern Torgau und Waldheim traf ich Mitgefangene, die Günter Zehm noch kannten. Begegnet bin ich ihm dann erst 1976, im Jahr darauf, als ich promoviert war, stellte er mich als Redakteur ein.

Jahre später erzählte er mir die Geschichte aus dem Westberliner Studentenwohnheim „Siegmunds Hof“. Die Studenten dort hatten 1963 eine Lesereihe mit DDR-Schriftstellern arrangiert, um der „Entspannung“ zu dienen. Einer von ihnen, die da aus Ostberlin anreisten, war Rainer Kirsch (1934-2015), ein Jugendfreund Günter Zehms, der aber im Geraer Prozess 1957 als Belastungszeuge gegen ihn auftrat. Dafür war ihm Straffreiheit zugesichert worden, er musste nur „zur Bewährung in der Produktion“ arbeiten und durfte danach als unbescholtener Autor Gedichte veröffentlichen. Günter Zehm reiste im Auftrag seiner Zeitung nach Westberlin und saß bei der Dichterlesung unerkannt in der ersten Reihe. Nach der Lesung aufzustehen und seine Meinung über den Verrat des einstigen Freundes kundzutun, wäre nicht ratsam gewesen. Er wäre als „Entspannungsfeind“ niedergebrüllt worden.

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Über Jörg Bernhard Bilke 258 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.