faktisch nur derjenige leben, der durch zwei Bürgen im Schriftstellerverband aufgenommen worden war, ansonsten konnte jeder nach § 249 wegen asozialer Beeinträchtigung der öffent-lichen Ordnung und Sicherheit bestraft werden, wenn sich jemand „aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist“. Das konnte mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft werden. Lediglich der Liedermacher Wolf Biermann, gegen den 1965 ein Auftritts- und Publikationsverbot verhängt worden war, konnte sich in Ost-Berlin dank seines jüdischen Vaters, der im KZ Auschwitz ermordet worden war, und auch dank seines gewachsenen Bekanntheitsgrades, den er als kritischer Kommunist vor allem im Westen ge- noss, wo ausschließlich seine Schallplatten und Bücher erschienen, als Freiberufler im Osten der geteilten Hauptstadt Berlin gut über Wasser halten, zumal der SED-Staat an seinen Hono-raren profitabel mitverdiente, denn der zockte wie in der Regel auch bei anderen Autoren oder Künstlern, die Westgeld verdienten, 60 Prozent der harten Währungen ab, wofür sie dann nur die Alu-Chips[1] der „DDR“ ausgezahlt bekamen. Für 40 % des Resthonorars wurden ihnen zumeist Gutscheine ausgehändigt, die in extra eingerichteten Großstadt-Läden mit dem Na- men „Intershop“ gegen Westwaren, vor allem Genussmittel, technische Geräte und Textilien, eingetauscht werden durften.
Dass so ein Künstler wie Biermann von der Stasi rundum beobachtet wurde, dürfte klar gewe- sen sein. Aber was hatte ich an mir, dass sie sich so für mich interessierten, nachdem ich ihr Angebot, für sie zu spitzeln, abgelehnt hatte? Was ich damals nicht wusste und wissen durfte, war überraschend. Zwei hauptamtliche Stasi-Apostel der Leipziger Bezirksverwaltung (Linie XX) namens Meiler und Tzscheutschler erarbeiteten einen Maßnahmeplan „zur schwerpunkt- mäßigen Bearbeitung des verdächtigten Faust“:
- Aufklärung der familiären Verhältnisse des Faust. Schwerpunkt liegt dabei auf den Wohnverhältnissen zur Überprüfung der Einsatzmöglichkeiten der operativen Technik und der Durchführung einer konspirativen Durchsuchung.
- Aufklärung seines Wirkungskreises im Bezirk Dresden
a) Puschkin-Haus in Dresden, Zirkel unter Leitung Hasso Magers
b) In der Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren
- Einleitung einer Postkontrolle zur Feststellung seiner Verbindungen, besonders nach Leipzig
- Auswahl eines geeigneten IM zum Zwecke des Ansetzens an den Faust nach Ermitt-
lung der familiären Verhältnisse und des Wirkungskreises
- Durchführung einer Beobachtung des Faust
Zur Erledigung der Aufgaben setzten sie sich den Termin 1. April 1969. Ob keinem dieser Aprilscherz aufgefallen war? Mein geistiger Vater Goethe ließ mich zudem im 2. Teil seines Hauptwerkes sagen:
Doch im Erstarren such ich nicht mein Heil,
Das Schaudern ist der Menschheit bester Teil;
Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure,
Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure.
Es dauerte nicht lange, da meldete sich per Postkarte ein gewisser Hans Jürgen Hober zu Besuch an, den ich eigentlich nur oberflächlich kannte. Ich wusste nur, dass er Kulturwissen-schaft studierte. Ich schätzte ihn drei, vier Jahre älter als mich ein. Er hätte von den Ungerech- tigkeiten erfahren, die mir widerfahren seien… Wahrscheinlich würde ich mich an seinen Be-
such kaum erinnern, wenn ich nicht später seinen sechs Seiten langen Bericht hätte lesen können, der mit dem Satz beginnt:
Von dem Faust wurde ich sehr freundlich aufgenommen, man kann sagen, dass er sich über meinen Besuch freute.
Dann geht es darin sachlich weiter:
Faust bewohnt in Heidenau unter der angegebenen Adresse eine Dreizimmer-Altbau- wohnung zusammen mit seiner Frau und seinen drei Kindern (Jungen). Die Wohnung ist ein- fach bürgerlich eingerichtet. Er verfügt über eine ansehnliche Bibliothek. Dabei handelt es sich lediglich um DDR-Erzeugnisse, westliche Literatur konnte von mir nicht festgestellt wer- den.
Natürlich habe ich ihn bewirtet, während wir uns angeregt unterhielten, so dass er durchaus sachlich berichten konnte:
Er ist beschäftigungslos und hat auch nicht vor, vorläufig eine Tätigkeit aufzunehmen. Das begründet er damit, dass seine Frau, die berufstätig ist, auf Grund ihres Facharbeiter-briefes mehr verdienen kann als er und ohnehin einer der beiden die Kinder (alle unter dem schulpflichtigen Alter) beaufsichtigen muss. Er führt praktisch den ganzen Haushalt.
Bald ging es um das Eigentliche, obwohl er sich äußerst zurückhaltend verhielt:
Seine Gruppe in Leipzig, deren Existenz er noch einmal ausdrücklich bestätigte, be- zeichnet er als die „Zelle“. Bedingt durch die Zelle und seine Tätigkeit, müsse er monatlich mehrere Tage nach Leipzig kommen, „da man ja immer an den Brennpunkten arbeiten müs- se“. Wo sie zusammen kommen und was sie konkret tun, ist mir nicht bekannt. Ich befragte ihn auch nicht danach. Er teilte mir lediglich mit, dass man sich vorwiegend mit kulturpoliti- schen Problemen befasse.
Aus dem Bericht erfuhr ich noch, dass ihm meine Gedichte nicht gefielen. (Oje, das würde mich ja noch heute beleidigen, wenn sie ihm gefallen hätten!) Aber es kam noch schlimmer:
Er selbst zeigte mir einige Produkte seiner literarischen Arbeit, die er in den vergang- enen Tagen produziert hatte. Diese Werke sind auf keinen Fall möglich, dass sie einem DDR-Verlag angeboten werden können, da sie praktisch eine extreme Form der kulturpolitischen Hetze gegen unsere Regierung und Partei darstellen.
Ich hab‘ ja ein Ziel vor den Augen, sagte ich mir, da ich den Sozialismus ja vorerst noch im- mer nur verbessern, demokratisieren, vermenschlichen wollte wie jeder Idealist, der sich noch den Luxus leistete, an diese Alternative zum Kapitalismus zu glauben, den ich nur aus Lehr- büchern kannte.
Er muss in Leipzig sehr viele Bekannte haben, durch die Besuche ist er stark ausge- lastet. Er hat nicht die Absicht, ein Fern- oder Direktstudium aufzunehmen, da er zu der Auf- fassung gekommen ist, dass ein Studium an einer unserer Hochschulen genau so unbedeutend sei wie ein gesteuertes und ideologisch ausgerichtetes „Parteileben“.
Damals sagte ich mir noch trotzig, nachdem ich schon zweimal aus politischen Gründen von Hochschulen zwangsexmatrikuliert worden war: Ich werde hierbleiben und mich bescheiden und rötlich nähren, jedoch der Stalinisten erwehren. Ich werde das Tor zur Zukunft noch fin- den, werde es durchschreiten mit offenem Visier und den Aufbruch anzetteln. Allons! Der Weg ist vorgezeichnet. Walt Whitman, ich folge dir!
Mein Ruf ist Schlachtruf, ich schüre tätigen Aufruhr,
wer mit mir geht, muss wohlbewehrt gehen,
wer mit mir geht, geht oft mit kärglicher Kost,
mit Armut, grimmiger Feindschaft, Fahnenflucht.
Aktuell war damals, dass sich am 16. Januar 1969 in der Hauptstadt des sozialistischen Bru- derlandes ČSSR der Student Jan Palach auf dem Prager Wenzelsplatz öffentlich verbrannt hatte. In einer abgestellten Tasche Palachs fanden Polizisten ein handschriftlich verfasstes Schreiben, in dem es hieß:
In Anbetracht dessen, dass sich unsere Völker am Rande der totalen Hoffnungslosig-keit befinden, haben wir beschlossen, unseren Protest zu erheben und das Volk dieses Landes wachzurütteln.
Hober, der sich als inoffizieller Stasi-Mitarbeiter den Decknamen „Streit“ ausgesucht hatte, berichtete weiter:
Die versuchten Selbstverbrennungen in der ČSSR hält er für ein Symptom der patri- otisch und freiheitlich gesinnten tschechoslowakischen Nation. Das sei der mögliche und wir- kungsvolle Widerstand gegen die sowjetische Unterdrückung.
Um das Kapitel IM „Streit“ abschließen zu können, hätte ich gern gewusst, was aus Hober ge- worden ist, doch er ist spurlos verschwunden, hat keine Spur hinterlassen.
Immerhin leistete er Vorarbeit für die Stasi-Offiziere Lühr und Tinneberg, die einen erneuten „Maßnahmeplan“ erarbeiteten. Nun sollten zwei Damen gegen mich ins Spiel gebracht wer- den, die bisher noch keine Verbindung zu mir unterhielten. Doch die inoffiziellen Stasi-Da- men durften untereinander nichts über die ihnen zugedachten Rollen erfahren, während IM „Streit“ aus der aktiven Bearbeitung des F. herausgelöst werden musste, da er sich am Institut für Kulturtheorie unter den Studenten seines Studienjahres sowie gegenüber dem Dozenten Letsch und dem IM „Thomas“ dekonspiriert hatte.
Ach! Wollte er aussteigen, hatte er die Nase voll? Hat ihm der „Prager Frühling“ ebenfalls aus dem Gleichgewicht gebracht? Schade, dass ich ihn nicht befragen kann.
Doch eine letzte Aufgabe hatte ihm die Stasi-Obrigkeit noch zugetraut. Er sollte die beiden Frauen IM „Grit“ und IM „Therval“ in mein Leben einfädeln. „Grit“ wurde von ihren Führ- ungsoffizieren bescheinigt, dass sie einen umfangreichen Kontaktkreis unter Leipziger Kultur- schaffenden habe, die für mich interessant sein könnte. Außerdem verfüge sie über literatur- theoretische Kenntnisse und sei im Besitz interessanter Westliteratur (für Faust). Des Weiter- en besäße sie die Möglichkeit der finanziellen Unterstützung des Faust durch Scheinauftrag unter Ausnutzung der beruflichen Tätigkeit des IM beim Kulturbund Leipzig. Und nicht zu- letzt verfügte sie über operative Erfahrung. Der einst ebenfalls scharf überwachte Schriftstel-ler Erich Loest (1926-2013) kannte diese Dame genau und offenbarte mir auch ihren Klarna-men.
Wenn es Hober gelungen wäre, mir „Grit“ nahe zu bringen, sollte sie mir gegenüber eine Grundhaltung der Identifikation mit den Liberalisierungstendenzen in der ČSSR einnehmen. Soso. Aus dieser Grundhaltung, so das Kalkül der Stasi, würden sich weitere Gemeinsam- keiten entwickeln, schließlich sollte sie mir ja noch Westliteratur ausleihen, ohne jedoch eine bestimmte Richtung oder Beeinflussung erkennen zu lassen. Besonders sollte sie meine Sym- pathie für Hans Magnus Enzensberger (*1929) beachten. Sobald sie über meine derzeitigen Lebensverhältnisse informiert sei, sollte sie mir die Möglichkeit einer finanziellen Unterstütz- ung durch einen Auftrag zum 20. Jahrestag der DDR anbieten. Denn, so schlussfolgerten ihre Auftraggeber, sie könne ja unter Ausnutzung ihrer Position einen Scheinauftrag erteilen, der vom MfS bezahlt werden muss, da sich die IM sonst kompromittiert.
Am Ende sollte sie sich gar an meiner auf der Bootslesung versprochenen „Manifest“-Ausar- beitung beteiligen, indem sie eine kritisch-ironische, den Erfolg bezweifelnde Haltung einzu-nehmen habe. Damit nichts schieflaufen kann, wurde auch beschlossen, zur Kontrolle über die Einhaltung dieser Verhaltenslinie wird in der Wohnung des IM „Grit“ die operative Technik B zum Einsatz gebracht. Es sollten also Abhörgerätschaften in ihre Wohnung einge- baut werden. Was nur Sinn ergibt, dass wir Gespräche in ihrer Wohnung führen. Vielleicht sogar mehr?
Dem armen Hober wurde sogar noch eine delikatere Aufgabe zuteil, denn er sollte seinen bereits bestehenden Kontakt zu der ebenfalls im inoffiziellen Dienst stehenden Kommilitonin IM „Therval“ festigen, um sie mit mir bekanntmachen zu können. Wörtlich: Als Zielstellung wird ihm die Aufgabe gestellt, ein intimes Verhältnis zwischen Faust und „Therval“ zu ver- mitteln, um damit kompromittierendes Material gegen Faust vorzubereiten. Einen Termin hatten die satanischen Planer auch schon gesetzt; es sollte der 28. Februar 1969 sein. Für die Stasi-Hilfskraft „Therval“ war folgende Verhaltenslinie festgelegt worden:
- Die Bindung des IM am Verdächtigen wird vordergründig auf dem erotischen Interesse aufgebaut (entspricht dem Auftrag des IM „Streit“).
- „Therval“ wird sich dem Faust gegenüber durch ihre Verbindung zu den westdeu-
tschen Verlagen Luchterhand und Suhrkamp, durch ihre Kontakte zu Studenten der Sektion Kulturtheorie und durch ihre eigene Beschäftigung mit Lyrik interes- sant machen. Darauf aufbauend soll sie Informationen entsprechend der Aufgab-enstellung erarbeiten und im wesentlichen zur Überprüfung und Ergänzung der durch IM „Grit“ erarbeiteten Hinweise genutzt werden.
Den Akten zufolge soll IM „Therval“ eine attraktive Frau gewesen sein. Langsam schwappte der Slogan „Omas Ehe ist tot!“über Enzensbergers „Kursbuch“ auch in den mitteldeutschen Raum über. Alles Gute kam immer aus dem Westen, wo der strenge Klassenkampf-Marxis- mus längst durch den raffinierteren Kulturmarxismus ersetzt worden war. Soll heißen, der Plan der Stasi-Obristen hätte durchaus aufgehen müssen, können, dürfen. Aber!
Wieso kann ich mich weder an „Grit“ noch an „Therval“ erinnern? Wieso kann ich sie nicht eingliedern in die Reihe meiner amourösen Abenteuer? Ein trockener Satz des Leutnants Tin- neberg in einer der vielen Akten erlöste mich von dem Verdacht, unter Alzheimer zu leiden:
Der Gesundheitszustand des IM ist auf dem Wege der Besserung.
Da „Therval“ sich das Bein gebrochen hatte und so eines ihrer schönen Beine vergipst werden musste, fiel sie an der Sexfront vorübergehend aus.
Was sang schon der Edelkommunist Bertolt Brecht in einer seiner besten Balladen?
Ja, mach nur einen Plan! / Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch’nen zweiten Plan / Gehn tun sie beide nicht…
[1] Münzen aus Leichtmetall