Als ein Thüringer Landtag letztmals der stärksten Fraktion den Parlamentspräsidenten verweigerte Dienstag, der 7. Januar 1930. Ein parlamentsgeschichtliches Kalenderblatt

Fünfter Landtag von Thüringen Quelle: Thüringer Landtag

Ein parlamentsgeschichtliches Kalenderblatt:
Dienstag, der 7. Januar 1930. Konstituierende Sitzung des 5. Thüringer Landtags. Letztmals verweigerte in Thüringen ein demokratisch gewählter Landtag der stärksten Fraktion das Recht, den Parlamentspräsidenten zu stellen.
Ein nachempfundener Korrespondentenbericht auf Basis des Plenarprotokolls.

Eklat im Thüringer Landtag. NSDAP erzwingt Bruch parlamentarischer Gepflogenheiten
August Frölich: „Vergewaltigung“ bei der Wahl des Landtagspräsidenten

Weimar – Zu einem Eklat kam es heute in der konstituierenden Sitzung des 5. Thüringer Landtags in Weimar. Die von den bürgerlichen Parteien und der NSDAP gebildete Regierungskoalition verweigerte der SPD als stärkster Fraktion das Recht, den Landtagspräsidenten zu stellen und wählte stattdessen Ernst von Thümmel (Landbundliste). Nach einer von der SPD beantragten Sitzungsunterbrechung sprach deren Abgeordneter August Frölich von einer „Vergewaltigung, die wir bei der Wahl des Präsidenten zu verzeichnen gehabt haben“. Eigentlicher Grund des Affronts war die Weigerung der NSDAP, einen Sozialdemokraten zu wählen. Von diesem Zugeständnis hatten die Nationalsozialisten ihre Regierungsbeteiligung abhängig gemacht. Auch die KPD versagte dem von der SPD vorgeschlagenen Hermann Leber ihre Unterstützung. Sie könne „keinem Sozialfaschisten als Landtagspräsidenten ihre Stimme geben“.

Der Vorgang ist ein neuerlicher Beleg für die Unversöhnlichkeit, die politische Debatten Thüringens seit der Bildung des Landes 1920 bestimmt und die sich auch im Parlament und im wiederholten Streit um das Präsidenten niederschlug. Zuletzt hatte der Landtag sich allerdings an die übliche parlamentarische Gepflogenheit gehalten. In den neuen, am 8. Dezember 1929 gewählten Landtag entsenden neun Parteien Abgeordnete. Bei einer hohen Wahlbeteiligung von knapp 75 Prozent setzten sich die Sozialdemokraten mit 32,3 Prozent als stärkste Kraft klar durch. Das neue Staatsministerium werden unter Führung Erwin Baums vom Thüringer Landbund (TLB) jedoch vier dem bürgerlichen Lager zugerechnete Parteien und die NSDAP bilden. Mit dem Innen- und Volksbildungsressort erhalten die Nationalsozialisten großen Einfluss in dieser Regierung.

Die bürgerlichen Parteien schienen zunächst nicht beabsichtigt zu haben, das Recht der SPD auf den Landtagspräsidenten in Frage zu stellen. Die Schlussfolgerung legt zumindest ein Wortwechsel zwischen Frölich und dem Wirtschaftspartei-Abgeordneten Louis Krause während der konstituierenden Sitzung nah. Für die NSDAP beharrte Fritz Sauckel jedoch auf „eine klare Scheidung der Geister“, so wörtlich vor dem Plenum. Es half der SPD daher nichts, dass sie mit Hermann Leber einen langjährigen Parlamentarier mit Erfahrung im Präsidentenamt aufbot, der an diesem denkwürdigen Tag zugleich als Alterspräsident fungierte. Frölich hatte bei der Nominierung Lebers noch einmal ausdrücklich vor dem absehbaren Verstoß „gegen den Brauch in allen übrigen Parlamenten“ gewarnt.

Wenigstens dem über die eigenen Reihen hinaus anerkannten Baum dürfte das Thema unangenehm sein. Er enthielt sich bei der Nominierung von Thümmels weiterer Ausführungen. Jedwedes Verständnis für die parlamentarischen Gepflogenheiten ließen bereits in ihrer Rhetorik die radikalen Ränder vermissen, wenn etwa der KPD-Abgeordnete Fritz Heilmann davon sprach, seine Fraktion werde „selbstverständlich nie einem bürgerlichen Präsidenten ihre Stimme geben“, und überdies mit wüsten Ausfällen über die SPD herzog. Der kündigte auch Sauckel von der anderen Seite „in diesem Hause unseren grundsätzlichen Kampf bis aufs Messer an“. Die zunehmend radikalen Töne und Missachtung parlamentarischer Regeln lassen Beobachter nichts Gutes ahnen.

(Protokoll der Sitzung)
Literatur: Leimbach, Timo: Landtag von Thüringen 1919/20-1933 (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düsseldorf 2016, S. 195ff und 372 f.)

Über Karl-Eckhard Hahn 24 Artikel
Karl-Eckhard Hahn, Dr. phil., Jahrgang 1960, verheiratet, vier Kinder. Historiker und Publizist; Leitender Ministerialrat a.D. Mitgliedschaften (Auswahl): Landesvorstand des Evangelischen Arbeitskreises der CDU Thüringen, Vorstand der Deutschen Gildenschaft, Historische Kommission für Thüringen, Ortsteilrat Stotternheim, Gemeindekirchenrat der Evangelischen Kirchengemeinde St. Peter & Paul in Stotternheim. Veröffentlichungen zu politischen Grundsatzfragen, Themen der Landespolitik und Landesgeschichte Thüringens und zur Stotternheimer Lokalgeschichte. X: @KE_Hahn.