Der Dnepr ist von alters her eine Trennlinie, die die lateinisch-orthodoxe Lebensform (in Religion und alltagspolitischenUmgangsformen) von der slawisch-orthodoxen unterscheidbar macht. – Die extremistischen Verkehrsformen unter- und miteinander und natürlich mit denen, die sie jeweils als ihre Feinde betrachten, macht uns, auch fernab davon Angst, wenn wie hier seit Monaten der Landfrieden gebrochen wird. Das liegt auch daran, dass uns deren Leidens- und Überlebensgeschichten (zumal der letzten neunzig Jahre) immer noch sehr fremd sind. – Man sollte auch nicht gleich das große Tribunal der ‚Geopolitik‘ anklägerisch bemühen, – vor dem dann zudem auch nur der große Verlierer beschämt und sanktioniert wird. Man brauchte wahrscheinlich nur mal einen Moment die politische Alltags- und Scharmützelebene zunächst beiseite zu lassen, um einen Sinnfür das (für uns!) vielfach paradoxe Geschehen dort zu entwickeln. Ohne einen Gedanken an ,völkerpsychologische‘ Dämonologien zu verschwenden, sollte doch der Sinn für so etwas wie einen ‚Volksgeist‘ (Hegel) bemüht werden können, um jedenfalls die Differenzen zu den gerade kurrenten (massenmedialen) Ängsten, Vorlieben und Vormundschaftlichkeiten ‚im Westen‘ namhaft und evaluierbar machen zu können. – Dass die dort z.B. immer schnell bereit sind ‚aus-dem-Volk-heraus‘ sog. ‚Räte‘, ‚Sotnien‘ [=Hundertschaften] oder ‚Sektoren‘ zu bilden, die den europäisch gewohnt parteiförmigen Repräsentationsformen vorgeschaltet werden (in Kiew: ohne Zustimmung des Majdan keine parlamentarische Abordnung; in Donezk: ‚Volksrepubliken‘ substituieren den herkömmlichen Staat), erscheint uns hier sehr vormodern, ist aber als historisch lange Gewohnheit zu vermuten (und nicht hämisch als fremdes Oktroy abzutun). Das ‚gegen-die-in-Kiew‘ hat hier – bei den ‚Linksufrigen‘ – nämlich eine spezielle Tradition, als Erinnerung z. B. an Väterchen Nestor Machno, der hier schon einmal, mitten im russischen Bürgerkrieg, etwas ähnlich politisch ‚Schräges‘, ‚Drittes‘ (gegen ‚Weiß‘ und ‚Rot‘) in seinen polit-zirzensischen (und blutigen!) Auftritten damals vorgeführt hatte, bei dem alles was ’Staat’, ‚Ordnung‘ oder ‚Recht‘ hieß, beiseite gelassen und verlacht geworden ist. – Diese renitenten Gemeinschaften hier sind allerdings nicht einfach mittotalitären Bewegungen wie ‚Faschismus‘, ‚Nationalsozialismus‘ oder ‚Kommunismus‘ zu identifizieren, denn in diesen – europäischen – institutionellen Gewaltkulturen ist die Dominanz des Staates schlechthin entscheidend.
Und nicht zu vergessen: Als ‚Urbild‘ – ja als Pathosformel – für das, was rund um den Don als Selbstbewußtsein gilt, ist immer exemplarisch auf ein Gemälde (von Repin 1891) zu verweisen, das die Saporosher Kosaken beim Briefschreiben (an den türkischen Sultan) zeigt …
Hier ging und geht es nämlich mentalitätspolitisch immer um, mit einem ‚westlichen‘ Wort gesagt, eventproduzierte Stimmungslagen der Gemeinschaft, die uns, wenn wir sie beobachten, fast popkulturell, krawall- ja sogar pogromförmig erscheinen, – es geht eben nicht um ‚westliche‘ Wahlkultur, also nicht um ein von Advokaten überprüfbares, nach der größten Zahl orientiertes, gerichtsfestesRegelwerk, um dann (immer wieder dieselben) Politikergruppen zu mandatieren. – Aber: Diese Andersartigkeit irritiert uns keineswegs immer: Was einmal in einer Moskauer Kirche drei Mädels (zum Entzücken ‚des Westens‘!) – Pussy Riot – vorgeführt hatten, das wird dort am Don heute gewissermaßen als neue Volksunterhaltung in der breiten Masse zelebriert: der Grotesktanz auf den Heiligtümern der westlichen Staats- und Zivilreligion.
Aber etwas tragen beide Seiten dort doch (wider Willen?) zur Bereicherung der europäischen Kultur bei: in der Dynamik ihrer jeweiligen ‚völkischen‘ Selbstbestimmung befeuern beide Lager in der Ukraine das kostbare Gut der (Selbst)Ironie, – so wenn beide Seiten in ihren gegenseitigen Vorwürfen den performativen Selbstwiderspruch zum Königsweg der Kampf-Rhetorik erheben, und es nicht merken …
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