Herr Henkel, Sie haben einmal gesagt, dass die AfD zu Anfang eine Professorenpartei war. Vielleicht können Professoren einfach keine Politik.
Man könnte im Umkehrschluss aber auch sagen, dass die Politik für die Ergebnisse der Wissenschaft nicht zugänglich ist. Beides ist, wenn es denn überhaupt so ist, trotzdem falsch, und man sollte sich bemühen, dies zu ändern.
Ich kann hier im Europäischen Parlament durchaus feststellen, dass die fünf Abgeordneten der Liberal-Konservativen Reformer einen sehr guten Eindruck machen. Und zwar auf alle Parteien, die nicht gerade rechts von uns stehen, sondern mehr in der Mitte, oder sogar links angesiedelt sind. Man ist nicht immer unserer Meinung, aber man akzeptiert unsere Kompetenz, und auch hier im Europaparlament haben wir den Ruf, dass wir unsere Arbeit sehr ernst nehmen. Bernd Kölmel repräsentiert die EKR-Fraktion, die ja immerhin die drittgrößte ist, eloquent und kompetent in Sachen, die das Budget betreffen. Ulrike Trebesius ist die Stimme der Vernunft im Ausschuss, der sich um Arbeits- und Sozialpolitik kümmert. Professor Bernd Lucke ist im Ausschuss für Wirtschaft und Währung und hat gerade ein ganz wichtiges Dossier als Berichterstatter für das gesamte Parlament übernommen und Professor Joachim Starbatty ist die Stimme für die Soziale Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards und Friedrich von Hayeks und mit seinen Redebeiträgen unersetzlich. Ich merke, dass wenn er das Wort ergreift, im Parlament sofort Ruhe einkehrt. Das ist bei den wenigsten der Fall.
Jetzt haben Sie sich außen vorgelassen.
Ich habe mich in den letzten Monaten auf ein besonderes Thema konzentriert, dass mich umtreibt: Der Brexit, den ich für eine absolute Katastrophe halte. Und zwar nicht nur für Großbritannien, darüber redet ja jeder hier im Parlament. Sondern eben auch für die Europäische Union. Und darüber redet hier niemand. Alles meint, das sei ein Problem, dass nur durch die Briten verursacht ist und nur die Briten würden darunter leiden. Beides ist falsch. Ich habe hier in meinen unzähligen Reden darauf hingewiesen, dass die Europäische Union einen großen Anteil am Brexit hat, denn die Briten sind nicht in einen Golfclub eingetreten, sondern in einen Fußballclub, dessen Management beschlossen hat, lieber Golf zu spielen. Da steht die Frage im Raum, wer hier wen verlassen hat. Die Briten sind in ein subsidiäres Europa eingetreten und nicht in die Vereinigten Staaten von Europa. Der zweite Grund, weshalb die Europäische Union und insbesondere Frau Merkel Schuld am Brexit haben, hängt mit der Flüchtlingspolitik zusammen. Ich habe hier und in London mit vielen Remainern und Brexiteers gesprochen, kürzlich auch mit Theresa May, mehrfach mit Brexit Minister David Davies, Schatzkanzler Phillip Hammond, mit prominenten Konservativen wie dem Abgeordneten Dominic Grieve, der die Rebellengruppe im Unterhaus anführt, die den Brexit verhindern wollen, oder auch Nick Clegg, den ehemaligen Vizepremierminister, der eine führende Rolle bei den Remainers spielt. Alle sagen mir eines: wenn Frau Merkel und Herr Junker beim Thema Zuwanderung Herrn Cameron auch nur etwas entgegengekommen wären, ihm die Möglichkeit einer Notbremse bei der Einwanderung gegeben hätten, wäre der Brexit nie passiert. Selbst Nigel Farage hat mir gesagt, dass er am Tag des Referendums abends um zehn Uhr mit der Meinung ins Bett gegangen ist, er habe verloren.
Von dem sehr guten Eindruck, den Sie da erwähnen, sieht man für Ihre Partei allerdings nichts in den Umfragen.
Das ist auch eine große Enttäuschung für uns, das haben wir uns anders vorgestellt. Es sah auch am Anfang anders aus. Im Sommer 2015, als Bernd Lucke, Joachim Starbatty, Bernd Kölmel, Ulrike Trebesius und ich sowie Abgeordnete aus den Länder- und Kommunalparlamenten die Partei unter dem Absingen schmutziger Lieder verlassen haben. Insgesamt sind damals wohl 6.000 Mitglieder ausgetreten, da sie über den Rechtsruck empört waren.
Und was passierte dann?
Als wir unsere neue Partei gründeten, gingen wir davon aus, dass die Medien uns als eine Art anständige Alternative wahrnehmen würden, im Gegensatz zur unanständig gewordenen AfD. Nachdem wir ausgetreten waren, rutschte die AfD im August 2015 tatsächlich auch wieder unter die Fünf-Prozent-Hürde. Zu der Zeit gab es keine Zeitung, keine Zeitschrift, kein Umfrageinstitut, das nicht gesagt hätte, dass die AfD jetzt erledigt sei. Ich bekam die ersten Anrufe und Bewerbungen von Beschäftigten der AfD Zentrale die darüber sauer waren, dass sich Petry und Pretzell die Partei unter den Nagel gerissen haben, die diese ewigen Schmutzeleien der Herren Poggenburg, Höcke und Gauland nicht mehr ertragen wollten. Die wollten nicht mehr bei der AfD bleiben, die wollten damals zu uns. Während ich mir diese Bewerbungen noch ansah, kam der 4. September 2015. Das war das Öffnen der Schleusen von Frau Merkel, damit war das Schicksal unserer Partei besiegelt. Denn ohne, dass die AfD irgendwas tun musste, hatte sich die Bevölkerung dieser Partei zugewandt, die aus ihrer Sicht die einzige Partei war, welche die Asylpolitik kritisierte, obwohl auch wir diese Politik kritisierten – aber eben nicht undifferenziert und reißerisch und somit medienwirksam. Gauland sagte, und da muss ich ihm ausnahmsweise einmal Recht geben, „das ist ein Geschenk für die AFD“, und das war es.
Wenn man heute mal die Flüchtlingspolitik ansieht und nicht nur über die direkten Kollateralschäden berichtet, wie es die Presse inzwischen gerne und dauernd macht, dann stellt man fest, dass es jetzt einen Graben in der EU gibt. Wir erleben es jeden Tag hier im Parlament. Es sind ja nicht nur Ungarn und Polen, die gegen diese Politik sind, auch Dänemark und Österreich und jetzt auch Italien haben die Schotten dichtgemacht. Frankreich hat ebenfalls wenige Flüchtlinge aufgenommen, die sitzen doch alle noch in Deutschland. Neben dem Brexit und der Spaltung Europas ist ein weiteres Nebenprodukt dieser Politik, dass wir heute mehr als 90 AfD Abgeordnete im Deutschen Bundestag haben. Auch das ist Frau Merkel vor die Füße zu legen als Resultat ihrer Politik. Deshalb sollten sich die Journalisten nicht nur mit unserer Verantwortung auseinandersetzen, die wir für die Gründung einer ganz anderen Partei hatten, sondern mal damit, wer die Verantwortung dafür trägt, dass diese Partei, die schon am Boden lag, plötzlich wieder aufgerichtet wurde.
Zur Bundestagswahl sind sie dann gar nicht erst angetreten.
Nein.
Das klang bei der Vorstellung Ihres gemeinsamen Buches mit Herrn Starbatty anders. Damals hatte sich Herr Lucke zum Spitzenkandidaten ausgerufen.
Sie haben völlig Recht, und das habe ich ja gerade beschrieben. Unsere Hoffnung war, dass die Medien erkennen, dass es einen legitimen Platz für eine Partei gibt, die eine andere Euro- und Europapolitik verfolgt, ohne dass sie ausländerfeindlich oder rassistisch ist. Das war eine Enttäuschung und eine falsche Einschätzung unsererseits. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, unser Pulver nicht bei der Bundestagswahl zu verschießen.
Oder waren die Ergebnisse von zwei zuvor stattgefundenen Landtagswahlen zu ernüchternd?
Richtig! Wir haben bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und im Saarland festgestellt, dass als uns potentielle Wähler, die mit uns sympathisieren auch deswegen letztlich nicht gewählt haben, weil sie meinten, dass wir die Fünf-Prozent-Hürde gar nicht erst schaffen. Also wählten sie gar nicht, oder jemanden anderen. Wir befanden uns in einem Teufelskreis.
Werden die LKR bei den kommenden Europawahlen antreten?
Natürlich, denn da gibt es keine Fünf-Prozent-Hürde. Und wir sind wirklich froh, dass wir die anderen beiden Typen, die damals mit uns ins Europäische Parlament eingezogen sind, Frau von Storch und Herr Pretzell, losgeworden sind. Ich muss Ihnen sagen: das war nicht einfach. Denn es ist extrem selten, dass eine Fraktion Mitglieder herausschmeißt. Die überwältigende Mehrheit meiner Fraktionskollegen war aber der Meinung, dass diese beiden unerträglich für das Erscheinungsbild der EKR geworden sind. Es war nicht nur ein wichtiger Selbstreinigungs- und Abgrenzungsprozess, sondern auch die Möglichkeit, einmal öffentlich darzustellen, wo die hingehören: an den extrem rechten Rand, und dort sitzen sie jetzt auch.
Keine Bedenken auch hier Schiffbruch zu erleiden?
Nein, weil diesmal keine Stimme für uns verloren ist und jede Stimme zählt. Erinnern wir uns an Ende 2013. Damals war auch die alte AfD nach verlorener Bundestagswahl abgeschrieben und erst der Hinweis darauf, dass die Stimme für die AfD bei der Europawahl nicht verloren ist, da wir auch mit drei Prozent drei Mandate erringen würden, hat dafür gesorgt, dass wir die Zweifel am Erfolg ausräumen könnten und dann schlussendlich mit sieben Abgeordneten ins Europaparlament einzogen. Mit dem erneuten Einzug ins Parlament rechnen wir deshalb auch als „LKR – die Eurokritiker“, bei der Europawahl 2019.
Die Bundesregierung unternimmt gerade sehr viel dafür, dass es wieder eine Eintrittsbarriere gibt.
Das ist eine ziemliche Schweinerei. Das Bundesverfassungsgericht hatte gute Gründe dafür gehabt, dass es damals diese Drei-Prozent-Hürde für die Europawahl gekippt hat. Hier sieht man das Interesse der CDU und auch den Einfluss, den diese Partei hat. Demnächst wird das Europäische Parlament darüber abstimmen, und es kann durchaus sein, dass es eine Mehrheit für die Einführung einer solchen Klausel zwischen zwei und fünf Prozent für 2024, nicht aber für 2019, gibt. Das Interessante ist, dass diese Grenze praktisch kein anderes Land als Deutschland betrifft. Das ist den deutschen Wählern gar nicht klar. Auch hier muss ich wieder die Medien kritisieren. Wenn Sie beispielsweise in Luxemburg ein Mandat haben wollen, dann benötigen sie 15 Prozent. Eine Fünf-Prozent-Klausel ist dort also völlig irrelevant. In den anderen größeren Ländern gibt es schon Parteien, die weit über diese Hürde hinweg sind. Faktisch betrifft es also nur Deutschland. Hier kann man wieder sehen, wie das Monopol der SPD und CDU, der großen Koalition, funktioniert: Sie wollen die kleinen Parteien einfach nicht haben, da sie auch deren Pöstchen noch gerne hätten. Einige dieser kleinen Parteien, die unter der Drei-Prozent-Hürde hereingekommen sind, mögen als unseriös gelten, aber für die Mehrheit trifft dies gar nicht zu. Interessant ist ein anderer Aspekt. Stellen Sie sich vor es käme eine Fünf-Prozent-Klausel. Was meinen Sie, was mit der CSU beim nächsten Mal los wäre. Die könnte es möglicherweise auch nicht schaffen. Bei der letzten Europawahl kam sie lediglich auf 6,3 Prozent.
Aktuell macht es den Eindruck, als würde Martin Sonneborn von DIE PARTEI am stärksten gegen die Einführung der Hürde kämpfen.
Er wird immer wieder als Beispiel dafür genommen, dass man mit kleinen Parteien aufräumen sollte. Nach meiner Meinung ist es das falsche Rezept. Während der zwölf Jahre, die ich in Frankreich gelebt habe, hat ein Komiker auch schon mal über zehn Prozent bei den Präsidentschaftswahlen bekommen. Auch das gehört nach meiner Meinung zur lebendigen Demokratie. Wobei der Humor von Herrn Sonneborn Niveau hat. Hier versucht sich ja der ein oder andere Abgeordnete an Humor, aber ich muss Ihnen sagen, das ist vor allem bei den deutschen Abgeordneten jedesmal dann eine verunglückte Vorstellung. Auch erfüllt er hier einen durchaus konstruktiven Zweck, weil er vielen Abgeordneten den Spiegel vorhält. Auch einen Till Eulenspiegel möchte ich in der deutschen Literatur nicht missen.
Wahrscheinlich für Herrn Sonneborn ein Lob aus ungeahnter Ecke.
Richtig.
Werden Sie eigentlich noch einmal antreten?
Ja, selbstverständlich.
Weshalb tun Sie sich das denn nochmal an?
Es sind in erster Linie drei Gründe. Erstens war ich mein Leben lang nie in der Politik, war vorher nie in einer Partei. Ich habe aber jetzt das Gefühl, dass ich das ein oder andere verhindern kann. Zu sagen, dass ich etwas bewirken kann, ist vielleicht zu anspruchsvoll. Ich bin heute Schattenberichterstatter für Themen, welche die deutsche Industrie betreffen, ob das beim Diesel-Untersuchungsausschuss der Fall war oder jetzt bei der erneuerbaren Energie-Direktive II, das ein oder andere konnte ich dabei mit Sicherheit verhindern. Zurzeit arbeite ich als Schattenberichterstatter zum Thema EURATOM und als Berichterstatter für das Thema selbstfahrendes Auto, Dinge, die die deutsche Industrie sehr stark betreffen, und hier bringe ich meine Erfahrung und ich hoffe einen Schuss gesunden Menschenverstand ein.
Aufklärung ist der zweite wichtige Grund. Allzuoft verschreiben Politiker eine Therapie ohne vorher eine Diagnose zu erstellen. Als stellvertretender Vorsitzender des Industrieausschusses konnte ich an der einen oder anderen Stelle Kollegen, Grünen oder auch Sozis, darauf hinweisen, dass einige ihrer Vorschläge auch Nebeneffekte haben, an die sie vorher nicht gedacht haben. Das bleibt glücklicherweise nicht immer ohne Reaktion. Es gibt hier auch Abgeordnete, die nicht nur mit ideologischen Vorurteilen an die Arbeit gehen, sondern meinen, sie können meine umfangreiche Industrieerfahrung auch nutzen.
Und welches ist der dritte Grund?
Ich habe zusammen mit anderen Vertretern aus der Industrie und Wissenschaft eine Initiative zur Verhinderung des Brexit losgetreten. Sie lautet „A New Deal for Britain“ und richtet sich ausdrücklich an Brüssel, nicht an London. Daran arbeite ich jetzt den größten Teil meiner Zeit. Wir fordern Brüssel darin auf, den Briten ein neues Angebot zu machen, möglicherweise in der entscheidenden Phase im Oktober oder November, wenn es im britischen Unterhaus zu chaotischen Verhältnissen kommen könnte, da die Brexiteers den bis dahin ausgehandelten Weg genau so wenig mögen wie die Remainers.
Sie könnten also viel mehr Zeit mit der Familie verbringen
Diese Alternative hatte ich schon 1995, als ich IBM verließ. Damals war ich Vize-President der IBM Corporation und Präsident von IBM Europa. Dann kam das Angebot, ehrenamtlicher Präsident des BDI zu werden. Schon damals hatte sich die Frage gestellt, weshalb ich das mache. Anschließend wurde ich für fünf Jahre Präsident der Leibnitz Gesellschaft, einer der größten Forschungsgemeinschaften in Deutschland, ebenfalls im Ehrenamt. Auch da wurde ich wieder dasselbe gefragt. Und dann bin ich in die AfD mit dem Ziel, die unselige Euro-Politik der Bundesregierung zu korrigieren. Ich kann Ihnen sagen, warum ich das alles mache. Ich möchte mich nicht nur ärgern, wenn irgendetwas Schädliches um mich herum passiert, ich möchte dann auch selbst in die Speichen greifen um das zu verhindern. Ob das beim BDI, bei Leibniz, der Politik oder in meinen Büchern war, Sie werden neben Kritik auch immer konstruktive Vorschläge finden.
Ich höre daraus, dass Sie Ihren Ausflug in die Politik bereuen?
Nein, genau so wenig, wie ich meine Ausflüge in andere Bereiche der Gesellschaft bereut habe, ob das nun Industrieverband, Wissenschaftsgemeinschaft oder Politik war. Das interessanteste waren zweifelsohne die fünf Jahre bei der Leibniz-Gesellschaft.
Sie waren auch Honorarprofessor in Mannheim.
Zwischen 2001 und 2012 habe ich Vorlesungen vor allem zur Globalisierung und anderen Themen meiner alten Branche wie zur künstliche Intelligenz gehalten. Und natürlich zum Einsatz für Menschenrechte. Ich bin seit über 20 Jahren Mitglied bei Amnesty International, sitze auch hier im Europäischen Parlament im Menschenrechtsausschuss.
Wenn ich mich richtig erinnere hatten Sie sich beispielsweise für Ai Weiwei eingesetzt.
Die Freilassung von Ai Weiwei und die Tatsache, dass er hinterher nach Deutschland gekommen ist, hängen damit zusammen. Wobei ich an dieser Stelle ein besonderes Kompliment Frau Merkel machen muss. Sie hat sich in diesem Fall sehr intensiv bei der chinesischen Regierung eingesetzt, so wie sie überhaupt bei dem Thema Menschenrechte mehr getan hat, als jeder andere Regierungschef in der deutschen Geschichte, sicherlich mehr als ihr unmittelbarer Vorgänger, Gerhard Schröder. Das wiederum ist vielleicht auch ihr Problem mit der Flüchtlingspolitik geworden. Da hat sie einen großen Fehler gemacht. Ich habe mich in meinem letzten Buch, „Deutschland gehört auf die Couch!“, das ich zusammen mit Joachim Starbatty geschrieben habe, intensiv mit ihren Motiven auseinandergesetzt. Dort habe ich beschrieben, wie wir uns mit anderen für Ai Weiwei eingesetzt haben und wie sie dann mit ihrer Flüchtlingspolitik, durchaus mit gutem Vorsatz, einen riesigen Fehler machte, den sie bis heute nicht zugegeben hat.
Ich höre da ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Bundeskanzlerin heraus.
Ja, das hat sich in den letzten Jahren doch sehr geändert; nicht unbedingt zum Positiven.
20 Jahre Mitglied bei Amnesty International, dann AfD Mitglied. Wie hat sich eigentlich Ihr Ruf im Freundeskreis verändert?
Ich habe gemerkt, als ich 2010 begann, mich öffentlich gegen die Euro-Politik der Bundesregierung aufzulehnen, dass sich damals bei meinen Kollegen und ehemaligen Kollegen in der Wirtschaft etwas verändert hat. Das ist typisch für weite Teile der deutschen Elite. Sie haben meine Kritik an der Euro-Politik, beispielsweise an der damaligen Rettungspolitik Griechenlands, was ja eigentlich der Anlass meiner Meinungsänderung beim Euro war, öffentlich nie unterstützt, unter vier Augen im kleinen Kreis aber fast immer. Das hat sich wie ein roter Faden bis heute durchgezogen. Das ist eine Kritik an meinen Kollegen, die mit wenigen Ausnahmen sagten: Henkel machen Sie so weiter. Dann sage ich: Sagen Sie doch auch mal etwas, worauf ich dann immer wieder höre, dass sie nur für ihr Unternehmen zuständig seien. Diese Feigheit oder Bequemlichkeit der meisten meiner Kollegen bei solchen Themen, die ist erschreckend. Und das betrifft nicht nur die Euro-Politik. Es gibt durchaus auch Kollegen, die sagen: Ich bin für den Euro, auch wenn wir Griechenland und Italien bis zur Besinnungslosigkeit retten. Ich akzeptiere und respektiere diese Meinung, doch die meisten haben sie nicht. Die völlig überhastete Energiewende wurde von Firmen- und Verbandsvertretern öffentlich gefeiert und unter vier Augen scharf kritisiert.
Das gleiche gilt für die Flüchtlingspolitik. Es war hochinteressant zu sehen, dass als die ersten Hunderttausende nach Deutschland kamen, führende Persönlichkeiten der deutschen Industrie sagten, dass das ganz toll für den Arbeitsmarkt sei. Welch egoistische Betrachtungsweise, die letztlich auch falsch ist. Wie man später festgestellt hat, haben diejenigen, die am lautesten Beifall zollten, die wenigsten Flüchtlinge eingestellt. Das hat sich bis heute kaum geändert.
Ein Umstand, den ich übrigens bei vielen Journalisten auch erlebt habe. Als ich damals begann, mich über die Langzeitfolgen der Euro-Politik zu äußern, hieß es oft nach dem Interview, dass ich eigentlich Recht hätte, ihre Redaktion leider anders sehe.
Ihr Engagement für „A new Deal for Britain“ mit sechs führenden Ökonomen und Unternehmensvertreten wäre noch zu AfD Zeiten wohl undenkbar gewesen.
Da haben Sie völlig Recht. Wenn ich heute noch in der AfD wäre, würde ich mich selbst nicht mehr mit der Kneifzange anfassen. Dann kann ich das von anderen auch nicht erwarten.
Hat da eine gewisse Rehabilitation Ihrer Person stattgefunden?
Das müssen Sie beurteilen. Als ich aus der AfD ausgetreten bin, waren auch viele der Meinung, ich hätte nicht austreten sollen, weil ich die Chance versäumt habe, diese Partei in meinem Sinne zu ändern. Ich höre oft von Wählern der AfD: Mensch Herr Henkel, wären Sie doch in der AfD geblieben, dann sähe die Partei heute anders aus. Dem muss ich entschieden widersprechen, die AfD sähe heute nicht anders aus, ich wäre dann nicht vielmehr als ein liberales Aushängeschild. Das hätte ich nie mit mir machen lassen.
Hat man Ihnen Ihr Engagement in und für die AfD verziehen?
In der Fragestellung ist unterstellt, dass ich mich jemals mit den unappetitlichen Forderungen oder Aussagen der führenden Leute dieser Partei identifiziert hätte. Dem war nie so. Früher waren meine Familienmitglieder und Freunde meist mit mir der Meinung, dass ich mich für das Richtige in der AfD engagiert habe. Aber sie waren dann später auch der Meinung, dass es Zeit war zu gehen. Und sie sind mit mir heute der Meinung, dass die AfD von heute total unmöglich ist. Aber richtig ist auch, dass die Partei von Bernd Lucke und die Partei von Herrn Gauland nur noch den Namen gemein hat. Es wäre doch völlig undenkbar gewesen, dass Lucke, Starbatty oder ich uns gegen TTIP engagiert hätten. Wir sind globale Freihändler. Es wäre völlig undenkbar gewesen, dass wir Putin umgarnt hätten. Es wäre unmöglich gewesen, dass wir uns so über Ausländer äußern, wie es aus Reihen der AfD heute regelmäßig geschieht.
Sie sprachen an anderer Stelle über Entbehrungen, so seien beispielsweise Talkshow-Einladungen weniger geworden.
Interessanterweise erst seitdem wir die AfD verlassen hatten. Und da komme ich wieder zur Kritik der Medien. Die haben, als wir gegangen sind, umso begeisterter diese, jetzt langsam ins Extreme abrutschende Partei, durch ihre Einladungen fort weg unterstützt. Nie diejenigen, die die Partei mal mit anderen Zielsetzungen gegründet haben. Wir wurden vielmehr ignoriert, waren ihnen zu langweilig.
Sie haben sicher mit einigem Abstand die personellen Auseinandersetzungen innerhalb der AfD vor und nach der Bundestagswahl verfolgt. Amüsiert?
Ja, das ist gut umschrieben. Ich kenne diese Personen ja. Und auch hier muss ich wieder die Medien kritisieren, wie sie zum Beispiel auf die Tricks von Frau Petry reingefallen sind. Diese hat Herrn Lucke mit Hilfe der Rechtsaußen der Partei gestürzt, was die Medien damals auch korrekt berichtet hatten. Heute stellen die Medien diese Frau als eine Art liberale Alternative zu Herrn Gauland dar. Wie Herr Meuthen, der sich als liberales Aushängeschild in der Partei gibt, hat auch Petry überhaupt keine Überzeugungen. Denen geht es nur, das muss man mal in aller Deutlichkeit sagen, ums Geld. Diese Frau und ihr Ehemann haben zusammen neun Kinder, die wäre praktisch pleite. Darum geht es. Gleiches gilt für viele andere in der Partei. Sie treten vor die Parteimitglieder und überlegen sich, was sie jetzt sagen müssen, um von der Partei wieder für lukrative Posten nominiert zu werden. Und wenn die Mitglieder rechtsextreme Sprüche hören wollen, dann werden diese gebracht. Man muss viel intensiver die wahren Motive dieser Personen entlarven. Viele der heutigen Führungspersonen der AfD sind eigentlich vom Hintergrund her keine Rassisten oder Rechtsradikale. Sie haben vielmehr gemerkt, dass sie nur, wenn Sie radikale Sprüche bringen, in der Partei weiterkommen. Diese Partei ist unwiderruflich verloren gewesen, in dem Augenblick, als sie Bernd Lucke im Sommer 2015 abwählte. Frau Petry und ihr jetziger Ehemann, mit dem sie damals schon verbündet war, was viele Leute gar nicht durchschaut haben, hatten sich die Partei wohl vor allem aus materiellen Gründen unter den Nagel gerissen.
Sie waren Mal Anhänger der FDP und der Freien Wähler. Weshalb engagieren Sie sich nicht dort?
Die Freien Wählern habe ich erfolglos von einer anderen Europolitik zu überzeugen versucht. Bei der FDP habe ich gewisse Unterstützung durch Frank Schäffler registriert. Und der wurde damals ja noch von Lindner kaltgestellt. Für mich war die FDP damit gestorben. Sie ist inzwischen auch eine Partei, die beispielsweise in Brüssel oft etwas anderes tut als sie in Deutschland sagt. In Deutschland tritt sie für Selbstverantwortung ein und hier stimmt sie für die Bankenunion. Die FDP kann man inzwischen vergessen, ich nehme sie nicht mehr ernst. Und ich glaube, ich bin mit dieser Einstellung nicht alleine. Für mich ist das Programm der LKR wie auf den Leib geschnitten und dabei bleibt es.
Bundestag Fehlanzeige, gleiches in den Ländern, auch in den Städten sieht es mau aus. Nehmen wir an, die LKR würde im kommenden Jahr ins Europaparlament gewählt, dann könnte fünf Jahre später das Ende der Partei eingeläutet werden.
Sicher, das mag passieren. Dann wird sich die Frage stellen, was man direkt oder indirekt erreicht hat, ich weiß es nicht. Ich möchte nur daran erinnern, dass ich noch in der AfD genau solche Gespräche zwischen Januar 2014 und der Europawahl führte. Damals hatte uns auch niemand ernst genommen, da wir bei der Bundestagswahl 2013 mit 4,7 Prozent gescheitert waren. Und dann kamen wir mit 7,1 Prozent ein.
Die Kompetenz ist bei uns, hier haben wir ein Alleinstellungsmerkmal, das wir auch ausnutzen. Dann haben wir noch ein emotionales inoffizielles Alleinstellungsmerkmal. Wir wissen genau, dass nicht alle Menschen, die die AfD wählen, sich mit diesen schrecklichen Typen identifizieren. Sie wählen sie trotzdem, da sie keine Alternative sehen. Und wenn sie nach der Europawahl feststellen, dass es eine solche gibt, ich bezeichne sie Mal als eine anständige Alternative, dann kann es durchaus eine Chance für uns geben.
Die Umfrageinstitute sagen eindeutig, dass es rechts von der CDU ein großes Potential gibt. Das ist ungenau ausgedrückt, da wir in vielen Punkten gar nicht rechts von der CDU angesiedelt sind, aber so ist das nun einmal. Es gibt eine aktuelle Umfrage, deren Ergebnis der CSU bundesweit 18% zubilligt. Es gibt das Potential, und es ist auch nötig, dass es gehoben wird.
Wie bewerten Sie ihre Chancen?
Wenn es uns gelingt, als seriöse Euro-Kritiker wahrgenommen zu werden, dann haben wir gute Chancen. Denn hier haben wir wirklich ein Feld, das keine andere Partei so kompetent und überzeugend besetzt hat, wie unsere. Denn einerseits, ist die ganze Kompetenz ja von der AfD abgewandert und andererseits möchten die anderen Parteien den Euro so belassen. Wir sind diejenigen, die vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt haben.
Wie ist da der Stand?
Am 10. Juli wird am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg eine Anhörung stattfinden, zu der alle fünf Abgeordneten gehen werden. Man möchte von uns, aber auch von der Bundesregierung, Informationen haben. Auch Vertreter der Bundesbank und der europäischen Zentralbank werden da sein. Das Bundesverfassungsgericht fand unsere Argumente in jedem Fall interessant. Das kann nochmal zu einer Änderung der EZB Politik führen.
Teil II
Herr Henkel, Sie haben eine Initiative gestartet, damit Großbritannien doch in der EU bleibt. Was haben Sie bisher erreichen können?
Die Initiatoren dieser Petition sind alle für ihren Realismus bekannt, darunter finden Sie keinen Träumer. Ob das nun Herr Weiss ist, der einst Vorsitzender des CDU Wirtschaftsrates und des BDI war, Professor Sinn, der ehemalige Leiter des IFO Institutes, der Unternehmer Roland Berger, Manfred Schneider, ehemaliger Bayer-Chef, oder Klaus-Michael Kühne, der Hauptaktionär des wohl größten Logistikunternehmens, wir alle wissen, dass das nicht leicht ist. Uns einen zwei Überzeugungen: Erstens, wir glauben, dass Brüssel einen gehörigen Anteil an Mitschuld am Brexit hat. Zweitens wissen wir, im Gegensatz zur deutschen Bundesregierung, und leider auch großen Teilen der deutschen Wirtschaft, dass die EU unter Umständen langfristig stärker unter dem Brexit leiden wird, als Großbritannien selbst. Ich habe im Europäischen Parlament außer den Brexit-Briten noch nicht einen Abgeordneten getroffen, der für den Brexit ist. Das gilt auch für die deutschen Unternehmer. Ich habe auch noch nicht einen Politiker, mit Ausnahme der britischen Regierung und den Brexiteers getroffen, der für den Brexit ist. Aber niemand tut etwas um zu verhindern, dass hier zwei Züge mit voller Fahrt auf dem gleichen Gleis aufeinander zufahren! Aber es setzt sich so langsam die Überzeugung durch, dass auch die Politiker hier im Parlament von einer lose-lose Situation reden. Das ist ein erster Erfolg unserer Initiative. Denn früher herrschte die gängige Meinung, dass es sich um ein britisches Problem handelt.
Gibt es weitere Erfolge?
Ja, in einem längeren Gespräch mit Herrn Junker habe ich ihm unsere Initiative vorgestellt. Er hat auf Grund dieses Gespräches zunächst unter vier Augen und dann – bezugnehmend auf das Gespräch – auch im Parlament einige Statements getätigt, die nicht unwichtig sind:
Erstens, er sieht das Ganze auch als eine lose – lose Situation an, das war neu. Zweitens, er sieht es als eine Katastrophe für die EU an, auch das war neu. Drittens, er versprach im Falle eines Meinungswechsels auf der Insel alles zu tun, um den Zug auch von der EU-Seite her aufzuhalten. Auf meine Frage, ob er denn als der Kommissionspräsident in die Geschichte eingehen will, der die Briten verloren hat, antwortete er, dass es schön von mir sei, dass ich davon ausginge, dass er in die Geschichte eingeht. Das war typisch Juncker, aber ist wohl doch ziemlich geschockt durch den Brexit. Ich sagte ihm: Dann machen Sie doch schon jetzt was dagegen etwas dagegen. Aber soweit ist er leider noch nicht.
Unsere Initiative richtet sich an Brüssel. Sie kann sich ja gar nicht an Großbritannien richten. Dann würde zu Recht gefragt, weshalb wir uns da einmischen und das Votum der Briten nicht respektieren.
Mit dieser Bewusstseinsänderung alleine wird der Brexit aber nicht zu stoppen sein.
Aber wir wissen ja auch noch ein paar andere Dinge: Erstens, der Ausgang der Abstimmung war sehr knapp. Zweitens, die Brexiteers haben mit Fake-News argumentiert. Drittens, man hat sich zwar für einen Brexit entschieden, aber niemand weiß für welchen. Und viertens, wissen wir auch, dass die Briten zunehmend darüber ernüchtert sind, was sie sich da ans Bein gebunden haben. Erst letzte Woche ist der britische Justizstaatssekretär zurückgetreten und hat gesagt, dass dieser Deal dem britischen Volk nochmal vorgelegt werden muss.
Hier kommt unsere Initiative ins Spiel. Falls im Oktober oder November Chaos in Whitehall ausbrechen sollte und sich in Großbritannien tatsächlich die Überzeugung durchsetzt, dass man die Briten über das Verhandlungsergebnis mit der EU abstimmen lassen muss, dann wird der britische Wähler auch eine Alternative bekommen müssen. Es muss heißen, wollen Sie den Deal, oder…. Was ist dieses „oder“? Wenn zu diesem Zeitpunkt Herr Junker oder Herr Tusk oder eine nationale Regierung wie die von Herrn Rutte in Den Haag sagen würde: Großbritannien ist ja damals gegangen, weil man dem Land nicht genügend Autonomie bei der Zuwanderung geben wollte, wir sind bereit darüber zu reden. Wenn dieses Signal käme, würde es die Remainer in Großbritannien unterstützen. Davon sind meine Gesprächspartner auf Seiten der Remainer alle überzeugt.
Was sollen die Europäische Kommission und Rat den Briten denn anbieten?
Professor Sinn hat als Teil unserer Initiative einen Vorschlag ausgearbeitet, wie man den Briten bei der Kontrolle der Zuwanderer aus den EU-Ländern entgegen kommen kann. Denn interessanterweise ging es in der Diskussion um den Austritt aus der EU ja vor allem darum und erst später um die von Merkel angeschobene Flüchtlingswelle. Dieser Vorschlag hatte damals keine Mehrheit gefunden. Aber, und auch das ist neu, inzwischen hat sich bei den meisten europäischen Ländern die Meinung über die Notwendigkeit nationaler Autonomie über Teile der Zuwanderung durchgesetzt. Nicht nur in Ungarn und in Polen, sondern auch in Tschechien, Österreich und Dänemark. Mit anderen Worten, in diesem Augenblick könnte die Kommission einen neuen Vorschlag machen, und genau darauf zielt unsere Initiative.
Sie haben Junker eine persönliche Mitschuld am Brexit gegeben.
Nicht nur Juncker wegen seiner „Brüssel-über-alles-Politik“, sondern auch Merkel, die aus Sicht vieler Briten mit ihrer Flüchtlingspolitik den Brexiteers in den entscheidenden Tagen und Wochen vor der Abstimmung neue Argumente geliefert hat. Auf einer Website haben wir meine Fragen und Junkers Antworten einmal zusammengeschnitten. Er kam, nachdem ich meine Fragen im Plenum gestellt hatte zu mir und sagte, dass er diese erst am darauffolgenden Tag im Parlament beantworten könne. Eigentlich ein Witz, aber zwischenzeitlich kenne ich die Gründe hierfür. Er musste sich wohl zunächst bei seinem juristischen Dienst vergewissern, ob er das, was er am Abend vorher unter vier Augen gesagt hatte, auch öffentlich sagen kann.
In seiner anschließenden Rede hatte Tusk dann gesagt, dass er den Austritt Großbritanniens bedauere und man alle Türen offen halten werde. Ein offensichtlicher Erfolg dank unserer Initiative. Gleich nach der Debatte erhielt ich einen Anruf vom ehemaligen britischen Vieze-Premierminister Nick Clegg, der mir sagte, dass unsere Initiative „most helpful“ sei. Also, auch wenn sie sich an Brüssel richtet, sieht man, dass es auch einen gewissen Einfluss auf die Remainer hat, hier etwas zu ändern.
Weshalb ist der Brexit aus Ihrer Sicht so ein bedeutendes Thema?
Es gibt viele Gründe, weshalb der Brexit ein Problem ist: es gibt strategische, ökonomische, aber auch logistische. Ich habe sowohl mit dem Chef des Hafens von Dover, als auch Verantwortliche des Rotterdamer Hafens gesprochen. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: 98,5 Prozent aller Umschläge in Dover kommen aus dem europäischen Binnenmarkt. Nur 1,5 Prozent kommen von außerhalb der europäischen Union. Die Transaktionen, die von außerhalb der EU kommen, werden heute im Durchschnitt mit ca. rund 20 Minuten belastet, für Veterinäre, Zollbeamte etc. Wenn durch den Brexit die Transaktionen, die bisher im Binnenmarkt ohne Bürokratie abgewickelt wurden nach Brexit nur mit 2 Minuten Aufwand belastet würden, gäbe es vor Dover einen 17 Meilen langen LKW Stau. Auch im Hafen von Rotterdam stammt eine beachtlicher, zweistelliger Prozentanteil des Umschlags aus Großbritannien. Das Management beider Häfen hat bisher noch keine Ahnung, wie das funktionieren kann. In Rotterdam bereitet man sich darauf vor, Dutzende Veterinären und eine viel größere Zahl von Zollbeamten einzustellen. Es gibt kein IT – System. Hier kommt unser Mitstreiter Klaus-Michael Kühne ins Spiel, der als Logistiker eine viel bessere Sicht auf die logistischen Themen hat und eloquent beschrieben hat was das alles für die komplizierten Logistikketten und Zulieferarrangements bedeutet. Wir reden hier von über 40 Jahre gewachsene Verbindungen zwischen Zehntausenden von Firmen.
Sie erwähnten vorhin auch strategische Gründe.
Wir verlieren mit Großbritannien einen Nordstaat. Immer wenn es in der EU um sozialistische Themen, oder mehr Staat oder mehr Europa ging, dann war Großbritannien zusammen mit den Niederlanden, den nordischen aber auch baltischen Ländern und Deutschland immer in der Lage, sich einigermaßen an den Lissabon Vertrag zu halten und nicht weiter zu gehen. Frankreich wollte immer schon mehr Europa. Die Risikoteilung ist beispielsweise eine französische Idee, insbesondere der dritte Teil der Bankenunion, der unweigerlich dazu führt. dass deutsche Sparer für das Gezocke französischer Banken mithaften. Deutschland konnte sich bei der Ablehnung solcher Ideen hier immer hinter Großbritannien verstecken, so wurde die deutsch-französische Freundschaft nicht belastet. Jetzt, wo Großbritannien wegbricht, fehlt der Schutzschild für die Bewahrung dieser Freundschaft. Was macht Frau Merkel in dieser Situation? Sie wechselt ins Camp von Herrn Macron. Das sehen Sie im Koalitionsvertrag, dessen Europa-Teil noch von Martin Schulz geschrieben wurde. Zwar ist sie noch etwas skeptisch gegenüber einem europäischen Finanzminister, aber der Widerstand gegen den dritten Teil der Bankenunion ist auch schon weg. Und jetzt hat sie sogar schon der französischen Idee eines Budgets für die Eurozone zugestimmt!
Was ich damit sagen will ist, die nordischen Länder hatten mit über 35 Prozent einschließlich Großbritanniens die im Lissabon Vertrag vorgesehene Sperrminorität. Die ist weg, und jetzt hat Frankreich das Sagen. Deshalb brauchen wir Großbritannien auch aus strategischen Gründen.
Wir brauchen die Briten, weil die Union durch diese neue Idee einer Haftungsunion, in der Risiken verallgemeinert werden sollen, an Wettbewerbsfähigkeit verlieren wird. Die Franzosen wollen eine Arbeitslosenversicherung in Europa einführen. Jetzt hat bereits Herr Scholz zum ersten Mal durchblicken lassen, dass er so etwas wie eine europäische Arbeitslosenagentur gut fände. Auch das ist neu. Das sind alles Dinge, die da jetzt passieren, die mit Großbritannien nie passiert wären. Und die einzige Hoffnung, die wir jetzt haben, ist Rutte, der holländische Premier. Aber er führt leider nur ein relativ kleines Land an.
Wenn wir jetzt über einen neuen Deal reden, würde man damit den Briten nicht einmal mehr eine Rosinenpickerei durchgehen lassen?
Nein, schon das Wort Rosinenpickerei ist Unsinn. Je besser der Deal für die britische Wirtschaft ist desto besser ist er auch für unsere Industrie. Rosinenpickerei ist erfunden worden von den Leuten, die Großbritannien gar nicht in der EU wollen. Bei meinem letzten Besuch in Großbritannien haben mir sowohl Brexiteers als auch Remainers gesagt, wer zur Zeit eigentlich die größten Gegner der Remainers sind: Guy Verhofstadt, der im Europäischen Parlament dauernd für Eurobonds schwärmt und von den Vereinigten Staaten von Europa schwadroniert und der für die Verhandlungen zuständige EU-Kommissar Michel Barnier, der genau weiß, dass eine EU nach französischen Vorstellungen mit den Briten unmöglich ist.
Ein weiteres Problem für die Remainers ist der Labour-Anführer Jeremy Corbyn, denn potentielle Rebellen bei den Konservativen wollen zwar nicht den Brexit aber noch weniger wollen sie eine Labour-Regierung unter Corbyn. Für die ist das ein echtes Dilemma.
Wie Ernst ist es den Europäern damit, die Briten in der EU halten zu wollen?
Das kommt darauf an, mit wem Sie reden. Sicherlich kann man immer wieder differenzieren, aber das bringt dann auch nichts. Wenn ich die jetzt mal in Sippenhaftung nehme, dann gibt es die Franzosen, die sagen: Gott Sei Dank, dass die gegangen sind. Die merken jetzt, dass die Deutschen niemanden mehr haben, hinter dem sie sich verstecken können. Und die Deutschen wollen sich mit den Franzosen nicht anlegen. Und dann sind da die Verhofstadts in Europa. Das sind diese Träumer von den Vereinigten Staaten von Europa, die jetzt Morgenluft wittern. Die ignorieren völlig, dass als Nebenprodukt dieser Politik die ganzen Rechtsradikalen überall auftauchen und ihnen einen Strich durch die Rechnung machen.
Die deutsche Wirtschaft verhält sich ausgesprochen ruhig bei dem Thema.
Ja, das ist für uns ärgerlich und unverständlich. Die gleiche Situation wie beim Euro. Und was sagt der BDI? Wir brauchen eine Customs Union. Gut, das kann ich auch sagen. Im Übrigen verweist man darauf, dass es eine politische Entscheidung ist, nicht die ihre. Damit übergeben sie es der deutschen Bundesregierung, die verweist dann auf Herrn Barnier. Das bedeutet, dass die Bundesregierung beim Brexit schon abgedankt hat und den Franzosen das Feld überlässt. Das ist eine Schande. Ein Detail, das den meisten Deutschen wohl nicht klar ist: Raten Sie mal, wer nach dem Brexit der größte Kunde der EU sein wird? Großbritannien, noch vor China und den USA.
Wie hoch schätzen Sie die Chancen auf den Erfolg Ihrer Initiative ein?
Die liegen vielleicht bei zwanzig Prozent? Aber die Sache ist so bedeutsam, dass es sich lohnt. Wenn Großbritannien geht, ist es allein ökonomisch so, wie wenn 19 EU-Mitgliedsländer auf einmal gehen würden. Der Common Market, das beste was wir in der EUROPÄISCHEN überhaupt haben, wäre durch den Austritt Großbritanniens schwer beschädigt. Das alleine lohnt schon jeden Versuch, Großbritannien drinnen zu halten.
Welche Konsequenzen fordern Sie für die Europäische Union und speziell für Deutschland, sollte der Brexit stattfinden?
Wir sollten Großbritannien einen Deal anbieten, der sie faktisch im Binnenmarkt belässt. Und wir sollten uns mit den anderen Nordstaaten, Holland vorneweg, verbünden, um die EU subsidiär, eigenverantwortlich und wettbewerbsfähig zu erhalten. Wenn sich die EU sich dann in Richtung einer Haftungsgemeinschaft a la francaise entwickeln sollte, dann müssten wir auch gehen.
Die Fragen stelle: Aljoscha Kertesz