Aljoscha Kertesz trifft Edzard Reuter: Merkel weiß nicht, wofür sie steht

Interview mit Edzard Reuter Quelle: Aljoscha Kertesz

Herr Reuter, Sie haben in der Vergangenheit Sorge vor „dem Knall“ geäußert. Wovor genau haben Sie Sorge?

Die Gefahr, dass es tatsächlich zu einem veritablen gesellschaftpolitischen Knall kommen kann, liegt darin, dass uns offensichtlich schrittweise der Gemeinsinn verloren geht. Wir sind dabei, in eine Ich-Gesellschaft abzudriften und kein Gemeinschaftsgefühl zu mehr haben. Wenn nur noch mein eigenes Wohl von Bedeutung ist und alles andere Scheißegal, dann bestimme allein ich, was richtig ist. Dass die Rücksichtnahme auf andere, ja: zu meinen Lasten Opfer zu bringen, in meinem eigenen Interesse liegen kann, damit auch die anderen Möglichkeiten und Chancen erhalten, das ist das, was die SPD nicht mehr verkörpert.

Hatte Karl Marx dann mit seiner Klassenkampftheorie doch Recht?

Ich gestehe, ich habe noch nie alle Bände des Kapitals mit hohem Interesse gelesen. Wohl allerdings das „Kommunistische Manifest“ von vorne bis hinten mit großer Begeisterung. Und ich habe noch nie verstanden, weshalb Karl Marx immer als absolut Radikaler belächelt wurde, weil er vom Aufstand des Proletariats geredet hat. Ich denke schon, dass er ein, vielleicht wegen seines Aussehens und Auftretens, überschätzter Mann gewesen ist, aber er war einer, der seinen Finger in eine gewaltige Wunde gelegt hat und es absolut verdienen würde, dass er heute noch ernstgenommen wird. Nicht in dem pervertierten Sinne, den Lenin daraus gemacht hat, der schließlich in dieser schrecklichen Misinterpretation geendet ist, dass die Partei bestimmt was richtig ist und alles andere zu verschwinden hat. Also das, was so schrecklich im vergangenen Jahrhundert unter dem Stichwort Stalin stattgefunden hat. Das meine ich natürlich nicht. Aber, dass an dem Gedanken von Marx, dass dies im Grunde genommen eine Gesellschaft ist, die sich zum Schluss selber auffrisst, dass da etwas erheblich ernstzunehmendes dran ist, das glaube ich tatsächlich.

Sie sagten gerade, dass Sie das kommunistische Manifest mit Begeisterung gelesen haben. Es gibt das bekannte Zitat, dass derjenige, der mit 20 kein Sozialist sei, kein Herz hätte und derjenige, der es mit 40 noch ist, keinen Verstand hätte. Wie sieht es mit jemandem aus, der es mit 91 noch ist?

Der ist vielleicht ein bisschen traurig. Traurig darüber, dass sich offensichtlich Vernunft, Verantwortungsbewusstsein so schwer tun, sich durchzusetzen. Alle Analysen der gesellschaftlichen Situation und Entwicklung, nicht nur im reinen soziologischen Sinne, sondern im soziopolitischen Sinne, sind ja wunderschön und es ist herrlich, darüber zu diskutieren. Aber zum Schluss gibt es keine Analyse und keine Theorie, die einfach ohne wenn und aber richtig ist und durchgesetzt werden muss, sondern es bedarf immer der Kompromisse, der Vernunft, der Ruhe und des Verantwortungsbewusstseins. Und zum Verantwortungsbewusstsein gehört für mich entscheidend zu wissen, und innerlich davon überzeugt zu sein, dass kein menschliches Wesen im Laufe eines kurzen Lebens -und jedes Leben ist zwangsläufig kurz – die Weichen für die ganze Menschheit anders stellen kann, als sie bislang waren. Das heißt, wenn Sie wollen im Sinne von Popper, Verantwortungsbewusstsein mit der Maßgabe verstehen, immer noch Spielraum zu lassen, die Dinge auch wieder rückgängig zu machen, die man angefangen hat oder Fehler zu korrigieren, die passiert sind. Wer immer nur meint, Hauruck mit dem Kopf durch die Wand, der ist für mich als Politiker nicht ernst zu nehmen. Das gilt übrigens nicht nur in politischer Hinsicht, das gilt auch in unternehmerischer oder gesellschaftspolitischer Hinsicht.

Bei den letzten Ausführungen hatten Sie sicherlich Präsident Trump im Sinne?

 

Dass die Mehrheit der amerikanischen Wähler einen Immobilienspekulanten mit entsprechend eingeschränkten geistigen Fähigkeiten zu ihrem Präsidenten gewählt hat, ist die eine Realität, mit der wir leben müssen – und mit der Hoffnung, dass sie nicht in einer Weltkatastrophe endet.

Sie sind jetzt seit 72 Jahren in der SPD. Was bekommt man eigentlich zum siebzigjährigen Jubiläum in der SPD?

Eine Nadel. Soweit ich mich entsinne, eine schöne Nadel und – ich bin kein großer Freund von solchen Jubiläumsgeschenken, und von vielen Lobreden schon gar nicht – ich glaube eine fulminante Großausgabe der Schriften von Willy Brandt. Das sind etwa zwei laufende Meter knall rot gebundenes Material.

Hatten Sie jemals ein Amt in der SPD innegehabt?

Nein, kein einziges.

Sie haben sich ja damals bewusst für die Wirtschaft entschieden. Weshalb sind Sie eigentlich nicht in die Politik gegangen? Hat Sie das nie gereizt?

Natürlich hätte mich das gereizt. Als ich mit meiner Ausbildung und meinem Jura-Studium fertig war hatte mich Willy Brandt direkt gefragt: Du machst doch jetzt Partei. Ich sagte ihm dann: nein.

Sie hatten ein enges Verhältnis zu Willy Brandt. Ich nehme an, dass der Kontakt damals über Ihren Vater zustande kam?

Ja, ich habe ihn sehr gut persönlich gekannt, ursprünglich über meinen Vater. Nach dessen Tod haben wir eng zusammengearbeitet. Zusammen mit Richard Lowenthal schrieb Brandt ja eine Biographie über ihn. Ich sagte ihm damals: „Willy, irgendwann ja, aber ich will zunächst einmal – und das ist für mich eine entscheidende Voraussetzung, um in die Politik zu kommen – innerlich und persönlich unabhängig werden. Mit anderen Worten, ich will eine berufliche Grundlage haben, die es mir in der Politik jeden Tag ermöglicht zu sagen: Danke, ich habe genug. Mir war diese Unabhängigkeit sehr wichtig. Ich hatte gesehen, dass viele nicht über diese Voraussetzung verfügen. Ich wollte nicht davon abhängig werden, dass mir die SPD direkt oder indirekt einen Lebensunterhalt finanziert. Deshalb interessierte mich eine Tätigkeit in einem Unternehmen. Denn auch hier geht es um Gestaltung. Um tägliche, anpackende Gestaltung, wie in der Politik auch. Das hat Willy damals verstanden. Er hat sich noch darauf berufen, dass er als Journalist es aus anderem Blickwinkel genau so sieht wie ich. Und dann habe ich im Laufe der vielen Jahre, als sich mein Berufsweg in der Wirtschaft gestaltet hat, gar keine Gelegenheit mehr dazu gehabt. Ein Versuch, eine Zwischenlösung zu finden, hat nicht geklappt.

Eine Zwischenlösung?

Es ging darum, Programmdirektor beim ZDF zu werden. Da wurde ein anderer, der SPD nahestehender Kandidat gewählt. An dem Punkt hatte ich bei Daimler Benz großen Ärger mit meinem damaligen Chef, Herrn Zahn, gehabt. Wirklich fundamentalen Ärger, sodass ich bei Daimler-Benz und meinem damaligen – na ja: ein wenig durch die politische Vergangenheit geprägten – Chef hinschmeißen wollte.

Sie wurden auch mal als Bürgermeisterkandidat in Berlin gehandelt.

Als Scharping Kanzlerkandidat war, kam er auf mich zu und sagte: Komm in mein Team und such Dir jedes beliebige Ministeramt aus. Kurz danach gab es eine Anfrage zu einer Kandidatur bei der Bürgermeisterwahl in Berlin. In beiden Fällen sagte ich ab, da ich in einer riesigen Verantwortung als Unternehmenschef war. Wir versuchten bei Daimler-Benz etwas ganz neues zu machen, das war ein schwieriger Weg, eine Gratwanderung. Da konnte ich nun wirklich nicht mittendrin sagen: Ich habe mich entschlossen, Außenminister zu werden. Das wäre allen beteiligten Menschen im Unternehmen, aber auch gegenüber den Anteilseignern unfair gewesen. Ich sagte dann, lasst uns bitte nach der Wahl noch einmal sprechen, je nachdem, welche Konstellation sich dann ergibt. Das habe ich damals auch dem „Spiegel“ erzählt. Die haben das dann so dargestellt, als wollte ich für das Amt kandidieren, was wirklich nie der Fall gewesen ist. Es gibt einen weiteren Grund, den ich noch niemandem erzählt habe.

Sie machen mich neugierig.

Der lautet: ich bin doch nicht bescheuert. Ich weiß, dass sie in der Politik nichts machen können, wenn sie keine Hausmacht, kein Netzwerk haben, wenn Sie das nicht von der Pieke auf gelernt haben. Das ist ein Blödsinn, wenn jemand meint er könnte heute Politik und Morgen Wirtschaft, oder auch andersrum. Dazu gehört Wissen, Know-how, das hab ich nicht. Ich war und bin ein politischer Mensch, das treibt mich jeden Tag um. Aber ich bin nie so vermessen gewesen mir einzubilden, dass ich plötzlich ernsthaft eine politische Leitungsaufgabe übernehmen könnte.

Sie haben mal gesagt, dass Ihr Weg nach oben über das Ansprechen von Missständen führte. Es ist bekannt, dass Sie gerne anecken. Missstände ansprechen und anecken, damit wären Sie für eine Karriere in der SPD doch gut gerüstet gewesen.

Sie meinen, es gab genug Missstände? Nein, auch das will ich nicht idealisieren, ich bin doch keineswegs jeden Tag wie ein Gott durch die Gegend gerannt und habe allen Leuten gesagt was Sache ist und was richtig ist und wie falsch das ist, was die gerade machen. Natürlich nicht. Aber, ich war schon immer der Meinung, dass man fundamental wichtigen Fragen nicht ausweichen darf, indem man sich der Versuchung hingibt, zu polemisieren. Das heißt, dass man im Grunde genommen den Mut haben muss, zu sich selbst zu stehen. Das habe ich mein ganzes Leben lang einigermaßen gut durchgehalten. Es ist auch nach wie vor meine feste Meinung, dass man anders nicht ernsthaft vor sich selber in den Spiegel schauen kann.

Hätte ein Politiker-Reuter etwas anders gemacht, als ein Wirtschaftsführer-Reuter?

Das sind – wie gesagt – zwei unterschiedliche Professionen. Ich bin mir sicher, dass ich etwas anders gemacht hätte, weil ich beispielsweise den Umgang mit Menschen, mit denen man zusammenarbeitet, anders verstehe und anders definiere, als das offensichtlich in weiten Teilen der Politik der Fall ist. Wenn ich ganz konkret anschaue was da im Streit zwischen Seehofer und Söder gelaufen ist, und wie das zwischen Seehofer und Merkel läuft, das ist nicht mein Stiefel. Das hätte ich auch so nie gemacht, oder besser gesagt, nie machen können. Da wäre ich ja selber den Bach runtergegangen.

Sie haben gelegentlich öffentlich Kritik an Bundeskanzlerin Merkel geübt. Was ist Ihre Hauptkritik?

Das ist relativ einfach. Meine Kritik ist ganz eindeutig, dass sie eine reine Taktikerin ist. Dass man bei ihr nie erkennt, wohin sie eigentlich will, was ihr grundlegendes Anliegen ist. Die berühmten grundsätzlichen Entscheidungen, die sie getroffen hat, sind Augenblicksentscheidungen gewesen. Der plötzliche Atomausstieg nach Fukushima. Zuvor war das Gegenteil richtig. Das Selbe gilt für die Flüchtlingsfrage. Ich habe bei Frau Merkel noch nie erkannt, wo ihre klare Linie zu bestimmten grundsätzlichen Fragen ist. Vor allem zum Thema Europa. Frau Merkel hat immer gesagt, dass sie für eine Vertiefung, den weiteren Ausbau Europas sei. Aber wenn es darum ging, konkret in diese Richtung zu führen, ist Frau Merkel in einer Nachtsitzung der Staats- und Regierungschefs verschwunden. Am nächsten Tag taucht sie mit schwarzen Ringen um die Augen wieder auf und hat gesagt: Wir haben einen großen Fortschritt gemacht. Aber welchen Fortschritt sie gemacht hat, habe ich nie erkannt. Das schließt nicht aus, dass sie in vielen einzelnen Sachfragen unheimlich viel gemacht hat, sich ungeheuer eingesetzt und wirklich gekämpft hat. Aber das, was für meine Begriffe in einer Demokratie unverzichtbar ist, nämlich Führung, Führung hin zu klar benannten Sachzielen, das habe ich bei Frau Merkel noch nie erkannt. Ihr Ziel: wie bleibe ich an der Macht. Wie sie die Männer, die ihr im Wege standen, beiseite gerollt hat, fabelhaft. Viele Dinge, die sie auch in Sachen Europa gemacht hat: ja, sehr gut. Aber den Mut aufzubringen, einmal zu sagen dass Europa nur gelingen kann wenn wir auch bereit sind Opfer zu bringen, wir als Deutsche zu Gunsten der Gemeinschaft, das habe ich nie von Frau Merkel gehört. Obwohl ich sicher bin, dass sie das genau weiß.

Dass Sie für eine fortschreitende Integration in Europa sind, ist bekannt. Wie weit würden Sie denn gehen? Käme die sogenannte Schulden-Union für Sie in Frage?

Das ist so ein Schlagwort: Schulden-Union. Normalerweise heißt es bei CDU oder FDP immer Transfer-Union. Sie werden lachen: auch. Aber keineswegs nur. Ich mach es mal so rum fest: wir haben im deutschen Grundgesetz bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland einen Kernsatz der heißt: gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland herzustellen. Das bedeutet, dass die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern genauso wie in Bayern die Chance haben, Wohlstand zu genießen, sich zu entwickeln, frei zu sein zu reisen usw. Gleichwertige Lebensverhältnisse, wenn wir uns das nicht als Ziel in Europa vornehmen, und damit die Chance eröffnen, dass es auch tatsächlich für die Menschen sichtbare Fortschritte in diese Richtung gibt, können Sie alles vergessen, was Europa an Zielsetzungen hat. Das heißt, wir müssen diese Chance eröffnen, damit dies passiert.

Um auch da wieder auf Deutschland zurückzukommen: Wir haben hier den berühmten Streit um den Bundesfinanzausgleich, der um dasselbe Thema geht. Transfer-Union heißt, dass aus Teilen Deutschlands, von einzelnen Bundesländern Geld an andere fließt, die noch nicht so weit sind. Wenn wir das in Europa nicht kapieren und umsetzen, können sie das Projekt Europa vergessen. Damit wir uns da nicht falsch verstehen: das schließt natürlich nicht aus, dass die Bereitschaft, anderen Ländern Kredite zu geben oder anderen Ländern Teile des eigenen Steueraufkommens zukommen zu lassen, oder sogar Schulden zu erlassen, dass das an Bedingungen gekoppelt wird. Natürlich kann man sich die Länder nicht einfach nur verschulden lassen und wir übernehmen das dann. Das geht natürlich nicht. Das bösartige an dem Wort Transfer-Union, ist, dass man angeblich unser schwer erarbeitetes Transfergeld an Herrn Tsipras, oder an wen auch immer, verschenken will. Genau da bin ich anderer Meinung. Aber das ist einer der Punkte, die wir mal endlich diskutieren müssten, aber genau dies passiert nicht.

Aus Angst

Ja, genau, weil jeder Angst hat vor dem nächsten Wählervotum hat. Um Gottes Willen, wenn wir so etwas offen sagen. Im Grunde genommen weiß heute jeder, dass die Schulden Griechenlands nie bezahlt werden. Kein Mensch kann ernsthaft erzählen, dass die Schuldenberge, die Griechenland aufgehäuft hat, je zurückgezahlt werden. Aber dann muss man auch mal den Mut haben zu sagen, dass dem so ist. Aber wollen wir trotzdem Griechenland unter diesen oder jenen Bedingungen, die wir ja gestellt haben, und die offensichtlich auch zum großen Teil umgesetzt werden, dabei helfen, in Gang gebracht zu werden?. Da sind wir genau wieder an dem Punkt: was uns fehlt ist der Mut, offen schwierige, komplexe und möglicherweise opferreiche Notwendigkeiten zu benennen und auch dazu zu stehen. Genau das hat Frau Merkel nie getan. Aber so what. Das ändert nichts daran, dass sie eine großartige Bundeskanzlerin ist.

Ich glaube Lafontaines SPD war es, die damals gemerkt hat, wie man mit der Wahrheit
eine Wahl verlieren kann.

Oh ja, das hat Oskar erfahren.

Von gleichen Lebensbedingungen sind wir nicht nur in Europa sondern auch in Deutschland weit entfernt.

Wobei das, nebenbei bemerkt, nicht bedeutet, dass jeder Facharbeiter bei BMW in den exakt gleichen Lebensbedingungen lebt, wie ein Ackerbauer in Mecklenburg Vorpommern. Das ist nicht gesagt, aber die Chancen und die Möglichkeiten, das allgemeine Umfeld, die müssen gleich sein.

Ein Hebel um dies zu ändern ist die Steuerpolitik. Sie haben einmal einen Einkommenssatz von 60 Prozent für Spitzenverdiener gefordert…

Gefordert habe ich das nicht, aber ich würde das ohne weiteres für sinnvoll erachten.

Nennen wir es also befürwortet. Von einer derartigen Forderung ist die SPD heute weit entfernt.

Ja, das ist so. Auch da wieder aus der immer wieder verständlichen, aber trotzdem falschen Einstellung: wenn wir diese Klientel verärgern, die dann jeden Tag sagt, dass die SPD die Partei der Enteignung ist, dann kostet uns das zu viele Stimmen. Das gehört zu dem gleichen Mangel an Mut. Dabei könnte man das doch kontrovers diskutieren. Wer mir – bitte, das tut mir leid, aber da mache ich etwas kindische Anmerkungen – glaubhaft machen möchte, dass es fair ist, wenn Herr Winterkorn denselben Steuersatz bezahlt wie jemand, der zwar eine hohe Position erreicht hat, aber bei weitem nicht vergleichbar ist, da kann ich mir nur an den Kopf fassen, das kann doch wohl nicht wahr sein. Es ist ja im Allgemeinen auch in Vergessenheit geraten, dass es in der Nachkriegszeit in Amerika eine Phase gab, wo der Spitzensteuersatz bei weit über 70 Prozent lag. Deswegen ist, soweit ich das verstehe, Amerika nicht Pleite gegangen. Das sind diese Schnellschüsse. Irgendwo gibt es nun einmal für mich den Begriff der Gerechtigkeit. Ich gebe gerne zu, dass dies aus dem hohlen Bauch herauskommt.

Wie finden Sie es, wenn der neue SPD Finanzminister Olaf Scholz die schwarze Null als glorreich preist?

Das können Sie von einem Finanzminister nun wirklich nicht erwarten, dass er sich als erstes von der Politik der schwarzen-Null verabschiedet und fortan eine Politik macht, in der wir das Geld dort ausgeben, wo es richtig ist. Was ich von der bisher gezeigten Gestaltungskraft von Herrn Scholz halte, das steht auf einer anderen Seite. Ich habe von ihm noch nichts gesehen, was da rüberkommt, außer ein: weiter so.

Sind Sie eigentlich Wutbürger?

Nein, das bin ich mit Sicherheit nicht. Ich bin einer, der sich manchmal furchtbar ärgert, furchtbar wütend ist. Aber ein Wutbürger, einer, der gerne auf die Straße geht, das bin ich nicht. Wir sitzen hier ja gerade gegenüber von Stuttgart 21, und nehmen Sie mir mal ab, ich war zu Anfang, als das Ganze losging, durchaus ein Anhänger von dem Projekt. Wurde dann aber sehr schnell ein dezidierter Gegner. Wutbürger heißt auf die Straße gehen, Faust hochrecken, Plakate hochhalten. Das hat für meine Begriffe noch nie etwas Ernsthaftes bewirkt. Wut wirkt sich vielleicht aus, wenn ich bei der Wahl meine Stimme abgebe. Aber rumschreien und sagen es sei alles Scheiße und Mist in diesem Land, nein, das ist nicht mein Stil. Mein Stil ist, den Mut zu haben zu diskutieren, den Kopf auch dafür hinhalten, auch beschimpft zu werden. Die Erfahrung habe ich in meinem Leben schon ein bisschen gemacht.

Sie schreiben lieber Bücher, als auf die Straße zu gehen?

In gewissem Sinne ja, aber das ist kein entweder oder. Auf die Straße gehen ist ja nur ein Mittel, seine Meinung zu sagen. Bücher schreiben ist ein anderes. Aber es gibt ja noch weitere, um Unmut kundzutun. Man kann das auch in Interviews mit Kollegen machen.

Arbeiten Sie an einem neuen Buch?

Nein.

Planen Sie nochmal eines?

Wissen Sie, ganz rational betrachtet, kommen sie irgendwann in ihrem Lebensablauf an eine Situation wo sie sagen: Moment mal, ist ja ganz toll was du da denkst oder noch toller, wie du es formulierst, du bist ja der Größte. Aber vielleicht solltest Du jetzt mal anderen Leuten, die altermäßig aktivitäts- und intelligenzmäßig noch am Ball sind, das Wort überlassen, du kannst die Welt eh nicht ändern. An so einem Punkt kommt man und dann weiß man, dass Schluss ist. Das heißt ja nicht, dass, wenn man mal wieder einen tollen Einfall hat, man sich dann nicht zu Wort melden kann. Aber man muss nicht alle Nasen längelang ein Buch schreiben. Zumal sie im Laufe der Zeit Erfahrung sammeln, wie dieser Markt funktioniert. Interessant werden Sachen nur, wenn sie irgendwie brutale Sensationen auf den Markt knallen, sonst interessiert das keinen Menschen. Also, eindeutig nein.

Nicht, dass Ihnen langweilig wird.

Nein, das wird mir sicher nicht.

Sie haben einmal gesagt, dass das Primat der Politik seinen unverzichtbaren Vorrang behalten muss. Hat es den eigentlich noch?

Ich habe zunehmen Zweifel, ob das so ist. Ich gehöre zwar nicht zu denen, da sind wir wieder beim Stichwort „Wutbürger“ oder „Kommunisten“, aber in Richtung Karl Marx geht die Thematik ja. Hat eigentlich die Wirtschaft im weitesten Sinne des Wortes, und konkret die Unternehmenswirtschaft, viel mehr Einfluss auf die politische Entwicklung, als die eigentliche Politik? Jetzt können Sie natürlich sofort einen Beleg dafür ins Feld führen, der heißt Trump. Der Herr Trump ist ein verrücktgewordener, idiotischer Unternehmer der meint, Politik sei identisch mit einem Teppichbasar und handelt entsprechend. Und tatsächlich bestimmt er Politik, das ist so. Es gibt also Belege dafür und es gibt auch genügend weitergehende Belege dafür, denken Sie beispielsweise an Google oder Amazon, die bestimmen mit ihren Unternehmensinteressen grundlegende, politische, weltweite Entscheidungen. Das alles trifft durchaus zu. Aber, dass es schon so weit gekommen ist, dass große Unternehmen Weltpolitik bestimmen: Nein, das ist eindeutig noch nicht so und das wird auch hoffentlich nicht passieren. Trotzdem leugne ich keine Sekunde meine einschlägige Sorge: Dass unter dem Druck der Globalisierung, unter dem Druck der Digitalisierung – die beide in die Richtung gehen, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet – immer stärker der Spielraum für Unternehmensinteressen wächst, und, dass Wirtschaftsinteressen zum Schluss die Politik bestimmen.

Was treibt Sie an wenn Sie ein Buch schreiben, wenn Sie in der Diskussion mit Freunden sind, Interviews geben…

Das ist ganz einfach und da kolportiere ich einen Spruch, den sich andere schon vorgenommen haben: auf meinem Grabstein wird mal stehen, oder sollte mal stehen, wenn meine Frau zustimmt: „Der hat sich bemüht“. Das ist das ganze Motiv.

Ist der Tod ein Thema für Sie?

Nein, ich weiß ja, dass ich sterben muss. Was heißt muss, sterben werde und das ist kein Thema. Ich muss mich nicht vor irgendeiner Ewigkeit rechtfertigen, bewahrheiten oder bewähren.

Was möchten Sie denn in diesem Leben noch erreichen?

Das ist mit einem Negativsatz leicht gesagt, dass ich möglichst wenigen Menschen möglichst selten weh tue.

Dann könnten Sie die Haustür hinter sich zu machen und dürften nicht mehr vor die Türe.

Das ist ein sehr richtiger Hinweis, den ich sofort akzeptiere. Nur, nicht weh tun heißt ja nicht, dass ich nicht gerne Leute ärgere. Und das möchte ich weiter tun. Nämlich den Mund aufmachen, wenn ich eine andere Meinung habe. Fertig.

Dafür weiterhin beste Gesundheit

Vielen Dank.

Aljoscha Kertesz