Aljoscha Kertesz trifft Bernhard Vogel: Die Wiedervereinigung ist uns gelungen

Aljoscha Kertesz und Bernhard Vogel

Herr Vogel, 30 Jahre nach dem Mauerfall flammt in den letzten Monaten unter Ostdeutschen eine Diskussion über das Gefühl fehlender Wertschätzung auf.

In der Tat ist auch heute noch zu beobachten, dass die Ostdeutschen viel mehr von Westdeutschland wissen und wussten, als die Westdeutschen von Ostdeutschland. Gelegentlich wird vergessen, dass sich mit dem Wiedererstehen der Länder in Ostdeutschland und ihrem Beitritt zur Bundesrepublik fast alles im Lebensvollzug der Menschen geändert hat. In Westdeutschland haben viele in der Wiedervereinigung nur die Tatsache gesehen, dass sich die Bevölkerungszahl erhöht und das Staatsgebiet erweitert hat. Leider hat es bei vielen Westdeutschen an einer wirklichen Neugier auf Ostdeutschland gefehlt. Das wirkt sich bis heute aus und wird wohl erst durch die Generationsnachfolge überwunden werden. Zudem haben die Westdeutschen ihren Staat im Wesentlichen als Stabilisator empfunden, die Ostdeutschen als Pression, deshalb darf man sich nicht wundern, dass die Sympathie zum Staat in Westdeutschland wesentlich höher ist als im Osten. Genauso hat man in Westdeutschland gewusst, dass bei den Nachrichten im Fernsehen nicht alles gestimmt hat. In Ostdeutschland hat man Jahrzehnte damit leben müssen, dass nichts gestimmt hat und muss jetzt erfahren, dass zwar vieles stimmt, aber nicht alles. All diese Prozesse haben natürlich eine längere Laufzeit und die Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Ostdeutschen in der Folge der friedlichen Revolution ihren angestammten Arbeitsplatz verloren hat, tut das seine.

Ist die Wiedervereinigung aus Ihrer Sicht gelungen?

Ja, sie ist alles in allem gelungen, aber Probleme gibt es noch immer.

Können Sie denn nachempfinden, dass viele Ostdeutsche sich als Bürger zweiter Klasse empfinden?

Das „zweite Klasse“ ist natürlich nicht zu akzeptieren. Aber, dass sie Schwierigkeiten haben in einer Gesellschaft anzukommen, in der sie nicht aufgewachsen sind, und die sie oft erst im fortgeschrittenen Alter erlebt haben, das muss man bedenken.

30 Jahre nach dem Fall der Mauer scheinen wir von der inneren Einheit noch weit entfernt zu sein.

Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Wir sind nur merkwürdig fasziniert von der Vorstellung was Einheit eigentlich bedeutet. Es gibt nicht den Westen, denn Bayern und Schleswig Holstein sind beispielsweise nicht identisch. Genau so wenig gibt es den Osten, denn auch Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern sind nicht identisch. Und wir wollen doch auch gar kein Einheitsdeutschland, sondern wir wollen ein einheitliches Deutschland, in dem jede Region und jede historische Tradition ihr Lebensrecht hat.

Muss die Nachwendezeit noch weiter aufgearbeitet werden?

Mit dem Begriff aufarbeiten habe ich immer so meine Schwierigkeiten. Aufarbeiten kann man einen Anzug, aber meiner Ansicht nach nicht die Geschichte. Man muss sich mit ihr immer wieder neu befassen. Das ist auch angesagt, weil inzwischen die Mehrheit der Deutschen ja nicht mehr im geteilten Deutschland gelebt hat, sondern dies allenfalls als Kind erlebt hat, wenn man nicht überhaupt erst danach geboren ist.

Was müsste konkret geändert werden?

Man muss der jungen Generation sagen: ihr müsst euch mit der Geschichte nicht befassen, damit ihr möglichst viele Daten kennt, sondern damit ihr verhindert, dass sich wiederholt, was in Deutschland im 20. Jahrhundert geschehen ist.

Sie fordern eine klare Abgrenzung der CDU nach rechts. Gehen die etablierten Parteien, geht auch die CDU Ihrer Meinung nach heute mit der AfD richtig um?

Ich finde es für richtig, wenn man zwischen der Partei und ihren Wählern unterscheidet. Mit der Partei, mit ihrer Führungscrew, mit den programmatischen Aussagen der Partei möchte ich nicht das Geringste zu tun haben. Wer zulässt, dass das Holocaust Denkmal in Berlin als Denkmal der Schande bezeichnet wird, ist für mich kein Gesprächspartner. Anders sehe ich das bei den Wählern, die nach allem was wir wissen zum überwiegenden Teil die Partei ja nicht aus Sympathie für ihr Programm gewählt haben, sondern um einen Denkzettel zu erteilen. Mit diesen Wählern darf man nicht so umgehen wie mit der Führung der Partei, sonst hindert man sie daran, ihren Platz wieder zu verlassen. Mit denen muss man über ihre Probleme reden und die müssen die demokratischen Parteien wieder zurück gewinnen.

Die AfD ist seit mehr als fünf Jahren dabei, Protestwähler an sich zu binden. Wurden da in den letzten Jahren seitens der etablierten Parteien Fehler gemacht?

Ich bin etwas vorsichtig mit einer so einseitigen Schuldzuweisung. Die Notwendigkeit, immer wieder große Koalitionen zu bilden, die Notwendigkeit, sehr schwierige Probleme wie den Atomausstieg, die Flüchtlingsfrage usw. zu bewältigen, haben auch in Deutschland dazu geführt, dass rechtsextreme, rechtsnationalistische Parteien erfolgreich waren und sind. Übrigens sind diese Parteien in fast allen Ländern Europas meistens sehr viel schlagkräftiger als hier bei uns in Deutschland. Damit muss man sich auseinandersetzen. Es ist bedauerlich, dass die AfD so viel Zuspruch bekam. Aber, dass eine solche Partei überhaupt entstanden ist, ist nicht so überraschend.

Eine Schuldzuweisung am Aufkommen der AfD wird oftmals direkt Angela Merkel gemacht.

Das ist besonders unsinnig, weil man ja genau weiß, dass Wählerströme aus allen Parteien zur AfD gegangen sind. In Thüringen sind beispielsweise aus gutem Grund besonders zahlreich Wähler von der Linken zur AfD gewechselt. Die Linke war hier lange Zeit die Protestpartei. Wenn man jedoch den Ministerpräsidenten stellt, kann man nicht mehr Protestpartei sein. Deswegen ist es Aufgabe aller Parteien, der Sozialdemokraten, der Liberalen, der Grünen und vor allem auch der Union, Wähler der AfD wieder zurück zu gewinnen.

Wie stark werden Sie sich im Herbst in Thüringen im Landtagswahlkampf einbringen?

In dem Umfang, wie es die Thüringer CDU und die Kandidaten möchten. Ich bin nicht mehr 80 und in dem Maße einsetzbar wie früher. Aber ich bin Ehrenvorsitzender der CDU Thüringen und stehe, wenn nötig, selbstverständlich gerne zur Verfügung.

Ihr gutes Verhältnis zu dem thüringischen Spitzenkandidaten Mike Mohring ist bekannt, er wird sie sicher rufen.

Warum sollte er auch nicht.

Man darf also mit mehreren Wahlkampfeinsätzen von Ihnen rechnen.

Wie gesagt, im Maße dessen, was ich noch leisten kann.

Wie ich sehe, lesen Sie eine thüringische Tageszeitung. Sie werden auch eine rheinlandpfälzische lesen. Welche Landespolitik verfolgen Sie intensiver?

Sie haben Recht, ich lese sowohl eine rheinlandpfälzische als auch eine thüringische regionale Tageszeitung, da ich beiden Ländern so eng und lange verbunden bin, dass mich selbstverständlich berührt, was in beiden Ländern weiter geschieht. Eine Relation zwischen beiden Ländern möchte ich jedoch nicht anstellen. In einem Land war ich über 20 Jahre Mitglied des Kabinetts und war lange im Landtag und bin daher selbstverständlich eng verbunden. Im anderen Land habe ich das größte Abenteuer meines Lebens – die Zeit nach 1992 – erlebt. Beides geht nicht aus den Kleidern.

Das Ende beider Lebensabschnitte hätte jedoch unterschiedlicher nicht sein können. In Thüringen mit einem lachenden Auge verabschiedet, in Rheinland-Pfalz war es ein abruptes Ende.

Also in Thüringen war es sogar ein Ende mit zwei lachenden Augen. Ich habe die Kandidatur von Dieter Althaus als meinem Nachfolger nachdrücklich unterstützt und er hat ja im ersten Wahlkampf, den er selber bestreiten musste, auch die absolute Mehrheit verteidigt, die ich zuvor errungen hatte. In Thüringen ist es somit ein erfreulich geglückter Übergang. Ganz anders die Situation in Rheinland-Pfalz, wo für mich eindeutig klar war, und von mir auch deutlich ausgesprochen worden ist, dass, wenn meine Partei mich nicht mehr trägt, ich nicht länger Ministerpräsident des Landes sein kann. Leider haben das nicht alle geglaubt und nicht alle für möglich gehalten. Aber ich bin selbstverständlich bei dieser, wie ich finde, zwingenden Konsequenz geblieben.

Sie sind damals mit den Worten „Gott schütze Rheinland-Pfalz“ abgetreten.

Dieses Wort wird immer zitiert, ist aber nicht vorbereitet und nicht am Tag meines Rücktritts als Ministerpräsidenten gesprochen worden, sondern war die unmittelbare spontane Reaktion auf die Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses auf dem Landesparteitag.

Weshalb kam Ihnen das in den Kopf?

Na, das ist doch selbstverständlich. Wenn man über 20 Jahre, mit Haut und Haar, Tag und Nacht, zunächst in der sehr schwierigen Bildungs- und Hochschulpolitik und dann als Ministerpräsident für das Land lebt und für das Land arbeitet, dann liegt einem das Land doch selbstverständlich am Herzen. Aber nochmal, das ist keine schriftlich vorbereitete Botschaft gewesen, sondern ein spontaner Ausdruck in dieser besonderen Situation.

Oder hatten Sie damals schon eine Vorahnung, dass nach Ihrem Abtritt nur noch die SPD das Land regieren würde?

Nein, aber ich war überzeugt, dass der Wähler uns dieses Verhalten der CDU bei der nächsten Landtagswahl heimzahlen würde und das hat er ja auch getan.

Und bis heute…

Mit der Folge, dass das bis heute so geblieben ist, ja. Die SPD hat die Wahlen nicht gewonnen, die CDU hat sie haushoch verloren.

Trifft das auf alle Wahlen seither zu?

Sie hat nicht alle Wahlen seitdem haushoch verloren, aber die Verantwortung für das Land nie zurückgewonnen.

Und dann ist Julia Klöckner auch noch nach Berlin geflüchtet.

Na, geflüchtet kann man nicht sagen. Bundesministerin zu werden ist ja keine Fluchtbewegung. Sie hat in Berlin eine Aufgabe gefunden, noch dazu in einem ihr sehr naheliegenden Aufgabenbereich. Aber geflüchtet? Ins Bundesministerium flüchtet man nicht, schon gar nicht in ein schwierig zu führendes.

Wäre das Wort Bedauern das richtige, wenn wir über Ihr Ausscheiden in Rheinland-Pfalz sprechen?

Ja natürlich ist das bedauerlich, dass die CDU, nachdem sie über 40 Jahre das Land geführt hat, für Jahrzehnte die Führung verspielt hat. Das ist doch bedauerlich.

Haben Sie diesbezüglich auch Wehmut?

Nein, ganz handfestes Bedauern. Sie können auch Wehmut sagen, aber Wehmut ist mir zu tragisch. Es ist bedauerlich, weil selber verschuldet.

Und warum kommt die CDU hier nicht wieder an die Macht? Das kann ja nicht nur an der Entscheidung von damals gegen Sie liegen.

Die ersten Jahre danach waren gekennzeichnet durch mangelnde Geschlossenheit der Partei. Es ist der wesentliche Verdienst von Frau Klöckner, die Differenzen in der CDU, die ja erheblich waren, überwunden zu haben. Sie hat die Partei wieder geeint. Leider haben dann die Umstände bei der letzten Landtagswahl dazu geführt, dass sie die Früchte dessen nicht geerntet hat. Aber der Verdienst, die Partei wieder zusammengeführt zu haben, bleibt. Und das ist eine Voraussetzung für Erfolge. Nun ist ja Erfolg auch vom Verhalten des Konkurrenten abhängig. Frau Dreyer ist keine einfache Konkurrentin.

Aljoscha Kertesz

Tags: Wiedervereinigung, Bernhard Vogel, CDU, Thüringen, AfD, Afd Deutschland, CDU, Julia Klöckner

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