Albert Camus und das Geheimnis der Resilienz

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Albert Camus ist der Dichter von Weltruhm, der am häufigsten mit dem Phänomen Resilienz in Verbindung gebracht wird. Generell sind in den modernen Social Media Zitate von Camus besonders verbreitet und beliebt. Eine Analyse von Facebook-Mitgliedern hat ergeben, dass unter ihnen Albert Camus hinsichtlich Lieblingszitaten mehr verehrt wird als Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller oder Thomas Mann. Der Spitzenreiter unter den Favoriten ist das Zitat „Mitten im tiefsten Winter wurde mir endlich bewusst, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer wohnt.“ In populärwissenschaftlichen Büchern, Aufsätzen oder Internetbeiträgen wird dieser Satz besonders oft mit Resilienz assoziiert. Die bekannte ehemalige Fernsehmoderatorin Nina Ruge gab ihrem Resilienz-Buch den Titel „Der unbesiegbare Sommer in uns“.

Das Wort Resilienz beschreibt die seelische Widerstandskraft und soll erklären, was Menschen gesund erhält oder die Gesundheit wiedergewinnen läßt. Nach Traumatisierungen, gravierenden Stressbelastungen oder schweren Schicksalsschlägen ist die Resilenz-Frage besonders virulent. Vulnerable Menschen können an diesen Belastungen scheitern – resiliente Menschen bleiben oft gesund oder werden es wieder. Die moderne Resilienzforschung hat eine lange Tradition von mehr als 70 Jahren. Aktuell steht Resilienz im Focus von zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen – Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, Politik und sogar das Militär.

Die Leibniz-Institute gehören zu den renommiertesten Forschungseinrichtungen Deutschland. Im Jahr 2020 wurde in Mainz das Leibniz-Institut für Resilienzforschung gegründet. Dort wird in 10 Abteilungen Spitzenforschung zur Resilienz geleistet. Was Forscher jetzt enträtseln wollen, hat Albert Camus in vielfacher Hinsicht intuitiv gelebt und in wunderbarer Sprache beschrieben.

Die Hymne vom unbesiegbaren Sommer

Als Albert Camus im Jahr 1951 gefragt wurde, welche Worte eine besondere Bedeutung für sein Leben haben, nannte er zehn Worte. Fünf davon beschreiben Naturphänomene: der Sommer, das Meer, die Erde, die Wüste, die Welt. Die fünf anderen bezogen sich auf das Humane: die Menschen, die Mutter, der Schmerz, das Elend, die Ehre. Die Literaturwissenschaftlerin Iris Radisch hat ihre Camus-Biographie sinnigerweise nach diesen zehn von Camus genannten Worten angeordnet. Im Kapitel „Der Sommer“ wird Camus als „Sonnenanbeter“ beschrieben, für den die Sommertage am Meer die „Urbilder des Gücks“ und einen „unersetzlichen Reichtum“ bedeuten. Er pries die „Herrlichkeit des Lichts“ und rühmte den Sommer als das „Prachtvollste, was die Welt zu geben hat.“ (Iris Radisch, 2013, S. 35 – 50). Dieser emphatische Sprachduktus verdeutlicht die existentielle Ergriffenheit und Begeisterung von Camus. Der Sommer, die Sonne und das Licht spielten als natürliche Kraftquellen und Ressourcen für Camus zeitlebens eine wichtige Rolle. Diese erlebte in seiner Heimat in Algerien und später in seinem zweiten Wohnsitz in der Provence. Seine Zeit in Paris bezeichnete er in seinem Tagebuch als „vergeudete Zeit.“ Besonders geliebt hat er die sehr alte algerische Küstenstadt Tipasa, die bereits von den Phöniziern gegründet wurde und später eine römische Kolonie wurde. Dort genoss er Sommer, Sonne, Licht, Wärme, Wind, Wasser, Sand und Meer. Tipasa taucht verständlicherweise mehrmals in Prosawerken und in seinen Tagebüchern auf. Die Worte vom „unbesiegbaren Sommer“ stammen aus dem Spätwerk „Heimkehr nach Tipasa“, das Camus im Alter von 40 Jahren und damit sechs Jahre vor seinem Unfalltod geschrieben hat.

Vom Analphabeten zum jüngsten Literatur-Nobelpreisträger

Unter den Literatur-Nobelpreisträgern hat Albert Camus eine Sonderrolle. Er kam überhaupt erst spät mit Büchern und Literatur in Berührung. Er wuchs in einem Haus ohne Bücher auf und war von Analphabeten umgeben. Sein Vater starb in seinem ersten Lebensjahr und die Mutter war Analphabetin. Durch einen Lehrer und einen Onkel, bei dem er als Jugendlicher einige Jahre wohnte, wurde er schließlich gefördert und entdeckte die Welt der Literatur.

Die Lektüre der Bücher von André Gide waren für ihn ein „Erweckungserlebnis“ (Iris Radisch 2013). Gide war 44 Jahre älter als Camus und erhielt zehn Jahre vor ihm den Literatur-Nobelpreis. In seinem Hauptwerk „Früchte der Erde“ findet der Leser eine vergleichbar gefühlvolle Naturprosa. Mit dem Umzug nach Paris im Jahr 1940 lerne Camus berühmte zeitgenössische französische Schriftsteller wie Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir persönlich kennen.

Das umfangreiche literarische Werk von Romanen, Dramen und Prosa, das Albert Camus der Nachwelt hinterließ, hat in weniger als zwei Jahrzehnten geschrieben. Er ist insofern mit dem deutschen Dichter Heinrich von Kleist vergleichbar, dem das Schicksal ebenfalls einen frühen Tod und eine kurze Schaffensperiode beschert hat. Camus‘ erstes Hauptwerk „Der Fremde“ erschien im Jahr 1941, sein letzter großer Roman „Der Fall“ im Jahr 1956. Und doch erhielt Albert Camus mit 44 Jahren den Literatur-Nobelpreis verliehen und wurde damit der jüngste Preisträger.

Chronisch krank an Tuberkulose 

Als Gymnasialschüler erkrankte Albert Camus im 17. Lebensjahr an Tuberkulose. Er hatte lange Krankenhausaufenthalte und wurde mit qualvollen Pneumothorax-Therapien behandelt. Damals – im Jahr 1930 – standen in Algerien noch keine wirkungsvollen Antibiotika-Therapien zu Verfügung.

Im Laufe seines kurzen Lebens kam es zu zwei schweren Rückfällen der Tuberkulose. Fieberzustände, Blutspucken, Erschöpfung und Gewichtsverlust schränkten seine Lebensqualität massiv ein und waren letztlich zu dieser Zeit eine gravierende Lebensbedrohung. Der erste große Rückfall war im Jahr 1941 in Paris. Dort hatten gerade die Deutschen Paris besetzt und der 2. Weltkrieg sorgte für erhebliche Bedrohungsszenarien, da sich Camus der französischen Widerstandsbewegung Résistance angeschlossen hatte. Während einer Südamerikareise im Jahr 1949 erlitt er einen weiteren schweren Rückfall der Tuberkulose (Csef 2015). Zahlreiche berühmte Dichter starben an Tuberkulose – im 20. Jahrhundert waren es vor allem Franz Kafka, Anton Tschechow und George Orwell. Der Überlebenskampf angesichts einer jahrzehntelangen lebensbedrohlichen Erkrankung forderten die persönlichen Kraftquellen und Ressourcen von Camus heraus. Dass er diesen Kampf überlebte, verweist vermutlich auf seine hohe Resilienz. Die Tragik des Schicksals liegt wohl darin, dass er trotzdem in jungen Jahren starb, allerdings bei einem Autounfall. Jahrzehntelang hat Camus über das Absurde geschrieben – nun starb er einen „absurden Tod“.

Hohe Resilienz im eigenen Leben

Camus hatte bereits durch seine Tuberkulose viel zu verkraften. Er hatte jedoch bereits vor dem Ausbruch der Tuberkulose und danach viele Schicksalsschläge erlitten. Im ersten Lebensjahr verlor er im 1. Weltkrieg seinen Vater. Die Mutter war Analphabetin und mit vielem überfordert. So wuchs Camus in ärmlichsten Verhältnissen auf. Seine erste Ehe ist gescheitert und die zweite Ehe war durch zahlreiche Krisen gekennzeichnet. Wie ein Damoklesschwert schwebte über ihm die Gefahr einer Trennung und zweiten Ehescheidung. Im Zweiten Weltkrieg schloss er sich der Widerstandsbewegung Résistance an und geriet dadurch in lebensbedrohliche Situationen. Psychisch besonders belastet haben ihn die Auseinandersetzungen mit Jean-Paul Sartre. Aus Freunden wurden Feinde. Der damals einflussreichere Sartre attackierte Camus in wichtigen Zeitschriften. Die Camus-Biographin Iris Radisch sprach in diesem Zusammenhang von einer „öffentlichen Hinrichtung“. Camus hat sich immer wieder von diesen Schicksalsschlägen erholt und hat die zahlreichen Krisen bewältigt. Dies zeugt zweifelsohne von einer hohen Resilienz. Sein letzter Schicksalsschlag war der frühe Unfalltod mit 46 Jahren. Dieser kostete ihm das Leben.

 Überleben und Resilienz in der „Pest“

 Unter den Dramen und Romanen von Albert Camus widmet sich der Roman „Die Pest“ eindeutig am meisten dem Phänomen der Reslienz. Dieser Roman hat zusätzlich eine sehr hohe Aktualität dadurch, dass er sehr minutiös Vorgänge während einer mittelalterlichen Seuche beschreibt, die sehr ähnlich im 21. Jahrhundert während der Corona-Pandemie beobachtbar waren. Nach der Einschätzung der ARD-Reihe „Klassiker der Weltliteratur“ zählt dieser Roman zu den berühmtesten der Weltliteratur. Er wurde in fast vierzig Sprachen übersetzt und erreichte alleine in der französischen Ausgabe eine Auflage zwischen vier und fünf Millionen Exemplaren. Eine der Hauptpersonen dieses Romans ist der Arzt Rieux. Dieser zeigt ein außergewöhnlich hohes Engagement und große Solidarität mit den Kranken und Leidenden. Rieux selbst überlebt im Roman die Pest und zeigt eine bewundernswerte Resilienz. Camus läßt seinem Protagonisten auf der letzten Romanseite ein positives Menschenbild vermittelt. Rieux sagt zum Schluss, „dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.“ (Csef 2020)

Die Resilienz von Sisyphos

„Der Mythos des Sisyphos“ ist ein weiteres bedeutsames Werk von Albert Camus, das sehr viel zum Thema der Resilienz beiträgt. Dieses Buch ist der wichtigste philosophische Essayband von Camus. Er hat ihn im Zweiten Weltkrieg in Paris geschrieben und er ist im Jahr 1942 in französischer Sprache erstmals erschienen. Die zentrale Frage dieses Werkes lautet: Wie kann der Mensch in einer absurden Welt Sinn finden. Um Antworten auf diese Frage zu finden, setzt er sich mit den Existenzphilosophen Karl Jaspers, Friedrich Nietzsche, Sören Kierkegaard, Martin Heidegger und Edmund Husserl auseinander.

Die Werke der bekannten Dichter Dostojewski und Franz Kafka werden ebenfalls in seine Untersuchung einbezogen. Das Schicksal von Sisyphos liegt darin, immer wieder einen Stein den Berg hochbewegen zu müssen, der dann eben wieder zurückrollt. Dieses offensichtlich absurde und sinnlose Unterfangen jedoch erfüllt ihn. Der vorletzte Satz des Essays lautet denn auch: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.“ Sisyphos akzeptiert innerlich diesen unaufhörlichen Kampf mit dem Felsen. Dieses ständige Ringen wird zu „seiner Sache“. Er nimmt sein Schicksal an. Akzeptanz ist ein zentrales Phänomen der Resilienz. Dies bedeutet das Wahrnehmen und Annehmen dessen, „was da ist“, der Wirklichkeit und des Schicksals (vgl. Csef 2014).

Der letzte Satz im Essay von Camus lautet: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

„Mitten im tiefsten Winter wurde mir endlich bewusst, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer

wohnt.“

Warum gerade dieser Satz von Albert Camus besonders häufig im Zusammenhang mit Resilienz zitiert wird, dürfte vertiefte Einsichten in dieses Phänomen bringen. Der „unbesiegbare Sommer“ symbolisiert die Kraftquellen und Ressourcen im Leben von Camus, die oben beschrieben wurden. Mitten im Winter des Jahres 1952 hat er vermutlich diesen Satz geschrieben, der dann später in „Heimkehr nach Tipasa“ zu lesen war. Im Jahr 1952 war der Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Jean-Paul Sartre – die bereits oben erwähnte „öffentliche Hinrichtung“ (Iris Radisch). Camus war tief gekränkt, frustriert und verzweifelt. Diesem Tiefschlag folgte eine lange Schaffenskrise. Nach dem Bruch mit Sartre im 39. Lebensjahr hat Camus nur noch ein bedeutendes Werk geschrieben, den Roman „Der Fall“. Als sich nun Camus in dieser schweren Zeit im Winter 1952 an seinen „unbesiegbaren Sommer“ erinnerte, fand er wieder Zugang zu seinen Kraftquellen und Ressourcen. Dies wurde ihm endlich bewusst. Viel Zeit hatte er dazu gebraucht, bis ihm dies gelang. Dieses Bewusstsein hat ihm neue Kraft gegeben und er hat diesen vielzitierten Satz vom „unbesiegbaren Sommer“ geschrieben. Lange hat dies leider nicht vorgehalten, seine Schaffenskrise holte ihn wieder ein. Aber in seinem Resilienz-Zitat taucht das Wort Bewusstsein auf. Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit sind wichtige Schritte auf dem Weg zur Resilienz. Dies hat die Resilienzforschung immer wieder bestätigt.

Literatur:

Camus, Albert, Die Pest. Abendlandverlag, Innsbruck 1948

Camus, Albert, Der Mythos des Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Rauch, Bad Salzig, Düsseldorf 1950

Camus, Albert, Heimkehr nach Tipasa. Arche, Zürich 1957

Csef, Herbert, Albert Camus zum 100. Geburtstag. Universitas, 68. Jahrg., Nr. 810 (2013) S. 58 -67

Csef, Herbert, Sinnorientierte Lebensentwürfe bei Albert Camus. Ein Brückenschlag zwischen Existenzphilosophie und Psychotherapie. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik 10 (2014)  S.1-8

Csef, Herbert, „Krankheiten sind einsame Abenteuer.“ Albert Camus‘ Überlebenskampf gegen seine Tuberkulose. Tabularasa Magazin 109 (2015) S. 1-2

Csef, Herbert, Das Buch der Stunde. Der Roman „Die Pest“ von Albert Camus in den Zeiten der Corona-Pandemie. Tabularasa Magazin vom 16. April 2020

Radisch, Iris, Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie. Rowohlt, Reinbek 2013

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

herbert.csef@gmx.de

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.