Albert Camus – Per Mausklick geht es nicht ins Glück

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Selbstoptimierung, Selfie-Wahn, Happenings – wer nicht gut drauf ist, wirkt asozial. Konjunktur im Selbstbeweihräucherungsrausch haben die Sozialen Netzwerke, scheinen sie dem Menschen doch Halteseile der Glückseligkeit per se, Definitionen der je eigenen Existenz. Doch näher betrachtet, sind sie banale und platte Verdrängungsoberflächen einer Unkultur, die im Flüchtigen und Belanglosen den Augenblick feiern. Und damit stellt sich die Frage, ob ein Philosoph wie Albert Camus, dessen Denken immer wieder um das Absurde, die Absurdität des Lebens kreiste, im 21. Jahrhundert nicht eine reichlich obsolete Größe geworden ist, mit dem zu philosophieren, bzw. von ihm aus die Welt zu denken, den Blick in die Zukunft eher verstellt als dass sie diese befördert?

Die stählernen Kolosse faschistischer und kommunistischer Ideologie sind verschwunden, doch Ungerechtigkeit, Intoleranz und Kriege geblieben. Das absolute Glück liegt weiterhin in den Sarkophagen und die Wahrheit wird der Meinungsmache geopfert. Geistige GuLags werden errichtet und die Freiheit Andersdenkender steht im Bannstrahl etablierter Deutungshoheiten. Das Irrationale überwuchert die Vernunft, Fake News die Realität, das Bewusstsein taumelt von Happening zu Happening und wird nicht mehr Gewissen. Das Glück ist nicht näher gerückt und das Unglück nicht weniger geworden. Doch medial exponiert hat es sich, flimmert in Echtzeit vom Nord- zum Südpol.

Wenn „The Biggest Loser“ oder „Germany’s Next Topmodel“ mehr Seelenheiler sind

Doch, so ließe sich fragen, verliert das Unglück, das Absurde, damit nicht an Geltungskraft, weil es allgegenwärtig die Auffassungs- und Emotionalität des Menschen überfordert und so zu einer tolerierbaren, einkalkulierten Größe wird, die man wegzappt, wenn die Spannungskurve der Negativitäten überschritten ist, „The Biggest Loser“ oder „Germany’s Next Topmodel“ mehr Seelenheiler werden als das Grauen der Welt dieser bereiten kann? Ist das Absurde Camus‘ im 21. Jahrhundert so nicht eine obsolete Größe geworden, die den Blick in die Zukunft eher verstellt als dass sie diese befördert? Denn das Scheitern-Können gehört nicht mehr in den Katalog der Eitelkeiten des Erfolgsmenschen, der nur auf der Überholspur eilig seine Gewinne kassiert. So droht das Absurde in Zeiten von Handyanbetung und iPad-Seligkeit in die Vergessenheit zu kippen. Im Virtuellen, als neuer Unendlichkeit gedacht, wird die Endlichkeit gestrichen, die Sterblichkeit eher als Ballast als ein Sein-zum-Tode verstanden durch die Sinnfindung und -stiftung aber allererst möglich wird. Und so manifestiert sich die Ego-Gesellschaft als neuer Mensch und weicht im Virtuellen selbst den Tod mit auf.

Per Mausklick ins Glück

Die neuen Oberflächen sind Transhumanismus, Künstliche Intelligenz, Kryonik und Big Data. Und die neuen Reproduktionstechnologien sind drauf und dran, die Differenz zwischen Welt und Ich, für die bei Camus das Absurde stand, aufzulösen und eine Kontinuität zu erzeugen, die auf absolute Erklärbarkeit, Plausibilität, Unsterblichkeit und letztendlich wieder auf einen Totalitarismus der Überwachung hinausläuft. Auflehnung, Freiheit und Leidenschaft, Existentialien camus’scher Glücksfindung gehen Gefahr, in ihr Gegenteil zu kippen, in Angepasstheit und Uniformität. Freiheit wird als Einsicht in das Notwendige verstanden und gerät zur Schablone der schönen, neuen Welt. Die Leidenschaft verkommt zur Schimäre in einer technikaffinen Welt, die in die Brunnenstuben der Macht hinabsteigt und das Bild des Menschen radikal zu ändern sucht. Und die Leidenschaft als das Netz, das emotional verfängt, abzustreifen, ist die neue Resilienz ungestörter Selbstbehauptung, die sich in der iPhone Vereinsamung eine Welt erschafft, die keine Grenze mehr kennt, für die sich die camus’sche Ambivalenz von Sinnhaftigkeit und Glück und der Erfahrung der Sinnlosigkeit gar nicht mehr stellt, per Mausklick ins Glück.

Eben weil die Welt ungerecht ist, müssen wir für die Gerechtigkeit wirken

Camus‘ Philosophie des Absurden mag bei näherer Betrachtung genau die richtige Weltanschauung für fleißige und tapfere Menschen sein, die von der Vergeblichkeit all ihrer Anstrengungen überzeugt sind, und die dennoch ihre Würde behalten wollen, die in aussichtsloser Lage arbeiten und kämpfen und eben deshalb groß und vor sich selbst und den anderen gerechtfertigt sind.

So bleibt Camus der Anwalt genau jener, die zwischen Sinnlosigkeit und Sinnsuche schwanken. Er ist es, der den Gedemütigten und Entrechteten eine Stimme verleiht, einen Humanismus ohne rettenden Anker zugleich, der ihnen aber im Angesicht ihres unwürdigen Schicksals, in ihrer Endlichkeit und Absurdität Unendlichkeit und Ewigkeit verschafft. Denn zeigt sich wahre Größe nicht im Scheitern und dennoch Standhalten, im Gedemütigtwerden und dennoch Würdigsein?

Das Absurde lässt sich nur ästhetisch rechtfertigen

Die Form der Vergegenwärtigung bleibt für den Literaturpreisträger Camus dabei die Kunst und der Künstler ihr Chronist. „Die absurde Welt lässt sich nur ästhetisch rechtfertigen“, notiert er Ende 1942 in seinem Tagebuch. Von Homers „Ilias“ bis hin zu John Waynes „Alamo“ – die gewaltigsten Heldenepen sind Epen des Untergangs. So degradieren die Feuer des versinkenden Trojas die griechischen Sieger zu zuckenden Schatten. Es waren nicht die siegreichen Griechen, sondern die geschlagenen und dem Tode überlieferten Trojaner, die im Scheitern ihre existentielle Würde dokumentierten. Ein Trost bleibt also, selbst in einer Welt, wo das Absurde regiert. Ein Trost, der das Resignieren auflöst, solange er sich mutig dem Kampf stellt. Das macht Camus so aktuell, gerade in Zeiten von Flüchtlingskrise, Hungersnöten, einem heraufeilenden Klimawandel und einem sich in Windeseile verbreitenden neuartigen Coronavirus. All diesen Miseren ist, so würde Camus sagen, nicht gleichgültig zu begegnen, sondern die „Auflehnung stellt die Welt in jeder Sekunde in Frage“, denn der absurde Mensch ist das Gegenteil des Versöhnten. „Der absurde Mensch kann alles nur ausschöpfen und sich selbst erschöpfen. Das Absurde ist seine äußerste Anspannung, an der er beständig mit einer unerhörten Anstrengung festhält; denn er weiß: in diesem Bewusstsein und in dieser Auflehnung bezeugt er Tag für Tag eine einzige Wahrheit, die Herausforderung“.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2159 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".