I. Einleitung
Der Begriff des Schicksals ist seit jeher Gegenstand philosophischer und theologischer Betrachtungen. Ob es ein Schicksal gibt, dem der Mensch unterworfen ist, oder ob er sein Geschick selbst lenken kann, ist auch in Adalbert Stifters Werk eine zentrale Frage.
Um dies zu verdeutlichen, sei die Textstelle des „Schicksalswagens“ aus den drei Fassungen der „Mappe meines Urgroßvaters“ zitiert, wobei die Zeilen, auf die es mir ankommt, kursiv gedruckt sind. In der unvollendeten letzen Fassung der „Mappe“ heißt es über das Schicksal:
Letzte Mappe (LM) 1867
„Das Geschick fährt in einem goldenen Wagen. Was durch die Räder niedergedrückt wird, daran liegt nichts. Wenn auf einen Mann ein Felsen fällt oder der Blitz ihn tötet, und wenn er nun Alles nicht mehr wirken kann, was er sonst gewirkt hätte, so wird es ein anderer tun. Wenn ein Volk dahin geht, und zerstreut wird, und das nicht erreichen kann, was es sonst erreicht hätte, so wird ein anderes Volk ein Mehreres erreichen. Und wenn ganze Ströme von Völkern dahin gegangen sind, die Unsägliches und Unzähliges getragen haben, so werden wieder neue Ströme kommen, und Unsägliches und Unzähliges tragen, und wieder neue, und wieder neue, und kein sterblicher Mensch kann sagen, wann das enden wird. Und wenn du deinem Herzen wehe getan hast, dass es zucket und vergehen will, oder dass es sich ermannt und größer wird, so kümmert sich die Allheit nicht darum, und dränget ihrem Ziele zu, das die Herrlichkeit ist. Du aber hättest es vermeiden können, oder kannst es ändern, und die Änderung wird dir vergolten; denn es entsteht nun das Außerordentliche daraus.“
Studienfassung der Mappe (StM) 1847
„Man sagt, dass der Wagen der Welt auf goldenen Rädern einhergeht. Wenn dadurch Menschen zerdrückt werden, so sagen wir, das sei ein Unglück; aber Gott schaut gelassen zu, er bleibt in seinen Mantel gehüllt und hebt deinen Leib nicht weg, weil du es zuletzt selbst bist, der ihn hingelegt hat; denn er zeigte dir vom Anfange her die Räder, und du achtetest sie nicht. Deswegen zerlegt auch der Tod das Kunstwerk des Lebens, weil alles nur Hauch ist, und ein Reichtum herrscht an solchen Dingen. – Und groß und schreckhaft herrlich muß das Ziel sein, weil dein unaussprechbar Wehe, dein unersättlich großer Schmerz nichts darinnen ist, gar nichts – oder ein winzig Schrittlein vorwärts in der Vollendung der Dinge. Das merke Dir.“
Urfassung der Mappe (UM) 1841
In der Urfassung wird der Schicksalswagen noch nicht angesprochen. Nachdem das Vertrauen geschildert wird, das ein Kind seinem Vater entgegenbringt, heißt es:
„So ein Vertrauen ist bloß eines. Aber wenn der andere Vater etwas tut, was uns entsetzliches Unheil deucht, so schreien wir, es sei gänzlich vom Argen, und rechnen es als pures Unding an, statt daß wir sagen: wie groß muß Ziel und Zweck der Allheit sein, daß dies mein grenzenloses Unglück bloß ein Schrittlein der großen Reise ist, und ach – vielleicht nur ein unbedeutendes. Vor Gottes Augen macht es einen geringen Unterschied, ob du bist oder
nicht – das merke dir wohl.“
In diesen Textstellen tritt ein Widerspruch offen zutage.
Auf der einen Seite wird das Schicksal als unabänderlich grausam einherrollender Wagen dargestellt, der die Menschen „zerdrückt“, wobei „daran nichts liegt“, denn die Allheit schaut gelassen, „in den Mantel gehüllt“, zu.
Andererseits drücken die Textpassagen aber ein weiteres Spektrum von Gedanken aus:
Der Einzelne kann das Schicksal vermeiden, es beeinflussen, ja sogar selbst in die Hand nehmen (Stifters Bild vom „Arm in den Speichen der Weltgeschichte“). Diese Menschen tun dann „das Ausserordentliche im Guten wie im Bösen glatt und gelassen“.
Diese Antinomie lässt sich nur schwer auflösen, auch die Stifterforschung hat sich darum schon vielfach vergeblich bemüht – jeder Interpret kommt zu einem anderen Ergebnis.[1]
Die sinnvollste Auflösung dieses Problems gelingt wahrscheinlich Elisabeth Märkisch[2].
Sie konstatiert Stifters innere Zerissenheit, seine „Zweiheit“, die auch seine Werke durchzieht, und fasst am Ende Stifters Schicksalsvorstellung folgendermaßen zusammen:
„Nach dem Sinn des transzendenten Schicksals fragt Stifter und begreift aus tief religiösem Gefühle heraus in immer sich steigernder Gewißheit die Notwendigkeit alles Geschehens. Das Erkennen des immanenten Schicksals soll die Menschen wach dafür machen, daß sie ein Gesetz in sich befolgen müssen, das als Sittengesetz auch das Weltall durchwaltet“.
Diese Einschätzung ist, denke ich, ein interessanter Ansatz.
Weiterhelfen könnte meines Erachtens auch der Bezug auf Kant, der den Menschen als Bürger zweier Welten betrachtete, der natürlichen Welt der Erscheinungen und der intelligiblen Welt der Dinge an sich. Da in der natürlichen Welt der Erscheinungen durchgängige Kausalität herrscht, ist das Handeln der Menschen als Naturwesen kausal bestimmt, als Vernunftwesen (sittliches Wesen) hat der Mensch jedoch ebenso an der intelligiblen Welt und damit auch an der Freiheit teil, die sich im Sittengesetz verkörpert (Kant, KdpV, I, 1, 3).
Auf diesen Gedanken bezieht sich Schiller in seinem Brief an Körner vom 18. Februar 1793, worin er den entscheidenden Punkt seiner Kantlektüre artikuliert:
„Es ist gewiss von keinem sterblichen Menschen kein größeres Wort noch gesprochen worden, als dieses Kantische, was zugleich der Inhalt seiner ganzen Philosophie ist: Bestimme dich aus dir selbst; Sowie dass in der theoretischen Philosophie: Die Natur steht unter dem Verstandesgesetze.“[3]
Der vorliegende Artikel ist der Versuch, so detailliert wie möglich aufzuzeigen, dass der Schicksalsbegriff Stifters eng mit seinem Entwurf des „sanften Gesetzes“ verbunden ist, sowie deutlich zu machen, dass das Denken Stifters nicht eine „biedermeierliche Niesche“ der Literatur ist, sondern sowohl der Geschichte des europäischen Denkens wie dem Weg in die Moderne verpflichtet ist.
Das „sanfte Gesetz“ als ethische Richtlinie kann nur der befolgen, der im stifterischen Sinne die „Forderung der Dinge“ verstehen und in sich realisieren kann. Diese Forderung kann nur verstehen, wer um sie weiß. Wissen und Gewissen bedingen bei Stifter einander. Das scheinbar sinnlose Walten des Schicksals bekommt eine Ordnung, indem man selbst den Dingen gemäß handelt und dem Leben einen Sinn gibt.
Diese Arbeit kreist also um drei zentrale Begriffe Stifters, die anhand seiner späten Romane, des Witiko, des Nachsommer und der letzten Fassung der Mappe herausgearbeitet werden sollen: Schicksal, sanftes Gesetz als Vernunft- und Sittengesetz und die „Dinge“.
II. Die Forderung der Dinge
Um diesen Zusammenhang näher zu betrachten, muss beim kleinsten Baustein angefangen werden. Stifter benutzt das Wort „Ding“ außergewöhnlich oft in all seinen Dichtungen. Daher scheint es notwendig, den Ding-Begriff selbst zu erläutern, in seiner allgemeinen Bedeutung und als Schlüsselwort Stifters.
Der Begriff „Ding“ ist schwer fassbar und kann sehr viele Bedeutungen haben. Das Grimmsche Wörterbuch von 1860 zählt 19 Bedeutungen auf. Man gebraucht es nicht nur für das kantische „Ding an sich“, sondern auch in Wendungen wie: Sie war ein lustiges Ding (Ding = „junges Mädchen“), Gläser sind zerbrechliche Dinge (Ding = „Gegenstand“), Ihn zur Ordnung zu bringen, ist ein schwieriges Ding (Ding = „Aufgabe, Angelegenheit“) oder gar als freien Platzhalter wie etwa in Aller guten Dinge sind drei.
Hatte es ursprünglich einen fest umrissenen Bedeutungsrahmen, nämlich als Thing, der germanischen Volksversammlung, so beginnt es sich seit dem 8. Jh. n. Chr. aus diesem Rahmen zu lösen und bezeichnet nun auch den Zeitabschnitt und den Platz, an dem ein Thing abgehalten wird. Im 11. Jh. n. Chr. wird es auch für die Sache, die zur Verhandlung steht, gebraucht. Damit begann die Bedeutungsverschiebung von einem Konkretum zu einem abstrakten Begriff, mit dem man vielerlei Sachen, aber auch allgemeine Geschehnisse bezeichnen kann. Für Stifters Gebrauch des Begriffes Ding ist es entscheidend, dass es ab dem 12. Jhd. als Gegenstand einer gerichtlichen Verhandlung in die Sphäre der lateinischen Begriffe causa, negotium und res rückt.[4]
Der Begriff res ist einer der Kernbegriffe der mittelalterlichen Philosophie und Theologie, der Stifter aus seiner Zeit als Schüler im Stift Kremsmünster mit Sicherheit bekannt war. Stellvertretend für res findet sich z. B. bei Thomas von Aquin der Begriff ens, „das Seiende“. Damit verbunden ist eines der alten Transzendentalien, dass nämlich alles Seiende wahr und auf den Menschen als Erkennenden bezogen ist, oder wie das scholastische Diktum heißt:
Omne ens est verum.
Dieser Satz lässt sich als Gedanke bis in die antike Philosophie zurückverfolgen, vor allem bei Platon und Aristoteles, die für die Philosophie des Mittelalters bestimmend waren, findet sich diese Ansicht. Für Platon sind die Ideen als die ewigen, vollkommenen, ganz und gar wirklichen Urbilder des endlichen, unwollkommenen Seienden das, was eigentlich wahr, d.h. erkennbar ist. Die Ideen bestimmen die Wesenheit der Dinge und zeichnen sich dadurch aus, dass ihnen ein höherer Seinsgrad als der sinnlich wahrnehmbaren Erfahrungswirklichkeit zukommt. Ihnen muss sich daher zuwenden, wer wahre Aussagen machen und wer ein vollkommener Mensch werden will (Höhlengleichnis). Das höchste Ziel des Philosophen ist laut Platon das Schauen der Idee des Guten, die als höchste Idee den anderen Ideen gegenüber ontologisch übergeordnet ist.
Auch bei Aristoteles heißt es in der Metaphysik: „Jedes Seiende verhält sich zur Wahrheit genau so, wie es sich zum Sein verhält.“ Zwar kommt jedem Seienden Wahrheit, d.h. Erkennbarkeit, zu, aber in dem Maße, wie es wirklich ist. „Den höchsten Grad von Wahrheit hat also dasjenige, was für das Spätere Ursache von Wahrheit ist. Darum müssen die Ursprünge des ewig Seienden immer die höchste Wahrheit haben.“
Thomas von Aquin hat dieser Vorstellung die deutlichste Ausprägung und Begründung gegeben[5]. Er lehrt, am überzeugendsten in den Quaestiones disputatae de veritate, dass das verum als ein Transzendentale neben dem ens, bonum, aliquid allem Seiendem zukommt; dass es gleichzeitig bezogen ist auf ein anderes Sein, den erkennenden Geist, der darauf angelegt ist, mit allem, was Sein hat, überein zu kommen, ja, der im bestimmten Sinne „alles Seiende ist“ (quodammodo omnia)[6]. Wenn er erklärt: „Das Studium der Philosophie hat nicht den Sinn, zu erfahren, was andere gedacht haben, sondern zu erfahren, wie die Wahrheit der Dinge sich verhält“[7], so ist das die philosophische Umschreibung dessen, was Stifter dichterisch gestaltet hat, in seinen Gestalten und dem von ihnen ausgehenden Geschehen.
Auch in der neuzeitlichen Philosophie ist dieser Gedanke präsent. Zum Beispiel Spinoza schreibt in seiner Ethik, dass in der Natur der Dinge nichts Zufälliges läge:
„…sondern alles ist kraft der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise zu existieren und zu wirken.“[8]
Auch wenn man Stifters Haltung, die er dem Freiherrn von Risach in den Mund legt, voraussetzt, dass er aus Dichtern und der Geschichte mehr gelernt hätte als aus der „Weisheitslehre“, so sagt Stifter dort auch:
„Ich habe alte und neue Werke derselben mit gutem Willen durchgenommen …“[9]
Dies belegt, dass man zu Recht davon ausgehen kann, dass Stifter die wesentlichen Werke auch der neueren Philosophie gekannt haben wird.
Dichter wie Jean Paul und E. T. A. Hoffmann haben auf das Frühwerk Stifters einen großen Einfluß ausgeübt, für seine späteren Erzählungen sind jedoch klassische Autoren wie Herder und Goethe das Vorbild. In der italienischen Reise von Goethe heißt es ganz stifterisch:
„Ich gehe nur immer herum und sehe und übe mein Aug und meinen innern Sinn … Du weißt, was die Gegenwart der Dinge zu mir spricht, und ich bin den ganzen Tag in einem Gespräche mit den Dingen“.[10]
Für Stifter gibt es eine enge Verbindung zwischen der Wirklichkeit und der Wahrheit. Die Figuren in Stifters Werken sind auf die Wirklichkeit bezogen, oder – wie es in betonter Weise in seinen späteren Romanen seit dem Nachsommer heißt – auf die Dinge.
Richtiges und damit sittlich gutes Verhalten ist für Stifter eine Haltung den Dingen und damit der Wirklichkeit gegenüber. Mit Ding bezeichnet Stifter den gesamten Bereich des Wirklichen, nicht nur Sachdinge, sondern auch Begebenheiten, Vorgänge des menschlichen Lebens im Einzelnen wie im Großen. In seinem ausschweifenden Gebrauch dieses Begriffes ist Stifter einzigartig. Er kann im Witiko[11] nicht nur sagen: „Ein heiliges Ding[12]“; „die Dinge des Krieges[13]“; „sprechen von Dingen, die gewesen sind“[14]; sondern auch: „Du wirst doch ein Ding haben, das ein Name ist“[15]; „alles andere lag nicht in meinen Dingen“[16]; „Der Rat ist überall ein gutes Ding“[17]; „erlebet recht große Dinge“[18]; „So habe ich die Dinge gesehen und gehört, und so habe ich sie geredet“[19].
Stifter gebraucht den Begriff „Ding“ nicht aus Einfallslosigkeit oder Ausdrucksarmut, sondern aus einem ganz bestimmten Anliegen heraus, das er im Nachsommer folgend zusammenfasst:
„Denn in Sachen der Natur muß auf Wahrheit gesehen werden.“[20]
Das Ziel seiner Dichtung ist, Wahrheit künstlerisch zu vermitteln. Es geht ihm um die Erkenntnis der Dinge, um die Erkenntnis ihres Wesens, ihrer Wirklichkeit, ihrer Wahrheit, darum, wie „die Dinge in der Welt ein Angesicht haben“[21]. Damit drückt Stifter eine Idee aus, die auch der von ihm sehr geschätzte Herder schon formuliert hatte:
„Dächten wir Sachen statt abgezogener Merkmale und sprächen die Natur der Dinge aus statt willkürlicher Zeichen, so lebe wohl, Irrtum und Meinung, wir sind im Lande der Wahrheit.“[22]
Im Nachsommer sagt Heinrich von sich:
„Ich war schon als Knabe ein großer Freund der Wirklichkeit der Dinge gewesen, wie sie sich so in der Schöpfung oder in dem geregelten Gange des menschlichen Lebens darstellte.“[23] Etwas weiter heißt es dort: „Auch konnte ich es nicht leiden, wenn man einen Gegenstand zu etwas anderem machte, als er war.“[24]
Damit wird eine Haltung ausgedrückt, die immer auf das Sosein eines Dinges, was auch immer es sei, bedacht ist, und die es als Pflicht ansieht, es in seinem Eigensein unbedingt zu achten und bestehen zu lassen. Wenn man dieser Forderung gemäß handelt, handelt man in Stifters Sinne sittlich, denn auch für Stifter besteht das Wesen des guten Handelns in dem Tun in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit als dem Sein, als dem Wahren.
Auch hier ist die Nähe zur alten abendländischen Metaphysik wieder deutlich, sagt Thomas von Aquin doch:
„Wer das Gute wissen und tun will, der muß seinen Blick richten auf die gegenständliche Seinswelt. Nicht auf die eigene „Gesinnung“, nicht auf das „Gewissen“, nicht auf die „Werte“, nicht auf eigenmächtig gesetzte „Ideale“ und „Vorbilder“. Er muß absehen von seinem eigenen Akt und hinblicken auf die Wirklichkeit.“[25]
Dieses Zitat umschreibt genau die Gestalten Stifters. Die Figuren Stifters meistern das Schicksal, wenn sie der Wirklichkeit gemäß handeln, sie versagen, wenn sie – wie etwa im Waldgänger – einen getrübten oder von persönlichen Vorstellungen irrigen Blick auf die Forderung der Dinge haben. So sagt der Freiherr von Risach von seinem Handeln:
„Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind, war bei mir so groß, daß ich … nicht auf unseren Nutzen sah, sondern auf das, was die Dinge nur für sich forderten, und was ihrer Wesenheit gemäß war, damit sie das wieder werden, was sie waren, und das, was ihnen genommen wurde, erhalten, ohne welche sie nicht sein können, was sie sind.“[26]
Das wird im Witiko noch deutlicher zusammengefasst und auf den Punkt gebracht. In der Versammlung auf dem Wysehrad, als jemand zu Witiko sagt, sie würden aufgrund ihrer Meinungen Gegner werden, antwortet dieser:
„Ich weiß nicht, ob wir in unseren Meinungen Gegner sein werden, ich habe gar keine Meinung, ich erwarte nur die Dinge.“[27]
Dass die unbedingte Beachtung der Wirklichkeit auch ein moralisches Gebot ist, wird im Gespräch Witikos mit dem Kardinal deutlich:
´„Ich suchte zu tun, wie es die Dinge fordern und wie die Gewohnheit will, die mir in der Kindheit eingepflanzt ist“ … „Und wenn du zu tun strebst, was die Dinge fordern, so wäre gut, wenn alle wüssten, was die Dinge fordern, und wenn alle täten, was die Dinge fordern; denn dann täten sie den Willen Gottes.“ … „Oft weiß ich nicht, was die Dinge fordern.“ … „Dann folge dem Gewissen, und du folgst den Dingen“`[28]
Diese Sätze verraten, dass Stifter davon überzeugt war, dass die Welt eine göttliche Ordnung hat und dass sie in einem objektiven Sinne gut ist. Dem Gewissen zu folgen ist eine Maxime für menschliches Handeln. Ein untrügliches Gewissen kann man nur haben, wenn man um die Dinge weiß, wenn man weiß, was sie für ein Angesicht haben, wenn man sich als Person in bewusster Freiheit in die göttliche Ordnung einfügen kann. Stifter verfolgt hier einen Gedanken Hegels, der in der Einleitung in die Geschichte der Philosophie schreibt:
„Die Freiheit ist einerseits Willkür. Insofern aber die Freiheit in sich selber vernünftig ist, das Subjektive sich selbst bestimmt nach dem Vernünftigen, so hat die Freiheit, die damit aufhört, Willkür zu sein, das Wahrhafte in sich; oder indem die Freiheit diejenige ist, die das Vernünftige in sich fasst, so fasst sie das Göttliche in sich.“[29]
Wissen und Gewissen in freiem Hören auf die Ordnung der Dinge sind somit nahezu identisch. Um im Geiste Kants zu schreiben: Für Stifter gibt es keine Kluft zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, das Vermögen der Erkenntnis und das der moralischen Entscheidung fallen zusammen. Für diese Ansicht spricht auch die Einleitung in die Studienfassung des Abdias[30]:
„Aber eigentlich mag es weder ein Fatum geben, als letzte Unvernunft des Seins, noch auch wird das Einzelne auf uns gesendet; sondern eine heitre Blumenkette hängt durch die Unendlichkeit des Alls und sendet ihren Schimmer in die Herzen – die Kette der Ursachen und Wirkungen – und in das Haupt des Menschen ward die Schönste dieser Blumen geworfen, die Vernunft, das Auge der Seele, die Kette daran anzuknüpfen, und an ihr Blume um Blume, Glied um Glied hinab zu zählen bis zuletzt zu jener Hand, in der das Ende ruht.“[31]
Das Wirken des Schicksals erscheint den Menschen unerbittlich und sinnlos, weil sie einen verstellten Blick auf die Dinge haben. Sie machen sich, um mit Jean Paul zu sprechen, „die kurze und kalte Winternacht, die das Leben bedeutet, noch kürzer und kälter.“
Aus Stifters Werken spricht ein tiefer, in der Tradition des Humanismus wurzelnder, erzieherischer Impetus. Damit wird der Gedanke, den Dingen gemäß zu handeln, ein sittlicher Anspruch, der gelernt werden kann und gelernt werden muß.
Im Witiko heißt es in einem Gespräch zwischen Witiko und seinem geistlichen Mentor Benno:
„Du hast nun in der Zeit, in der Du fort gewesen bist, Dinge der Welt gesehen, wie sie Schicksale der Menschen gründen und stürzen“ … „Ich habe daher in den Dingen, bei welchen ich jetzt war, manches gelernt und werde bei anderen Dingen wieder manches lernen“ … „Und wenn du in menschlichen Dingen gelernt hast und noch lernen wirst, so ist es wie bei uns allen, die wir lernen müssen, bis wir in das andere Leben kommen.“[32]
III. Das sanfte Gesetz
Indem man lernt, auf die Forderung der Dinge zu hören, verwirklicht man den Grundsatz, welchen Stifter das „sanfte Gesetz“ nennt. Was er darunter versteht, hat er am deutlichsten in der Vorrede zu seinem Erzählband Bunte Steine dargelegt. Das sanfte Gesetz zeigt sich in allem Geschöpflichen und ist nicht nur auf den Menschen bezogen. Dennoch kann man Stifter nicht den Vorwurf machen, wie es als erster schon Hebbel getan hatte, er könne nur das Außermenschliche darstellen. Wenn man Stifter nur als biedermeierlichen Naturdichter begreift, verkennt man die Auffassung von Dichtung bei Stifter.
Menschliches und Außermenschliches sind für Stifter durch das sanfte Gesetzt miteinander eng verbunden. Für die Dingwelt besagt das sanfte Gesetz, dass jedes Ding, wie klein und unbedeutend es auch scheinen mag, in der Welt seinen Platz hat und dass es für das Weltganze wichtig und bedeutsam ist:
„Das Wehen der Luft das Rieseln des Wassers das Wachsen der Getreide das Wogen des Meeres das Grünen der Erde das Glänzen des Himmels das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Bliz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind. … Nur augenfälliger sind diese Erscheinungen, und reißen den Blick des Unkundigen und Unaufmerksamen mehr an sich, während der Geisteszug des Forschers vorzüglich auf das Ganze und Allgemeine geht, und nur in ihm allein Großartigkeit zu erkennen vermag, weil es allein das Welterhaltende ist.“[33]
Nur wenn man den Blick für das Allgemeine hat und lernt, Achtung vor jedem Teil der Wirklichkeit zu haben, kann man auch sittlich gegen andere Menschen wirken und das sanfte Gesetz zwischenmenschlich verwirklichen:
„Es gibt daher Kräfte, die nach dem Bestehen der gesammten Menschheit hinwirken, die durch die Einzelkräfte nicht beschränkt werden dürfen, ja im Gegentheile beschränkend auf sie selber einwirken. Es ist das Gesez dieser Kräfte das Gesez der Gerechtigkeit das Gesez der Sitte, das Gesez, das will, daß jeder geachtet geehrt ungefährdet neben dem Andern bestehe, daß er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle anderen Menschen ist. Dieses Gesez liegt überall, wo Menschen neben Menschen wohnen, und es zeigt sich, wenn Menschen neben Menschen wirken. Es liegt in der Liebe der Ehegatten zueinander in der Liebe der Eltern zu den Kindern der Kinder zu den Eltern in der Liebe der Geschwister der Freunde zu einander in der süßen Neigung beider Geschlechter in der Arbeitsamkeit, wodurch wir erhalten werden, in der Thätigkeit, wodurch man für seinen Kreis für die Ferne für die Menschheit wirkt, und endlich in der Ordnung und Gestalt, womit ganze Gesellschaften und Staaten ihr Dasein umgeben, und zum Abschlusse bringen.“[34]
Das sanfte Gesetz verlangt, dass jeder Mensch und jedes Ding als einzigartiges Individuum, als „Kleinod“ geachtet werde.
Das ist aber nur dort möglich, wo es die Achtung vor der Menschheit generell gibt, wo es eine Vorstellung davon gibt, was es heißt, ein Mensch zu sein. Das muß man erst lernen. Deshalb betont Stifter überall in seiner Dichtung die große Wichtigkeit der Selbstvervollkommnung durch Erziehung und Bildung. „Nur daß er selber etwas werde, ist für jeden ein Glük“ sagt der Obrist in der letzten Fassung der Mappe.[35]
Es wird oft darauf hingewiesen, dass Stifters Figuren blass und leblos scheinen, dass sie „sanfte Unmenschen“[36] seien, dass es Stifter nie gelungen sei, individuelle Charaktere zu schildern. Diese Kritik übersieht jedoch, dass es Stifter überhaupt nicht darum geht, besonders einfallsreich irgendwelche Einzelschicksale zu schildern. Seine Figuren sind Typen, die eine bestimmte Einstellung zur Wirklichkeit wiedergeben sollen. Im Besonderen zeigt sich für Stifter das Allgemeine – das allgemeine welterhaltende sanfte Gesetz.
Bis hierhin ist gesagt worden, dass Stifters Verhältnis zur Welt in dem Bemühen besteht, zu erkennen, was die ´Dinge für ein Angesicht haben`. Weiterhin, dass das Gutsein des Menschen auf dem Handeln nach der Wirklichkeit beruht. Gut ist, was der Natur der Dinge entspricht; gut handelt, wer der ´Forderung der Dinge` gerecht wird. Indem man so handelt und damit das sanfte Gesetz realisiert, kann man sich über sein Schicksal erheben.
- Das Schicksal
Alle am Beginn dieser Arbeit angeführten Zitate aus den verschiedenen Fassungen der Mappe machen deutlich, dass Stifter keineswegs einen ausschließlich positiven Begriff von ´Schicksal` hatte. In vielen seiner Erzählungen tritt die Natur dem einzelnen Menschen und seinem Schicksal entweder gleichgültig oder drohend gegenüber. Das kann man nicht übersehen, zeigt es sich doch an zu vielen Stellen in den Geschichten Stifters, etwa am Eisbruch in der Studienfassung der Mappe, im Bild der zerstörten Burg im Hochwald, im rettenden und zugleich zerstörerischen Blitzschlag im Abdias, im Schneefall in der Erzählung Bergkristall, in der Pest in Granit, im Holzriesengang des Obristen in allen Fassungen der Mappe usw.
Aus Stifters Werken spricht kein flacher Optimismus. Es ist nicht so, dass die Dinge ohne weiteres und in jeder Hinsicht gut sind. Sie können es aber werden. Das bedeutet nicht, dass die Dinge von alleine gut werden, sondern der Mensch muß der Wirklichkeit, die ihm auf den ersten Blick gleichgültig gegenübertreten mag, ein anderes Angesicht geben. Insofern haben Stifters Figuren etwas heroisches. Die Forderung der Dinge zu realisieren erfordert eine enorme Selbstdisziplin und Kraft – zur Selbstbescheidung.
An der Figur des Obristen der Mappe soll Stifters literarische Form der Wirklichkeitsbewältigung deutlich gemacht werden.
Der Obrist versucht, seinem zuerst unglücklichen und ausschweifenden Leben Sinn und Ordnung zu geben, indem er das Vorgefallene aufschreibt, versiegelt und nach einer Frist von drei Jahren wieder liest. Durch diese Auseinandersetzung mit sich selbst gelingt es dem Obristen, seine eigene Identität zu gewinnen und mit dem Geschick, das ihn ereilt hat, auseinanderzusetzen und es anzunehmen:
„In jener Zeit lernte ich ein Mittel gebrauchen, von dem ich glaube, daß ich ihm alles verdanke, was ich geworden bin.“[37]
Das Schreiben des Tagebuches ermöglicht es dem Obristen, ein gleichmäßiges, fürsorgend-tätiges Leben zu führen und im Sinne des sanften Gesetzes zu wirken. Die Mappe meines Urgroßvaters enthält als zentrales Thema die Identitäts- und Sinnfindung des Einzelnen und die Hoffnung, dass man lernen kann, sich der Wirklichkeit gegenüber angemessen zu verhalten.
Dann kann daraus das Außerordentliche entstehen, das geeignet ist, den Gang des Weltwagens zu ändern:
„Du aber hättest es vermeiden können, oder kannst es ändern, und die Änderung wird dir vergolten; denn es entsteht nun das Außerordentliche daraus.“
Was soll das Außerordentliche sein, von dem Stifter in der letzten Fassung der Mappe erzählt? Das Außerordentliche ist das Ergebnis einer bestimmten Handlungsweise. In den „Wiener Salonscenen“ heißt es, dass unter den Besuchern des Salons „manch tiefer, gewaltiger Charakter gewesen sein [mag], der seinen Arm in den Speichen der Weltgeschichte hat“.[38] Solche Menschen tun „das Außerordentliche im Guten wie im Bösen glatt und gelassen“.[39]
In seinem Aufsatz „Über die Behandlung der Poesie in Gymnasien“ gebraucht Stifter das Außerordentliche als Ausdruck für das künstlerische Genie. Er klagt darüber, dass mancher seiner Zeitgenossen etwa den falschen Gebrauch des Verstandes, der von der gewöhnlichen Ordnung abweicht, für das Genie und seine im positiven Sinne aus der Ordnung ausscherende Kraft selbst hält:
„Heutzutage ist es freilich so, daß Mancher in solche Zeichen und Absonderlichkeiten hohe Gaben und Außerordentliches setzt.“[40]
Der Begriff „das Außerordentliche“ kennzeichnet bei Stifter aber nicht nur Handlungsweisen oder besondere geistige Anlagen, sondern auch Lebensentwürfe und Verfehlungen mancher seiner Figuren. Die Zukunftspläne des Waldgängers in der gleichnamigen Erzählung bleiben unverwirklicht, weil er nicht erkannt hatte, dass die Liebe und das Glück der gegenseitigen Zuneigung wichtiger gewesen wären als sein Kinderwunsch. „Jenes Ungeheure und Außerordentliche, welches sich in der Zukunft des Wanderers vorgespiegelt hatte, war nicht eingetreten.“[41]
Das Außerordentliche ist für Stifter kein äußeres, extremes Geschehen, sondern etwas Verborgenes, das man durch falsches oder übereiltes Handeln verfehlen kann. Das Außerordentliche und der Schicksalswagen bilden einen Sinnzusammenhang, der aufgedeckt werden muß.
Der Obrist verwirklicht das Außerordentliche durch seine Lebensführung. Zuerst fremd in Thal ob Pirling lebt er sich doch bald ein und ist durch sein selbstloses und stilles Wirken bei allen Bewohnern des Dorfes und der Umgebung beliebt. Für den Erzähler Augustinus ist er ein Vorbild und eine Person, die das sanfte Gesetz als ethische Richtlinie aus seinem Wesen heraus verwirklicht.
Ein gutes Beispiel ist die Hilfe, die Augustinus vom Obristen erhält, als er sich mit Selbstmordgedanken quält. Der Obrist liebt Augustinus, er befürchtet ein Unheil und möchte dem Schmerzerfüllten helfen, den ruhigen Blick auf die Dinge wiederzugewinnen. All dies ist in dem kleinen Vorgang Bild geworden, dass der Obrist dem Doktor nachgeht, ihn bittet, einmal seine Lebensgeschichte anzuhören und ihn darauf aufmerksam macht, „wie heuer das liebe Korn so schön steht“.[42]
Als der Doktor daraufhin zum Obristen kommt, schildert dieser ihm seine Lebensgeschichte und den tödlichen Absturz seiner Frau im Hochgebirge. In dieser Episode zeigt sich das Schicksal als sinnlos zerstörerisch, so dass man in ein tiefes Grübeln gerät über den Urgrund aller Dinge und sich fragt „warum nun dieses?“.
- 1 Der Holzriesengang
Der Obrist und seine Frau verirren sich in den Bergen:
„Im Nachhausegehen gelangten wir, ich wusste nicht wie, in eine fremde Gegend, welche nicht die Richtung war, in der ich die Berge hatte verlassen wollen.“[43]
Das Unvorhergesehende schleicht sich hier zwar ein, wird aber sogleich wieder relativiert, denn die Gegend stellt sich als bewohnt heraus und der Weg, den die beiden gehen, ist benutzt und zeigt „zahlreiche nach abwärts gerichtete Menschenfußtritte“.[44]
Diese Fußtritte führen zur Holzriese. Die Frau des Obristen ist sogar „über die gelegene Verbindung fröhlich“.[45]
Jeder Verdacht, das Betreten der Riese sei leichtsinnig, wird ausgeräumt:
„ … wir gingen daran, zu untersuchen, ob die Riese in gutem Stande sei, und zwei Menschen tragen könne. Daß sie erst kürzlich gebraucht worden war, zeigten da, wo sie an die Felsen eingerammt war, verschiedene Merkmale … Blöke und Stangen … lagen umher, der Boden war theils aufgewühlt, theils gewalzt, theils von Menschenfüßen ganz zertreten“.[46]
Damit nicht genug, gibt ein Waldarbeiter, der durch seine Arbeit mit der Riese bestens vertraut ist, letzte Sicherheit: „Die Riese ist freilich gangbar, es sind meine Genossen, fünf an der Zahl, hinüber gegangen.“[47]
Trotz dieser Versicherungen stürzt die Frau des Obristen in den Abgrund. Nicht, dass die Riese gebrochen wäre, das Ding ist von allen richtig eingeschätzt worden. Es gibt für dieses Unglück keine vernunftgemäße Erklärung. Zudem ist die Gegend des Ereignisses völlig unbeteiligt, die Natur bleibt gleichgültig gegen das Leiden des Obristen. Das Dunkle, Fremde und Verheerende bricht grundlos auf den Obristen ein. Eine moralische Schuld kann man dem Obristen nicht zusprechen, hat er sich doch liebevoll um seine Frau gekümmert und ist von ihr auch widergeliebt worden. Aber auch die menschliche Umwelt bleibt unbekümmert:
„Im Fahren sah ich, dass die Leute auf den Feldern und in den Gärten ihre Arbeiten thaten, als ob nichts geschehen wäre.“[48]
Die Dinge nehmen weiter ihren unbeirrbaren Lauf, „nur daß sie dahin war, und daß es war wie der Verlust einer goldenen Mücke.“[49] Damit hat Stifter zwei Perspektiven der Welterfahrung ineinander gearbeitet. Einerseits ist der Verlust des geliebten Menschen für den Obristen von größter Wichtigkeit, andererseits ist das Geschehnis ein unbedeutendes Ereignis, wie der Verlust einer Mücke. Der Weltwagen rollt unbeirrt weiter und kümmert sich nicht um den Schmerz des Obristen. Für das Geschick ist das Unglück des Einzelnen unbedeutend. Die Metapher der goldenen Mücke versinnbildlicht die enge Beziehung zwischen dem goldenen Wagen, dem der Verlust der Frau nichts ist (eine Mücke), aber für den Obrist bedeutet er alles (golden).
Der Abgrund veranschaulicht die Begegnung des Obristen mit dem Außerordentlichen, wenn man die Weltwagenallegorie so deuten will. Das Außerordentliche wäre demnach die Konfrontation mit dem drohenden Geschick als dämonischem Schicksal, einem Schicksal, demgegenüber der Mensch nur ein „Mückendasein“ führt, gegen das er sich nicht sichern kann, das zu reflektieren ihm aber als ewige Aufgabe aufgetragen ist:
„Der Geist ist nur, wozu er sich macht; dazu ist es notwendig, daß er sich voraussetzt. Nur die Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte versöhnen, daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur von Gott kommt und nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk Gottes selbst ist.“[50]
So hat das Außerordentliche auch ebenso einen positiven Sinn, denn im goldenen Wagen zieht das Geschick seine Bahn und drängt der Herrlichkeit entgegen.
Dem Obristen gelingt es, aus der total erscheinenden Negativität der Allheit doch einen positiven Sinn zu erschließen und sich selbst als Gutes in den Weltlauf einzubringen:
„Und wie ich in jener Zeit fast mit Gott haderte, hatte ich nichts, gar nichts, als daß ich mir fest dachte, ich wolle so gut werden wie sie, und wolle tun, wie sie täte, wenn sie noch lebte. Seht, Doctor, ich habe mir damals eingebildet, Gott brauche einen Engel im Himmel und einen guten Menschen auf Erden, deshalb musste sie sterben.“[51]
Nun wird auch deutlich, warum diese letzte große Erzählung Stifters als Tagebuchroman angelegt ist. Dahinter steht der Gedanke, dass die eigene Biographie zum Besseren hin korrigierbar ist. Man kann nicht leugnen, dass Stifter das Dunkle im Wirken des Schicksals gesehen und dichterisch gestaltet hat. Aber aus seinem Werk spricht ebenso die Hoffnung, dass man durch Liebe, Zuneigung und bedingungslose Selbstaufgabe sein Geschick und damit das Geschick der ganzen Menschheit positiv ändern kann , und die Änderung wird dir vergolten; denn es entsteht nun das Außerordentliche daraus.“
- Schluss
Man sieht anhand des oben gesagten, dass Stifter mit seiner Betrachtung des Schicksals, seiner Entwicklung des sanften Gesetzes und des Hörens auf die Dinge keine Außenseiterposition in der Literatur einnimmt, sondern die Tradition abendländischen Denkens mit der Moderne (Nachsommer) so zu verbinden sucht, dass die Autonomie und die Würde des Menschen gewahrt bleibt. Die Vorwürfe Hebbels und in Nachfolge anderer bis hin zu Arno Schmidt, dass er außerhalb der Moderne stünde, beruhen also auf einem wesentlichen Missverständnis. Stifters zentrales Anliegen war es, die Würde des Menschen in einem von ihm nur schwer begreifbaren Kosmos aufrechtzuerhalten.
Das „Gehen nach einem Schicksal“, „Denken wie der Wald denkt“, das Vertrauen der Menschen des Waldes zu suchen, das sind zentrale Aussagen des Witiko, die Dinge hervorzurufen, die im Wald und seinen Menschen angelegt sind. Ebenso die Hoffnung des Freiherrn von Risach auf die Entwicklung einer harmonisierten Gesellschaft, die Tradition und Moderne verbinden kann, zeigen uns gerade heute angesichts der Umbrüche, die wir erleben, die Bedeutung Stifters.
Die Widersprüche seiner Zeit, seine Vorstellung von einer allweltlichen Harmonie und seine Verzweiflung an der Realität seiner Zeit wie seiner selbst waren der Antrieb für seine ständigen Überarbeitungen der Mappe. Seine Hoffnung war, dass das Außerordentliche in Erscheinung träte.
Eine Hoffnung, die Grundlage aller Literatur ist.
Literatur
Primärliteratur:
Adalbert Stifter, Werke und Briefe, Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Hrsg. Alfred Doppler u. Wolfgang Frühwald, Stuttgart Berlin Köln Mainz 1982
Stifter, Adalbert, Sämtliche Werke, Hrsg. August Sauer, Franz Hüller, Gustav Wilhelm u.a., Prag, (später) Reichenberg u. Graz 1908-1960, 28 Bde.
Stifter, Adalbert, Werke in drei Bänden, Leipzig 1934.
Sekundärliteratur:
Aspetsberger, Friedbert, Die Aufschreibung des Lebens. Zu Stifters „Mappe“, VASILO 27 (1978)
Dehn, Wilhelm, Ding und Vernunft, Bonn 1969
Domandl, Sepp, Die Idee des Schicksals bei Adalbert Stifter. Urphänomen oder Gegenstand der spekulativen Vernunft., in: VASILO 24 (1974)
Enzinger, Moriz, Gesammelte Aufsätze zu Adalbert Stifter, Wien 1967
Irmscher, Hans Dietrich, Adalbert Stifter, München 1971
Kunisch, Hermann, Adalbert Stifter, Mensch und Wirklichkeit, Berlin 1950
Lovejoy, Arthur O., Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt/Main 1993
Neugebauer, Klaus, Selbstentwurf und Verhängnis, Tübingen 1982
Schmidt, Arno, Dya Na Sore. Gespräche in einer Bibliothek, darin: Der sanfte Unmensch, Karlsruhe 1958
Tielke, Martin, Sanftes Gesetz und Historische Notwendigkeit, Frankfurt/Main, Bern, Las Vegas 1979
Zitatnachweise:
[1] Einen Überblick dazu liefert: Sepp Domandl, Die Idee des Schicksals bei Adalbert Stifter. Urphänomen oder Gegenstand der spekulativen Vernunft, in: VASILO 24 (1974), S. 83 f.
[2] Elisabeth Märkisch, Das Problem des Schicksals bei Adalbert Stifter, in: Germanistische Studien, hg. v. Walter Hofstaetter (1941), vgl. S. 8, 61 und 69
[3] Briefwechsel zwischen Schiller und Körner, hg. v. Ludwig Geiger, Stuttgart/Berlin o. J.
[4] Siehe dazu: Elisabeth Karg-Gasterstädt, Althochdeutsch Thing – Neuhochdeutsch Ding, Berlin 1958
[5] vgl. im folgenden: Josef Piper, Wahrheit der Dinge. Eine Untersuchung zur Anthropologie des Hochmittelalters, München 1947
[6] ebd., 2. Kapitel, S. 29 ff.
[7] ebd. , S. 55
[8] Baruch Spinoza, Ethik I, 29
[9] Adalbert Stifter, Der Nachsommer. Eine Erzählung. Leipzig 1961, S. 370
[10] Johann Wolfgang Goethe, Tagebuch der italienischen Reise, 21. September 1786, Weimarer Ausgabe, 3. Abt., 1. Band, S. 219 f.
[11] die folgenden Zitate aus: Adalbert Stifter, Witiko, Insel-Verlag Leipzig, 28.-32. Tausend
[12] Witiko, S. 55
[13] ebd., S. 385
[14] ebd., S. 697
[15] ebd., S. 86
[16] ebd., S. 197
[17] ebd., S. 564
[18] ebd., S. 733
[19] ebd., S. 829
[20] Adalbert Stifter, Nachsommer, Insel-Verlag Leipzig, 28.-32. Tausend, S. 43
[21] Adalbert Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters, letzte Fassung, in: Sämtliche Werke, hg. von Franz Hüller, Reichenberg 1908-1960, Bd. XII, S. 40
[22] J. G. Herder, Sämtliche Werke, hg. von Suphan, Bd. 13, S. 359
[23] Nachsommer, S. 23
[24] ebd., S. 23
[25] Josef Piper, Die Wirklichkeit und das Gute, München 1949
[26] Nachsommer, S. 653
[27] Witiko, S. 121
[28] Witiko, S. 786
[29] G. W. F. Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, hg. v. Johannes Hoffmeister, besorgt v. Friedhelm Nicolin, Hamburg 1959 (Anhang 2, Die Einleitung nach den Vorlesungen Hegels 1829/30, 7. Stunde), S. 295 f.
[30] Zur Geschichte der Blumenkette als eines kosmologischen Gedankens siehe Arthur O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens., Frankfurt/Main 1993
[31] Adalbert Stifter, Abdias, In: Studien, zweiter Band, Leipzig 1968
[32] Witiko, S. 689
[33] Adalbert Stifter, Bunte Steine, Vorrede, in: Adalbert Stifter, Werke und Briefe, Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2,2, hg. v. Alfred Doppler u. Wolfgang Frühwald, Stuttgart Berlin Köln Mainz 1982, S. 10
[34] ebd., S. 13
[35]Sämtliche Werke, Bd. XII,, S. 138
[36] siehe dazu: Arno Schmidt, Dya Na Sore. Gespräche in einer Bibliothek, darin: Der sanfte Unmensch, Karlsruhe 1958
[37]Sämtliche Werke, Bd. XII, S. 206
[38]Sämtliche Werke ,Bd. XV, S. 240
[39] ebd., S. 240
[40] Sämtliche Werke , Bd. XVI, S. 314
[41] Sämtliche Werke, Bd. XIII, S. 45
[42] Sämtliche Werke, Bd. V, S. 161
[43] Sämtliche Werke, Bd. XII, S. 212
[44] ebd., S. 212
[45] ebd., S. 212
[46] ebd., S. 212 f.
[47] ebd., S. 213
[48] ebd., S. 218
[49] ebd., S. 219
[50] G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Hrsg. G. Lasson, Berlin 1923, unv. ND Hamburg 1968, S. 938
[51] ebd., S. 221
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