Abwege ohne Ausweg?

Volker Braun und Alfred Döblin umkreisen den Alexanderplatz – Gedanken zu einem Vergleich

„Literatur ist komprimiertes Leben“, so pflegte mein Deutschlehrer auf dem Gymnasium zu sagen und so lautet ein intellektueller Gemeinplatz. Aber etwas Wahres ist sicher daran und dieses um so mehr in einer Zeit, in der andere traditionelle Formen, die Aussagen über das Leben machen – die Philosophien, die Ideologien und schließlich auch die Theologien – an Bedeutung und vor allem an Glaubwürdigkeit verlieren.

Erzählende Formen der Literatur, des Films und auch andere künstlerische Ausdrucksformen gewinnen an Relevanz für Darstellung und Deutung des menschlichen Lebens, seiner Licht- und Schattenseiten. Die Erfahrung der Protagonisten spiegeln nicht nur die Erfahrungen des Autors, sondern auch seine Deutungsmuster wider, die er den Lesern vorstellt, ohne wie ein Philosoph, Agitator oder Missionar um jeden Preis überzeugen zu wollen.

Es scheint heute für jede Form kritischen Denkens lohnend zu sein, sich mit Literatur und anderen Formen künstlerischen Ausdrucks auseinanderzusetzen, um Zugänge zu zeitgenössischen Lebenserfahrungen und Deutungen zu gewinnen, sie wahrzunehmen und so einen neuen Blick auf die eigenen Fragen und Deutungsansätze zu gewinnen.

Die vorliegende kleine Arbeit will versuchen, vor diesem Hintergrund einen Blick auf einen zeitgenössischen literarischen Text von Volker Braun zu werfen und ihn mit einem wesentlich älteren Werk, Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“, zu vergleichen.1

I. Volker Braun: Trotz oder Wenigerdestonichts?

„Wir sind gescheitert, hurrah.“

Die 1995 erstmals erschienene Erzählung „Der Wendehals“2 des Büchnerpreisträgers Volker Braun erzählt den Weg zweier Figuren durch das Berlin der Nachwendezeit. Die „Unterhaltung“ zwischen Ich und Er wird eingerahmt von verschiedenen kurzen Episoden, die einzelne Aspekte des Inhaltes vertiefen. „Der Wendehals“ ist vielleicht kein „Wenderoman“. Sicher aber kann er als Auseinandersetzung des linken Dichters Braun mit dem Ende der DDR gelesen werden, der ihr trotz aller Konflikte mit dem real existierenden Sozialismus in „nicht angenommener, weil zu hellsichtiger Liebe“3 treu blieb.

Thema der Erzählung ist zum einen das Scheitern des großen Entwurfes, den die DDR verwirklichen wollte und an dessen Möglichkeit Braun nicht aufgehört hatte, zu glauben. Gleichzeitig ist der „Wendehals“ aber auch der Bericht über das Scheitern des „neuen“ Systems der Bundesrepublik, das den Menschen ebensowenig gerecht wird. Dargestellt und gespiegelt wird dieses große Scheitern am persönlichen Scheitern der beiden Figuren der „Unterhaltung“. Ich ist ein arbeitsloser Intellektueller, ein entlassener „Weltanschauer“ (29)4 der seine Beschäftigung innerhalb des staatlichen Kulturapparates nach der Wende verloren hat. Es ist vielleicht etwas zu verwegen, hinter Ich eine „satirisch verfremdete Inkarnation des Autors“5 zu vermuten, aber ohne Zweifel steht der Autor dem Ich näher als seinem Gegenüber Er, dem Wendehals. Er ist Schaber, der ehemalige Vorgesetzte von Ich, der es geschafft hat, sich durch die Überprüfungskommissionen der Nachwendezeit zu retten. Eine Seilschaft hat ihn mitgezogen und er ist ins Kaufmännische gewechselt.

Braun schildert in einer Verschränkung von Dialog, Monolog und wenigen erklärenden Prosaabschnitten den Weg der beiden Figuren durch Berlin und hinaus aufs Land. Der Weg beginnt mit einem unerwarteten Zusammentreffen der beiden auf dem Alexanderplatz. Sicher nicht zufällig gerade auf diesem Platz, der gefüllt mit „unabsehbaren Massen“ der „Raum der Möglichkeiten“ (136) war, wo das Ende der DDR seinen Anfang nahm.

Der Autor begleitet Ich und Er von dieser Begegnung am Vormittag bis zum Morgengrauen des folgenden Tages. Die Vorführung und Entwertung der Errungenschaften der bundesrepublikanischen Einheit zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Erzählung. Besonderes Augenmerk legt der Autor auf die Macht der Korruption, die vom Wohlstand ausgeht, auf die zerstörerische Kraft des Konsums. Deutlich wird dies zum Beispiel, wenn Er beim Besuch eines Kaufhauses einen Ladendiebstahl begeht (vgl. 47),6 wenn Er bei einem opulenten Mittagessen so viel ißt, daß er sich noch am Tisch erbrechen muß (vgl. 52), wenn die an der Oranienburger Straße (!) wie Pilze aus dem Boden schießenden „neuen Firmen“ als „Huren“ bezeichnet werden (vgl. 73f.) oder wenn das „reine Geschäft“ als etwas „Heiliges“ „gepredigt“ wird (109). Mit dem Blick von der Gertraudenbrücke auf die Leuchtreklamen des westlichen Berlins formuliert Er das Credo des Konsumismus: „Je mehr ich haben, machen, sein kann […], desto besser will es mir gehen!“ (85).

Eine Folge dieser Haltung des „Mehr“ der Unersättlichkeit ist die Gewalt der Enttäuschten, derer, die nicht am Überfluß marktwirtschaftlichen Wohlstandes teilhaben können. Immer wieder kommt es zu Szenen der Gewalt: einer Schlägerei mit Obdachlosen vor einem Kaufhaus am Alexanderplatz (vgl. 42) und einer sich vorbereitenden ausländerfeindlichen Aktion in der Plattenbausiedlung Hellersdorf, die ironischerweise als Baseball-Spiel geschildert wird (vgl. 95ff).

Der ganze Verlauf der Erzählung ist von einer düsteren Atmosphäre gekennzeichnet. Die beiden Figuren sind nicht Herren ihrer Handlungen, sondern lassen sich treiben: vom Alexanderplatz durch die Straßen Ost-Berlins in einen Hinterhof, bis ihre Odyssee schließlich im Morgengrauen auf einem Spargelfeld in Brandenburg endet. Allenthalben läßt sich die Gebrochenheit spüren, die die Existenz der beiden kennzeichnet. Das wird schon in formalen Elementen deutlich: die „Unterhaltung“ wird immer wieder von Monologen und Prosaabschnitten unterbrochen. Auch das Verhältnis von Ich und Er ist keine wirkliche kommunikative, personale Beziehung.7 Es findet kein Dialog statt, sondern die beiden sind eher so etwas wie Reflexionsflächen oder Resonanzkörper, an denen sich der andere jeweils spiegeln kann: je nach seiner Stimmungslage redet z.B. Er das Ich mit ganz unterschiedlichen Titeln an.8

Aber die düstere Stimmung und die kritischen Aussagen, die Braun in den Streifzug durch das „geeinte“ Berlin verwebt, verdecken nicht die unverhohlene Kritik, die der Autor auch an den Verhältnissen der DDR übt, des „Ungetüm[s], das […] schließlich an sich selbst zugrunde ging“9. Schon der DDR-Bürger Braun war kritischer Dichter und Denker und hatte immer wieder auf Probleme des „real existierenden Sozialismus“ hingewiesen. Im Hinterhof seines Wohnhauses zeigt Er dem Ich seine Bibliothek der marxistisch-leninistischen Klassiker, die er nie gelesen hat und die nun auf dem Müllhaufen der Geschichte landen (vgl. 59-64). Während Er – aus Opportunismus – nun die marxistische Lehre als grundfalsch ablehnt (vgl. 88), sieht Ich das Problem differenzierter und leiht hier wohl seinem Autor die Stimme: „Der Kommunismus ist moralisch überlegen, aber praktisch darunter. Dem Buchstaben nach eine Wohltat, in der Tat ein Verbrechen“ (113). Die praktische Verwirklichung des Sozialismus durch opportunistische Funktionäre wie Er ist das Problem und der eigentliche Grund für das Scheitern des sozialistischen Entwurfs.

Für die Figuren des „Wendehals“ gibt es keine festen Orientierungspunkte mehr. Die Wörter haben ihre klare Bedeutung verloren, Begriffe lösen sich auf: die Losung „Volk“ ist keine Lösung mehr, „wir müssen uns lösen“ (35); Werbung ist, was man erwirbt, der Unterhalt ist die Unterhaltung (vgl. 40); die Regierung ist eine Besetzung, eine Besitzung, eine Besatzung (vgl. 53) die Weltverbesserer werden zu Weltvergesserern (vgl. 113) und die Ware ist das Wahre (vgl. 115).

Im letzten Teil der Erzählung tauchen ganz unvermittelt Bruchstücke christlicher, d.h. biblischer Tradition auf, die aber in ihrem Sinn vollkommen entstellt werden: „Wer Ohren hat zu sehen, der wird schmecken.“ (118; vgl. Mt 11,15; 13,9.43 etc.) oder „In meine Hände befehle ich meinen Geist.“ (119; vgl. Ps 31,6; Luk 23,46). Sie stehen für Überbleibsel einer Tradition, die weder zum Sozialismus noch zur westlichen Konsum- und Erlebnisgesellschaft gehört, die aber jede prägende oder deutende Kraft verloren hat.

Die „Meinung zum Ganzen nicht gefragt“ (69) und keine Philosophie kann der Wirklichkeit einen Sinn geben. Deshalb kann auch Spargel eine Philosophie sein (vgl. 114). Die einzig mögliche Reaktion auf die Sinnlosigkeit der Existenz scheint das Handeln in einer Haltung des „Trotzdestonichts“10 zu sein: „Der Wendehals“ endet mit einem Spargelverkaufsevent auf dem Acker, das Er organisiert und das Spaß und Unterhalt, das heißt Unterhaltung bringt. „Also. Red keine Romane, laß uns leben“ (114). Ich widerspricht dieser Haltung nicht, die Erzählung endet aber mit einem nachdenklichen, wenn auch gelassenen „Wenigerdestonichts“ (124) aus seinem Mund.

„Trotzdestonichts oder Der Wendehals“ scheint in vielerlei Hinsicht ein typisches Beispiel der Postmoderne zu sein, deren wesentliches Merkmal wohl der totale Pluralismus in seiner Fragmentarietät und die Abwesenheit jeder Möglichkeit zu letztgültigen Aussagen ist. Schon rein formal betrachtet treffen diese Kriterien auf die „Unterhaltung“ Volker Brauns zu: kein Roman, kein Drama, kein Versepos, wohl aber ein Werk, das epische, dramatische und lyrische Stilformen verwendet, sie ineinander verschränkt ohne sie gegeneinander auszuspielen. Auch die Handlung verbindet die unterschiedlichsten Stränge und Meinungen; selbst die Figuren scheinen nicht mit sich selbst übereinzustimmen, sondern schillern in den verschiedensten Farben – man denke nur an die verschiedenen Titel, mit denen Ich während der „Unterhaltung“ angesprochen wird. Natürlich werden bestimmte Meinungen und politische Lehren kritisch dargestellt, aber im letzten ist keine Wahrheitsaussage möglich, weil alles relativ ist: „Opportunismus ist ein Menschenrecht“ (112).

Auch wenn in der Wehmütigkeit, mit der Braun die Unmöglichkeit, den Sozialismus zu leben feststellt, eine gewisse Sehnsucht nach festen Bezugspunkten mitschwingt, so ist die Wirklichkeit doch eine andere. Braun findet ein Bild, um die Relativität jeder Aussage, die mit einem Wahrheitsanspruch auftritt, auszudrücken: der Paternosteraufzug im ehemaligen Dienstgebäude der Akademie der Wissenschaften, in der Er als Direktor gearbeitet hat, wird für den Wendehals zum Katheder: der Fahrstuhl wird zum Lehrstuhl. Und wie sich der Paternosteraufzug vom Keller unter das Dach und wieder zurück bewegt, so „verteilt sich der Sinn der [Lehr-] Rede auf die Etagen“ (vgl. 91).

II. Alfred Döblin: Die Mysterien des Lebens des Franz Biberkopf

„Es ist ein Schnitter, der heißt Tod.“

Auch der 1929 veröffentlichte Roman „Berlin Alexanderplatz“11 von Alfred Döblin erzählt die Geschichte eines Scheiterns. Er erzählt das Scheitern des Hilfsarbeiters Franz Biberkopf, der, aus dem Gefängnis entlassen, den Vorsatz faßt, „anständig“ zu sein und in diesem Vorsatz scheitert.

Zunächst scheint der entlassene Strafgefangene, der im Affekt seine Lebensgefährtin erschlagen hatte, auf dem rechten Weg zu sein: als Hausierer und Zeitungsverkäufer fristet er ein bescheidenes aber ganz zufriedenes Dasein in den Vierteln um den Ostberliner Alexanderplatz. Ein erster großer Bruch in seinem neuen Leben tritt ein, als ihn ein Freund, Otto Lüders, betrügt, indem er eine Witwe, die Franz zufällig kennengelernt hat und von der er sich finanzielle Hilfe erhofft, erpreßt und so Franz‘ Vertrauen mißbraucht. Er verschwindet für einige Zeit.

Nach einiger Zeit fängt sich Franz und beginnt wieder mit dem Zeitungshandel. Zu einer schicksalhaften Begegnung kommt es, als er Reinhold kennenlernt. Die Figur des Reinhold, die das weitere Geschehen des Romans entscheidend mitbestimmen wird, kann als Antitypos zu Franz, vielleicht sogar als sein „böser Geist“12 verstanden werden. Hat sich dieser geschworen, anständig zu bleiben, kümmert sich Reinhold nicht um irgendwelche moralischen Kategorien, sondern läßt sich ausschließlich von seinen Gefühlen bestimmen – zum Ende des Romans wird aus Reinhold fast so etwas wie eine Inkarnation des Bösen schlechthin.

Über Reinhold gerät Franz an eine Gruppe von Einbrechern. Gegen seinen Willen nehmen diese ihn zu einem nächtlichen Einbruch mit. Als er, verzweifelt über die negative Wendung, fliehen will, stößt ihn Reinhold aus dem fahrenden Fluchtauto und Franz wird überfahren. Bei diesem Unfall verliert er einen Arm, überlebt aber durch das Engagement von Freunden.

Auch nach diesem zweiten Schlag steht Franz wieder auf und „hebt gegen die dunkle Macht die Faust“ (215). Wieder nimmt das Geschehen eine positive Wendung. Er lernt eine junge Frau kennen, Emilie, die sich selbst lieber Sonja nennt (wer würde sich nicht an die Gefährtin Raskolnikows in Dostojewskis „Schuld und Sühne“ erinnert fühlen) und von Franz als Mieze angesprochen wird. Zwischen beiden entwickelt sich eine intensive Liebesbeziehung, die sich nicht davon stören läßt, daß Mieze als Prostituierte Geld verdient, um den invaliden Franz zu unterstützen. Als Franz wieder in das Einbruchsgeschäft einsteigt, um seiner Invalidenexistenz durch Handeln einen Sinn zu geben, bereitet sich der letzte und endgültige Schlag gegen ihn vor. Reinhold, der Franz schaden möchte, versucht Mieze zu verführen und ermordet sie, als sie sich ihm verweigert.

Franz zerbricht an der Nachricht vom gewaltsamen Tod seiner Geliebten: nachdem er zunächst verzweifelt versucht, Rache an Reinhold zu nehmen, stellt er sich der Polizei, die ihn selbst des Mordes verdächtigt. Er wird wegen seiner Verwirrung in ein Irrenhaus eingeliefert, verweigert sich jeder Nahrung und ist dem Hungertod nahe.

In der ausführlich geschilderten Erfahrung des nahenden Todes wendet sich das Schicksal des Franz: er wird wieder gesund und kehrt an den Alexanderplatz zurück, wo er – vom Vorwurf des Mordes freigesprochen – als Hilfsportier zu arbeiten beginnt.

Dies ist die äußere Handlung des Romans. Döblin beschreibt das Schicksal des Franz Biberkopf auf dem Hintergrund einer virtuosen sprachlichen Collagetechnik: oft ist „Berlin Alexanderplatz“ als erster deutschsprachiger Großstadtroman bezeichnet worden. Die Stadt Berlin wird nicht beschrieben, sondern sie beschreibt sich selbst: „Hier redet alles, die Großstadt, die Häuser, die Litfaßsäulen, die Polizeiprotokolle, sogar die Statistik redet hier“13. In die Handlung sind immer wieder Werbetexte, Statistiken und Zeitungsannoncen eingefügt: die Vielschichtigkeit, Gegensätzlichkeit, die Geschwindigkeit und Farbigkeit der Stadt wird nicht einfach dargestellt, sondern entsteht beim Lesen dieses Romans. Die Macht, die Franz letztlich zerbricht, ist eben diese Stadt, deren Anforderungen er mit seinem Vorsatz der Anständigkeit nicht genügen kann. Überleben kann in der Großstadt nur, wer Geld hat, um Wohnung, Brot und ab und zu eine „Molle“ Bier zu bezahlen: „Er hat aller Welt und sich geschworen, anständig zu bleiben. Und solange er Geld hatte, blieb er anständig“ (45). Die zahlreichen essayistischen Einschübe, Erklärungen des auktorialen Erzählers und die in Berliner Dialekt formulierten Dialoge und zahlreichen inneren Monologe haben dazu geführt, daß Döblins „Alexanderplatz“ immer wieder in die Nähe von Joyce’s „Ulysses“ gerückt wurden.

Neben den zahlreichen Versatzstücken, die erzähltechnisch dazu dienen, die schillernde Wirklichkeit der schwer faßbaren Großstadt zu schildern, gibt es in Döblins Roman auch zahlreiche Fragmente, die nicht unmittelbar diese beschreibende Funktion haben, sondern vielmehr Deutungselemente sind, die das Geschehen kommentieren und bestimmte Entwicklungen andeuten oder vorausnehmen. Zum einen sind es Beschreibungen der Vorgänge auf dem großen Berliner Schlachthof:14 die Metapher des Hammers, mit dem die Schlachttiere betäubt werden, taucht in den Vorreden der einzelnen Bücher (vgl. 215, 301, 355) immer wieder auf, um das Schicksal des Franz zu deuten.

Die weitaus meisten dieser Deutungselemente stammen aber aus der biblischen Tradition. Es sind verfremdete Zitate oder Nacherzählungen biblischer Passagen, vor allem aus dem Buch Hiob (vgl. 143-146, 379f), dem Propheten Jeremia (vgl. 197f, 211f) und der Apokalypse des Johannes (vgl. 237, 253, 291, 385, 443). Döblin nimmt Teile der biblischen Tradition auf, die mit ihrer je eigenen Aussage das Geschehen des Romans kommentieren. Die häufige Zitierung des apokalyptischen Motivs der Hure Babylon zum Beispiel rückt die Stadt Berlin in die Nähe des in der Offenbarung des Johannes als menschenmordenden Ungeheuers verurteilten Roms. Döblin nimmt die biblischen Texte in ihrer jeweiligen Aussageabsicht ernst, verbiegt sie nicht, sondern läßt sie als gleichsam objektive Interpreten des Geschehens auftreten – durch die Auswahl und die Stellung der biblischen Zitate und Anspielungen übt der Autor aber einen erheblichen Einfluß auf die Aussage der biblischen Einschübe aus.

Ein weiteres Deutungselement, dem in seiner Häufigkeit15 die Bedeutung eines Leitmotivs zukommt, stammt ebenfalls aus dem Kontext der christlichen Tradition. Es handelt sich um das Zitat des alten Liedes „Da ist ein Schnitter, der heißt Tod“16. Das Lied, von dem stets nur Teile der ersten Strophe zitiert werden, entwirft ein grundsätzlich positives Bild vom Tod, der zwar mit unausweichlicher Notwendigkeit kommt, der aber den Sterbenden „In den himmlischen Garten / Auf den wir alle warten“ versetzt.

Dieses religiöse Deutungselement verdichtet sich gegen Ende des Romans zu einer Art Mysterienspiel. Der Tod tritt an das Sterbebett des Franz Biberkopf und stellt ihm verschiedene Personen seines Lebens vor Augen – ähnliche Verdichtungen waren im Verlauf des Romans in kurzen Dialogen des Franz mit Satan (vgl. 162) oder Gott (265) angedeutet worden. In der Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit, die ihm vom Tod vor Augen gestellt wird, erkennt Franz seine eigenen Fehler und die Fehler der anderen. Und Franz ergibt sich, alles was er „hat“, was ihn ausmacht und „wirft sich hin. Er hält nichts zurück“ (441). In dieser Bewegung des sich Ergebens, sich Hingebens an den Tod ergibt sich eine erstaunliche Wendung. In der Begegnung mit dem Tod stirbt Franz Biberkopf und liegt gleichzeitig als „neuer Mensch“, dem eine „andere Welt“ geschenkt ist, in seinem Krankenbett. Keine Auferstehung, wohl aber ein Durchgang durch den Tod, der Franz begegnet als der „Schnitter“, den er „nit fürchtet“17.

Der Großstadtroman Döblins, der mit seiner Collagentechnik einer der Wegbereiter der literarischen Moderne war, hat nicht nur wegen seines „metaphysischen Schlusses“18, sondern auch wegen des ständige Anklingens biblischer und anderer christlicher Motive, die das Geschehen kommentieren und Deutungshilfen anbieten, eine klar ausgeprägte religiöse Note.

III. Gedanken zu einem philosophisch-theologischen Vergleich

„…si parva licet componere magnis.“ (Vergil, Georgica)

Der Vergleich, das Neben- und Gegeneinanderlesen zweier literarischer Texte ist immer ein schwieriges Unterfangen, vor allem wenn sie zeitlich so weit auseinanderliegen wie Brauns „Wendehals“ (1995) und Döblins „Alexanderplatz“ (1929). Spannend ist der Versuch eines solchen Vergleiches aber dennoch oder vielleicht auch gerade deshalb.

Überraschend sind die frappierenden inhaltlichen und formalen Parallelen der beiden Werke. Nicht nur der Schauplatz, das östliche Berlin mit dem Alexanderplatz, von dem aus die Handlung ihren Lauf nimmt, ist derselbe. Zentrales Thema ist in beiden Romanen das Scheitern und der Versuch des Umgehens mit diesem Scheitern: bei Braun das Scheitern der DDR und das persönliche Scheitern von mit der DDR eng verbundenen Menschen, bei Döblin das Scheitern des kleinen Mannes, der sich vorgenommen hat, anständig zu leben, dem es aber nicht gelingt, diesen Vorsatz im komplexen Milieu der Großstadt zu verwirklichen. In beiden Werken werden die Protagonisten von den verschiedensten Wechselfällen durch die Stadt, hinaus in die Provinz und wieder zurück in die Stadt getrieben und in beiden Fällen hat die Macht des Geldes und die Korruption durch seinen Besitz oder durch das Verlangen danach nicht unwesentlichen Einfluß auf das Geschehen.

Die Protagonisten sind sowohl bei Braun wie auch bei Döblin Identifikationsfiguren: Ich und Er zeigen Züge, in denen sich viele Menschen der ehemaligen DDR erkennen können, denen die Wende auf ähnliche Weise einen Teil ihrer sozialen und geistigen Existenzgrundlage genommen hat und zu denen in bestimmter Hinsicht auch der Autor selbst gehört. Und auch Franz Biberkopf ist eine Identifikationsfigur, freilich auf subtilere Weise als im „Wendehals“: nicht die „Außenansicht“ der Figur des Hilfsarbeiters, der erst zum Zuhälter, dann zum Dieb wird, lädt Döblins bürgerliche Leser zur Identifikation ein, sondern vielmehr seine „Entschlossenheit, anständig zu sein, […sein] Bedürfnis, mehr vom Leben zu bekommen als ein Butterbrot, […sein] Scheitern.“19 Franz Biberkopf ist „eine zwar extreme, doch zugleich exemplarische Figur“20.

Auch in der formalen Perspektive gleichen sich der „Wendehals“ und „Berlin Alexanderplatz“ auf vielfältige Weise. Beide Werke sind in einer Art Collagetechnik gestaltet, spielen mit verschiedenen Stilformen, enthalten innere Monologe und lassen sich im letzten keinem literarischen Genus eindeutig zuordnen.

Zwei Autoren ganz unterschiedlicher zeitlicher, sozialer und weltanschaulicher Kontexte haben sich mit dem gleichen urmenschlichen Thema des Scheiterns beschäftigt. Auf den ersten Blick scheinen beide Werke auch ein ähnliches Ende zu haben: die Hauptfiguren sind auf sich selbst zurückgeworfen und es bleibt ihnen kaum mehr übrig, als sich – trotzig oder still-ergeben – dem Lauf der Dinge zu fügen. Die Ideale – seien sie real existierender Sozialismus oder bürgerliche Anständigkeit – sind enttäuscht, aber die gescheiterten Träger der Ideale finden ihr Auskommen.

Und dennoch: die Werke Brauns und Döblins unterscheiden sich durch mehr als bloß die Wahl einer anderen „Tonart“ der Erzählung. Der Weg der Protagonisten und vor allem der Weg des Autors mit seinen Protagonisten ist in beiden Werken ein völlig anderer. Im „Wendehals“ werden Ich und Er ziellos vom Alexanderplatz durch Berlin getrieben. Sie haben kaum Einfluß auf den Verlauf ihres Weges, sondern scheinen der Macht des Zufalls, den Weisungen der neuen Verantwortlichen in der Kulturpolitik und den Regeln des freien Marktes hilflos ausgeliefert zu sein. Es gibt weder für die Handelnden selbst noch für den Erzähler eine relevante Deutungsinstanz: der Rückgriff auf traditionelle ideologische Interpretationsmuster ist sinnlos geworden, die Deutung mit den Gesetzen des Marktes wird abgelehnt und die Hilfe traditioneller religiöser Deutungen hat keine Kraft mehr und wird ins Lächerliche gezogen. Einziger Ausweg der relativen Selbstbehauptung ist das widerspenstige „Trotzdestonichts“ des Titels, das aber in der Schlußbemerkung von Ich zu einem gelassenen „Wenigerdestonichts“ (124) abgemildert und in der letzten der rahmenden Erzählungen als triviales „Lebe, so gut du kannst“ (147) ausbuchstabiert wird.

Franz Biberkopf erlebt sich ähnlich wie Ich und Er als von Kräften bestimmt, die über ihn hinausgehen, und gegen die er sich nicht zur Wehr setzen kann. Anders als bei den Protagonisten des „Wendehals“ erfährt Franz diese Kräfte aber nicht nur als weltimmanente Faktoren, sondern durchaus als transzendente Schicksalsmacht, die in der Person des Reinhold eine quasi-inkarnatorische Realität gewinnt. Und auch ganz unmittelbar macht Franz die Erfahrung der personhaften Schicksalsmacht: im Gespräch mit Satan (162), mit Gott (265) und in der Begegnung mit dem Tod gegen Ende des Romans. Auch der auktoriale Erzähler begleitet deutend und kommentierend den Weg des Franz Biberkopf; der Jude Döblin, der 1941 zum Katholizismus konvertierte, greift dabei immer wieder auf biblisch-christliche Traditionen zurück. Dabei werden diese Traditionsstücke nicht im Sinne einer zwingenden, notwendigen und einzig richtigen Deutung oktroyiert, sondern als Motive angeführt und mit dem Handlungsstrang verwoben. Auch wenn Gott nicht hilft, nicht helfen will, seine Hilfe wenigstens nicht erfahrbar ist, so ist er doch anwesend: nicht umsonst wird gerade diese Botschaft des Buches Hiob in „Berlin Alexanderplatz“ oft zitiert.

Vielleicht kann der Entwurf Döblins, der die pluriforme Realität des Berlins der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts wahr- und ernstnimmt und gleichzeitig die biblisch-christliche Tradition als Deutungsmöglichkeit einführt, ohne sie dem Leser aufzwingen zu wollen, ein Hinweis darauf sein, wie ein Denken, das sich der christlichen Überlieferung verpflichtet weiß, heute mit der von Volker Braun geschilderten Realität umgehen kann. Das Fehlen einer Wirklichkeit, die sinnvolle Deutungshilfe leisten kann, ist für unsere Zeit – nicht nur in der ehemaligen DDR – wohl typisch. Aufgabe des Denkens könnte in diesem säkularisierten und säkularistischen Umfeld sein, die Antworten der biblischen Tradition als Möglichkeiten der sinnvollen Interpretation vorzustellen und die Zeitgenossen so herauszufordern, sich mit den christlichen Deutungsmustern auseinanderzusetzen. Die alten Geschichten können ihre sprachliche und deutende Kraft auch in einem fremden Umfeld entfalten, wie Döblin in seinem Roman auf meisterhafte Weise vorgeführt hat – die Literatur ist nicht nur „komprimiertes Leben“, sondern kann auch einen wertvollen Beitrag zu dessen Deutung leisten.

1 Die Anregung zu diesem Vergleich verdanke ich P. Dr. Elmar Salmann OSB.

2 V. Braun, Der Wendehals. Eine Unterhaltung, Frankfurt a. M. 1995. Die um eine Episode erweiterte Taschenbuchausgabe erschien 2000 unter dem Titel „Trotzdestonichts oder Der Wendehals“ ebenfalls in Frankfurt a. M.

3 S. Brandt, Einmal ich, einmal er, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.VI.1995.

4 Alle folgenden Seitenangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe: V. Braun, Trotzdestonichts, Frankfurt a. M. 2000.

5 Brandt.

6 Ironischerweise stiehlt er nur ein Paket Würfelzucker.

7 Dies wird formal schon durch den unpersönlichen Ich-Er-Gegensatz betont.

8 Z.B. „Herr Kurator“ (34), „Herr Vorsitzender“ (35), „Herr Kapitän“ (44), „Herr Inspizient“ (49), „Eminenz“ (!; 51) etc.

9 Brandt.

10 Bemerkenswert ist, daß Braun den Titel der Erzählung für die Taschenbuchausgabe 2000 von „Der Wendehals“ in „Trotzdestonichts“ geändert hat und so diese Haltung zu betonen scheint.

11 Die Seitenangaben beziehen sich alle auf A. Döblin, Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, Frankfurt a. M. 1999.

12 M. Reich-Ranicki, Unser Biberkopf und seine Mieze, in: Nachprüfung. Über deutsche Schriftsteller von gestern, München 71999, 149-157, 152.

13 D. Forte, Ein Nachwort, in: A. Döblin, 431-490, 483.

14 Vgl. 136-142, 146-148, 224, 351ff.

15 Vgl. 184, 227f, 241, 270, 345, 352, 371, 383.

16 Das wohl aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges stammende Lied wurde von A. v. Arnim und C. Brentano in ihre Liedersammlung „Des Knabens Wunderhorn“ aufgenommen.

17 Vgl. die letzte, hoffnungsvolle Strophe des Liedes aus „Des Knabens Wunderhorn“.

18 Reich-Ranicki, 150.

19 Ebd., 149.

20 Ebd.

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