Zu Beginn der siebziger Jahre geriet diese Lehre unter dem Kürzel „Stamokap“ wieder in die Diskussion der SPD. Hans Ulrich Klose, ehemals Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, stellte eine typische Stamokap-Behauptung auf, als er in einem Interview erklärte, dass „wir (der Staat) uns ziemlich handfest als Reparaturbetrieb des Kapitalismus betätigen“.
Die Finanzkrise, welche mit dem Scheitern des Neoliberalismus als solches in Verbindung gebracht werden kann, zwingt förmlich dazu, sich mit der Stamokap-These und den Erkenntnissen von Rudolf Hilferding wieder intensiv zu befassen.
Stamokap beschreibt die – angeblich – letzte, „absterbende“ Phase des Kapitalismus, in der die privaten Unternehmer von den anonymen Großkapitalisten (Aktionären) verdrängt, die Konkurrenz von marktbeherrschenden Monopolen und Kartellen abgelöst werden, und die wirtschaftliche Macht der Banken zunimmt. Auf dieser Stufe können die Interessen der großen Industrie- und Geldpools mit denen des Staates zusammenpassen, welche in einer imperialistischen Politik der Staaten seine Bestätigung fand. Die Eroberung anderer Länder war Sache des Staates, die Ausbeutung dieser dann der Konzerne.
Die Lehre vom Stamokap geht auf Lenin zurück, und wurde von Rudolf Hilferding in dem Buch, das 1910 erschien, mit dem Titel „Das Finanzkapital“ eindringlich beschrieben. Kautzky, einer der größten marxistischen Theoretiker, schrieb damals: Was Karl Marx nicht exakt vorhersehen konnte – nämlich den Strukturwandel des Kapitalismus um die Jahrhundertwende -, hat Hilferding in meisterhafter Weise dargestellt. Der Übergang von Einzelunternehmungen der Privatkapitalisten zu anonymen Aktiengesellschaften, der Bildung von Trusts und Kartelle, die Entstehung der Monopole, die wachsende Herrschaft der Banken über die Wirtschaft, die zunehmende Solidarisierung der besitzenden Klassen, der Industriellen, Großgrundbesitzer zu einer großen reaktionären Masse, der Einfluss dieser Masse auf große Teile der Angestelltenschaft – des sog. „Stehkragenproletariats“-, alle diese Erscheinungen seien im „Finanzkapital“ untersucht worden. Es ist festzustellen, daß diese Lehre im geradezu atemberaubenden und beklemmenden Maße wieder an Aktualität gewonnen hat.
Rudolf Hilferding wurde am 10. August 1877 in Wien geboren und studierte zunächst Medizin. Dem „Sozialistischen Studentenbund“ trat er mit fünfzehn Jahren bei. Seine linke Gesinnung fußte zunächst weniger auf Einsicht, sondern war vielmehr eine Reaktion auf das politische Klima im damaligen Österreich. Hilferding floh im zweiten Weltkrieg vor den Schergen Hitlers in den unbesetzten Teil Frankreichs. Unter Missachtung des Asylrechts wurde er dort mit seinem Freund, Rudolf Breitscheid, festgenommen und der Gestapo in Paris übergeben. Rudolf Hilferding kam bereits dort um, während Breitscheid 1944 im KZ Buchenwald getötet wurde.
Hilferding gehörte in Österreich einem Kreis von Intellektuellen an, die später unter dem Namen „Austromarxisten“ bekannt wurden. Ziel dieser Schule war es, das Erbe von Marx schöpferisch weiterzuentwickeln, also Marxens philosophische und ökonomische Theorie zu modernisieren und von Gedankenfehlern zu befreien. Was damit gemeint ist, lässt sich gut an einem Beispiel aus dem Bereich Ethik erklären.
Marx prophezeite, dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen zerbrechen und vom Sozialismus abgelöst werden würde. Hierbei bleibt unbewiesen, ob der Sozialismus ein für alle Menschen erstrebenswertes Gesellschaftssystem verkörpert. Um dieses festzustellen, bedarf es sittlicher und nicht historischer Überlegungen.
An diesem Punkt führten Austromarxisten Immanuel Kant (1724-1804) in die Diskussion ein. Er hatte eine Moralphilosophie verfasst, die im berühmten „Kategorischen Imperativ“ gipfelt. „Handle so, dass die Maxime (Grundsatz) deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte. Dieser Satz dürfte zeitlos und universal sein. Er beschreibt die Bedingung, nach der sich jede Gesellschaft ohne Wenn und Aber zu richten hat.
Hieraus ist die Frage abzuleiten, ob die bürgerliche Wirtschaft, in der (laut Marx) einige Kapitalisten auf Kosten vieler Arbeiter immer reicher werden, vor diesem „Imperativ“ bestehen? Wenn die Maxime eines einzelnen Menschen (Kapitalist) lautet, ich will von der Arbeit anderer Menschen profitieren, so liefe der Grundsatz darauf hinaus, dass sich jeder an jedem bereichern soll, und zwar im gleichen Umfang. Ein solches Gesetz kann aber nicht gültig sein, weil sich die daraus folgenden Handlungen gegenseitig aufheben würden.
Bereicherung funktioniert mithin nur, wenn es Menschen gibt, die sich zu Lasten anderer bereichern, und solche, die sich nicht an anderen bereichern, aber es zulassen, dass man sich an ihnen bereichert. Aus diesem Grunde waren auch die Kant-Jünger der Auffassung, dass der Kapitalismus mit dem „Kategorischen Imperativ“ unvereinbar sei, und der Sozialismus die bessere Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsform wäre. Um den Sozialismus willkommen zu heißen, brauche man folglich gar kein klassenbewußter Arbeiter zu sein, sondern es reiche schon, wenn man sich als Mensch einer universalen Moral verpflicht fühlt.
Aufgrund der eingetretenen Finanzkrise werden verblüffende Zusammenhänge aus den vorangegangenen Ausführungen erkennbar. Politisch stellt sich die Frage, wie lange sich noch Menschen in dieser Form von anderen ausbeuten lassen. Es scheint naheliegend, dass irgendwann wohl eine gewisse Grenze der Erträglichkeit für die ausgebeuteten Menschen erreicht sein wird. Dieses dürften gewisse Politiker bereits erkannt haben. Deren Propaganda und merkwürdige Medienaktivitäten geben hierfür ein beredtes Zeugnis. Man besteht offensichtlich u.a. eine panische Furcht davor, dass sich breite Schichten der Bevölkerung solidarisieren und für eine Abschaffung des kapitalistischen Systems eintreten.
Literaturhinweis: Stern-Buch, Paul-Heinz Koesters, Ökonomen verändern die Welt.
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.