Stell dir vor, es wäre Frieden

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Die berühmte Friedensparole der 1960er Jahre, stell dir vor, es wäre Krieg und keiner ginge hin, stammt ursprünglich aus einem Prosagedicht des amerikanischen Schriftstellers Carl Sandburg aus dem Jahre 1936. Im Kalten Krieg mit der atomaren Bedrohung und vor allem durch die Friedensbewegung gegen den Vietnamkrieg (1955 bis 1975) wurde sie populär. Heute ist es kaum noch vorstellbar, wie 1982 mehr als 500.000 Menschen in Bonn gegen den NATO-Doppelbeschluss und die geplante Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Deutschland demonstrierten.

Zeitenwende

Wenn es um die Einstellung der Deutschen zu Krieg und Frieden geht, scheint die von Bundeskanzler Scholz beschworene „Zeitenwende“ bereits akzeptiert und vollzogen zu sein. Bei der Einsatzbereitschaft und Ausstattung der Bundeswehr ist sie zwar noch nicht angekommen, aber Kritik an der vom Verteidigungsminister geforderten „Kriegstüchtigkeit“ findet in den Medien so gut wie kein Echo, und Boris Pistorius bleibt seit Monaten der beliebteste Spitzenpolitiker. Eine Welle von Bewerbungen, um die zurzeit 20.000 offenen Stellen bei der Bundeswehr zu besetzen, bleibt allerdings aus und von den bereits aktiven Freiwilligen brechen viele die Ausbildung ab. Schließlich sind die Berichte über den Krieg in der Ukraine und die täglichen Medienbilder realistisch genug, um jedem Interessenten klarzumachen, dass Kampfeinsätze tödlich enden können.

Militarismus in Deutschland?

In meinem Gymnasium hing in der um 1900 erbauten Aula noch in den 1970er Jahren eine Marmortafel mit dem Spruch des römischen Dichters Horaz, dass es ‚süß und ehrenvoll‘ sei, für sein Vaterland zu sterben. Generationen von Schülern verlangten ihre Entfernung, die Tafel blieb. Aber die Lehrer, die den Krieg überstanden hatten, verteidigten den Spruch auch nicht mehr. Die Kriegsmüdigkeit der älteren Generationen und ihre Friedenssehnsucht beherrschten die Debatten um die Gründung der Bundeswehr 1955 und der Nationalen Volksarmee der DDR wenige Monate später. Trotzdem bereiteten sich beide Seiten materiell, wenn auch weitgehend theoretisch auf den Ernstfall vor, im Westen mit amerikanischen Waffen und der NATO, im Osten fast spiegelbildlich mit russischer Hilfe. Die große Mehrheit der Westdeutschen merkte vom Bunkerbau in den Städten wenig und glaubte nicht an einen Überfall aus dem Osten, aber einige kauften vorsichtshalber Grundstücke in Paraguay oder Argentinien, um notfalls auszuwandern.

Der Wehrdienst war wenig attraktiv, Wehrdienstverweigerern wurde die Anerkennung möglichst schwer gemacht, der Ersatzdienst in sozialen Einrichtungen verlangte Idealismus. Berufssoldaten, in den Offiziersrängen oft Wehrmachtsveteranen, hatten Karrierechancen und oft interessante Trainigseinsätze in den USA, aber weniger das Gefühl persönlicher Bedrohung. Die Aussetzung des Wehrdienstes 2011 war dann der Höhepunkt einer Ära mit bedrohtem, aber stabilem Frieden in Europa.

Wendezeit

Nach acht Jahren Inkubation nach der Krim-Annexion und dem Donbass-Separatismus hat der Ukrainekrieg im Februar 2022 abrupt die Jahrzehnte mit stabiler Abschreckung zwischen West und Ost beendet. Ein Atomkrieg war durch die Drohung der gegenseitigen Zerstörung vermieden worden und hatte in der englischen Version den passenden Namen MAD (Mutually Assured Destruction) gefunden. Auf der NATO-Seite wurde der Ausbruch des Ukrainekriegs schnell politisch eingeordnet. Russland hat die Ukraine unprovoziert überfallen und mit Unterstützung der westlichen Wertegemeinschaft kämpfen die Ukrainer für die Integrität ihres Territoriums und gleichzeitig auch für unsere Freiheit. Mit westlichen Waffen und finanzieller Hilfe haben sie inzwischen fast drei Jahre lang gegen die Übermacht Russlands standgehalten, geraten inzwischen aber an die Grenzen ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten. Intern hat der Krieg, neben den zivilen und militärischen Opfern und den Zerstörungen der Infrastruktur eine besonders fatale Konsequenz: Der ukrainischen Armee gehen die Soldaten aus. Neben dem Verlust von Kämpfern durch Tod oder Verwundung kommen immer mehr Soldaten an den Rand der Erschöpfung, weil ein Austausch mit Ruhepausen nicht mehr möglich ist. Die Anzahl der Soldaten, die ohne Urlaub die Front verlassen oder desertieren, steigt deshalb stetig an. 2024 waren es offiziell 62.000, mehr als 100.000 werden bereits von den Wehrbehörden verfolgt. Im ersten Halbjahr wurden 29.000 neue Strafverfahren wegen Fahnenflucht eingeleitet, geschätzt wird die Gesamtzahl der Deserteure auf bis zu 200.000. Im Internet kursieren dazu gespenstische Videos, wie die Armee wehrfähige Männer einfängt, um sie an die Front zu schicken. Mindestens ebenso fatal ist der seit Kriegsbeginn andauernde Schwund an rekrutierbaren Männern durch Auswanderung. Laut Eurostat halten sich seit Kriegsbeginn 650.000 wehrpflichtige Männer in europäischen Ländern auf, in Deutschland allein 280 bis 300.000. Da sich die Aussichten auf einen ukrainischen Sieg gegen Russland immer mehr eintrüben, sinkt an den Fronten die Kampfmoral und bei den Ukrainern im Ausland die Motivation zur Rückkehr. Trotz aller Skepsis hofft die Welt, dass Donald Trump helfen könnte, das Blutvergießen zu beenden.

Ist eine allgemeine Wehrpflicht noch zeitgemäß?

Die Waffen werden komplizierter, mit ihnen umzugehen verlangt längeres Training und technisches Verständnis. Seit den 1970er Jahren haben viele Länder die Wehrpflicht ausgesetzt oder stark reduziert, laut Wikipedia sind das 106 von 195 Ländern. In Europa haben sich viele Armeen hauptsächlich auf Freiwillige und Berufssoldaten verlassen, Deutschland seit 2011, die USA schon 1973, noch vor dem Ende des Vietnamkriegs. Allerdings hat sich fast parallel dazu ein lukrativer Markt für militärische Dienstleistungen entwickelt, die sogenannten Private Military Companies (PMC). In den deutschen Medien wurde intensiv über die russische Wagner-Gruppe berichtet, kaum über die westlichen Marktführer, allen voran die Firma Academi, ursprünglich Blackwater. Sie wurde 1997 von dem ehemaligen NavySEAL- Elitesoldaten Erik Prince in North Carolina gegründet, nach dessen eigenen Worten, um für die amerikanischen Streitkräfte das zu tun, was FedEx für die Post getan hat. Diese Firmen ziehen früh pensionierte Berufssoldaten an, die dort ein Vielfaches ihres alten Solds verdienen, und natürlich Abenteurer, die für Tagesgagen von 1000 bis 2000 Dollar und weitere Gefahrenzulagen ihr Leben aufs Spiel setzten. Söldner sind in den USA illegal, als „Contractors“ spielten sie aber im Afghanistankrieg eine entscheidende Rolle. In verschiedenen Jahren kämpften dort mehr Contractors als reguläre Soldaten, aber es fielen auch deutlich mehr als Armeeangehörige. Nach amerikanischen Schätzungen beschäftigen die PMCs mehr als 600.000 Kämpfer, setzen sie aber auch für gefährliche Aufgaben im Objekt- und Personenschutz ein. Der Umsatz wird auf Hunderte von Milliarden Dollar geschätzt. In Europa, nicht nur in Deutschland, wird in Anbetracht der erwarteten Bedrohung durch Russland die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht diskutiert, meist unterhalb der Schwelle einer allgemeinen Pflicht wie früher. Im Ernstfall könnte damit aber eine allgemeine Mobilmachung möglich sein.

Wie könnte es weitergehen?

Das Jahr 2024 hat mit insgesamt 59 Kriegen und bewaffneten Konflikten einen Rekord aufgestellt. Dabei hat die Entwicklung der Waffentechnik sowohl bei den Supermächten als auch bei den im Westen als Terrorgruppen eingestuften Huthis erstaunliche Fortschritte gemacht. Die „barfüßigen“ Yemeniten schießen über mehr als 1000 Kilometer ballistische Raketen auf Israel ab, und China sorgt in allen Waffengattungen für steigende Besorgnis im Pentagon. Künstliche Intelligenz verstärkt die Wirkung neuer Waffen und erschwert die Abwehr. Mit ferngesteuerten oder autonomen Drohnen oder Roboterhunden mit einem Maschinengewehr auf dem Rücken könnte sich die blutigste Seite der traditionellen Kriegführung, der Nahkampf Mann gegen Mann, in Science-Fiction Dimensionen weiterentwickeln. Kann der Krieg von morgen deshalb weniger blutig für die Soldaten und gleichzeitig noch zerstörerischer werden? Das ist zu vermuten, aber nicht beruhigend, denn die Zerstörungskraft wird sich auf die immer weiter wachsenden Städte richten und vielleicht weniger Soldaten, dafür aber mehr Zivilisten töten.
Bis zum zweiten Teil der Friedensparole „und keiner ginge hin“ bleibt noch ein sehr weiter Weg.

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