Warum es in der Politik wieder mehr Mut zur Zukunft braucht

Scheindebatten sind solche, die sich als wichtig tarnen, aber eigentlich irrelevant sind

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Scheindebatten sind solche, die sich als wichtig tarnen, aber eigentlich irrelevant sind, ja, sogar bewusst vom Wesentlichen ablenken und ablenken sollen. In Deutschland werden viele solcher Debatten geführt. Nicht wenige hoffen nun, dass im bevorstehenden Wahlkampf endlich wieder mehr um wichtige Themen und Konzepte gestritten wird. Doch man darf skeptisch sein. Wahrscheinlicher ist wohl, dass der Populismus eher noch zunehmen wird, Floskeln vermeiden sollen, die bereits unverkennbaren Probleme klar zu benennen. Dabei ist es gerade jetzt, in einer Zeitenwende, in der so viel auf dem Spiel steht, wichtig, mutig und ehrlich über die Zukunft zu debattieren. Eine Zeitenwende, die niemand merken soll, kann wohl keine sein.

Scheindebatten sind Alibidebatten. Sie sind bequem, weil sie nicht wirklich etwas bedeuten. Sie sind sogar feige, weil sie sich vor den unbequemen Wahrheiten drücken, Wichtigkeit vorgaukeln, aber die eigentlichen Probleme verschleiern. Das Fatale an Scheindebatten ist, dass sie keinen echten Beitrag zur Zukunft leisten. An zu vielen Scheindebatten erschöpft sich schließlich die Demokratie, weil Vertrauen in die Urteilskraft und Handlungsfähigkeit verloren geht. Dass derzeit so viele Scheindebatten geführt werden, hat mehrere Gründe.

Kulturkämpfe führen zu Spaltung

Der erste Grund besteht darin, dass eine polarisierte und gespaltene Gesellschaft kaum noch zu echten Debatten fähig ist, stattdessen Kulturkämpfe führt. Kulturkämpfe lassen sich gesellschaftlich nicht produktiv führen. Ihr einziger Zweck besteht darin, die Gräben zu vertiefen, bis sie unüberwindbar werden. Ein Beispiel dafür ist das Auto. Für die einen ist es ein Kulturgut und ein Symbol der Freiheit, für die anderen ist es eine Klimasünde und ein Symbol des Egoismus. Dabei ist das Auto letztlich ein Fahrzeug, das Menschen flexibel von einem Ort zum anderen bringt. Gerade weil es für so viele Menschen nützlich, oft unentbehrlich ist, sollte es in Zukunft möglichst klimafreundlich sein. Nur realistische Sichtweisen eröffnen den Weg zu pragmatischen Lösungen. Kulturkämpfe aber bestehen in einer Überhöhung von Sachfragen zu ideologischen Konflikten mit dem Ziel der Polarisierung. Sie sind damit gegen das Prinzip der Demokratie gerichtet, das darin besteht, durch einen offenen konstruktiven Austausch der Argumente politische Mehrheiten für gesellschaftlichen Fortschritt herzustellen.

Nullsummendenken verhindert Fortschritt 

Der zweite Grund für Scheindebatten ist das zunehmende Nullsummendenken in der Gesellschaft. Kurzfristig dominiert bei Reformen die Logik von Gewinnern und Verlierern. Reformdebatten werden oftmals ausschließlich nach diesem Muster geführt. In der Gegenwart erscheint alles als ein Nullsummenspiel. Zukunft aber kann für alle besser sein. Scheindebatten sind daher immer Gegenwartsdebatten, niemals Zukunftsdebatten. Eine Gesellschaft, in der das Nullsummendenken vorherrscht, ist weniger zukunftsfähig, denn sie führt die falschen Debatten. Wenn es nur noch um Verteilungsfragen geht, wird es unmöglich, Kompromisse zu finden. Kooperation aber, ohne die es keine fortschrittliche Bewegung in der Gesellschaft mehr gibt, basiert auf der Annahme, dass alle gewinnen können.

Rechtfertigungszwänge unterdrücken freies Denken

Der dritte Grund für Scheindebatten besteht in Rechtfertigungszwängen. Politiker, aber nicht nur die, sondern auch Verbandsvertreter, Journalisten und Wissenschaftler wollen und müssen sich gegenüber ihrer Klientel und ihren „Peers“ rechtfertigen. Debatten sind dann nicht mehr nur auf die Lösung von Problemen gerichtet, sondern dienen vornehmlich der Rechtfertigung. Bestimmte Meinungen und Positionen werden „erwartet“. Aus solchen Debatten resultieren dann Entscheidungen und Handlungen, die nicht mehr vor allem der Sache verpflichtet sind. Auch dadurch verringert sich die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft, denn Debatten werden nur innerhalb bestehender Rechtfertigungszusammenhänge geführt. Gerade für Parteien gilt dies. Ricarda Lang hat nach ihrem Rücktritt als Parteivorsitzende der Grünen in bemerkenswerter Offenheit bekannt, dass sie oftmals nur in Worthülsen und Sprechblasen gesprochen und sich manchmal selbst nicht mehr verstanden habe.

Freimütige Rede und ehrliche Debatten

Sprachlich erkennt man Scheindebatten daran, dass sie vehement und unselbstkritisch geführt werden. Wenn in Debatten Konflikte nur zum Schein aufgebaut werden, muss dieser Schein unter allen Umständen und Vorwänden aufrechterhalten werden. Harry G. Frankfurt hat in seinem originellen Buch „On Bullshit“ den prätentiösen Gestus beschrieben, der nicht die Wahrheit, sondern allein die Wirkung sucht. In der Diskurstheorie des französischen Philosophen Jean-François Lyotard ist daher nicht die Annäherung zwischen unterschiedlichen Positionen der primäre Zweck des Diskurses, sondern deren möglichst präzise Klärung. In einer Gesellschaft, in der nur noch gesendet und kaum noch zugehört wird, ist der Klärungsbedarf bezüglich dessen, was wir in Zukunft als Gesellschaft zu verhandeln haben, sehr hoch. Mehr denn je braucht die Demokratie die freimütige Rede, die „Parrhesia“, von der Michel Foucault sagte, dass sie die wichtigste Grundlage der Demokratie sei. In diesem Sinne sind heute wieder mutigere und ehrlichere Debatten notwendig, damit sie wieder von der Zukunft handeln können. Man muss sich vor ihnen nicht fürchten, denn Mut und Ehrlichkeit werden oft mit Vertrauen belohnt. „Die Wahrheit ist den Menschen zuzutrauen“, sagte einst Ingeborg Bachmann. In der Wahrheit liegt immer auch Hoffnung.

Liebe Leserinnen und Leser, den Bogen von der Wahl zu Weihnachten zu schlagen, mag gewagt sein. Die Weihnachtsgeschichte aber ist eine mutige und wahrhaftige. Genau deshalb gibt sie Hoffnung. In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit in diesem Jahr und wünsche Ihnen gesegnete und fröhliche Weihnachten.

Prof. Dr. Henning Vöpel
Vorstand Stiftung Ordnungspolitik
Direktor Centrum für Europäische Politik

Quelle: https://www.cep.eu/

 

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