Fabio Stassi. Ich, ja ich werd‘ Sorge tragen für Dich – Anmerkungen zu zwei poetologischen Abhandlungen über Dantes „Göttliche Komödie“

Kurze Abhandlung über Dante, die Dichtung und den Schmerz. Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Mit einem Nachwort von Ralph Dutli. Karlsruhe (Edition Converso) 2024, 126 S., 22,00 EUR. ISBN 970-3-949558-36-8

Heilungszauber der Poesie. Anmerkungen zu zwei poetologischen Abhandlungen über Dantes „Göttliche Komödie“

Ein Anteil an der innovativen Interpretation der Göttlichen Komödie des Schriftstellers und Bibliothekars Fabio STASSI, geboren 1962 in Rom, gebührt sicherlich auch dem  Autor des Nachwortes, Ralph Dutli. Er hat den melancholischen Interpretationsansätzen aus der Feder von Fabio STASSI einige wesentliche Impulse verliehen, die durch den Heilungszauber aus der „Dante-Apotheke“ eine abschließende Würdigung fanden.

Am Anfang seiner Reise in das 13. Jahrhundert habe ihn eine „Welle der Angst“ befallen. Sein Verleger habe ihn um einen Vortrag über die heilenden Kräfte von Dantes Dichtung gebeten. Doch glücklicherweise hätten ihm zwei hochrangige Dichter von weltweitem Ansehen, Joseph Brodsky aus Leningrad und Umberto Saba aus Triest, erste Impulse gegeben. In einem Gedicht von Saba, „Finala“  habe er den Begriff der Angst im Kontext vom schmerzvollen und finsteren menschlichen Leben gefunden. Diese Begriffe habe er als “eine funkelnde Summe der Göttlichen Komödie“ empfunden. Doch die gleiche Angst, „die das Schreiben hervorbringt, kann das  Schreiben auch nehmen“ (S. 12) Mit diesem Verweis auf ein Gedicht von Umberto Saba verbindet Stassi einen Zugang zu seiner Analyse der Göttlichen Komödie. Sie enthält zwei zentrale Begriffe für sein poetologisches Modell: vitae (Leben) und oscura (finster). Auf der Grundlage dieser drei Begriffe, nach Stassi: Panik, Melancholie, Glückseligkeit, habe er dieses Modell entwickelt, in dem „Panik und Melancholie die emotionalen Ausgangsstadien sind“, die „am Ende des Wegs dennoch in das Umfeld der Glückseligkeit gelangen.“ (S. 13) . Auf dem Wege dorthin – von der Melancholie, in der man sich verliere, zur Glückseligkeit, habe er Dantes Komödie, das nach Borges das beste Werk sei, das je von einem Menschenwesen geschrieben wurde“ (S.13), neu gelesen.

In den folgenden zwei Abschnitten: Poesie  und Magie wie auch der kurzen Vorbemerkung über die Verletzlichkeit greift Stassi das Thema der demiurgischen Macht des Wortes auf. Sie wird „mittels Metrik, Rhythmus, Akzenten“ zur Musik und dringt dank des Einsatzes „von symbolischem Denken auf der Grundlage von Metaphern in das Reich der Magie ein“(S. 119). Dieser Verweis auf Ossip Mandelstams Abhandlung  „Gespräch über Dante. Essays II“ , von Ralph Dutli ins Deutsche übertragen, enthält in dem vorliegenden Nachwort  zu Fabio Stassis Abhandlung über Dante, die Dichtung und den Schmerz (vgl. Die Dante- Apotheke  (S. 107 – 123) die Grundlage für ein  zweites gleichsam ergänzendes poetologisches Modell zur Analyse von Dantes Göttliche Komödie. Ralph Dutli vertritt dort die These „von der ureigenen Heilkraft der Poesie“(S. 107), die in Fabio Stassis Buch von einem Heilungszauber  erfüllt sei.

Auf der Suche nach den  essentiellen Beiträgen zur Poetik Dantes bedient sich Dutli nicht nur solcher „literarischer Leuchttürme“ (S. 118) wie T.S. Eliot, Giuseppe Ungaretti, Jorge Luis Borges, sondern vor allem der Poetik von Ossip Mandelstam. In dessen poetischem Glaubensbekenntnis Über den Gesprächspartner  überwindet er nicht nur die Grenzen des Nationalen. Bei ihm „findet das Element  der einen Sprache seinen  “Widerhall in der anderen, über Raum und Zeit hinweg.“ (S. 108)

Dutlis  Würdigung von Stessis Buch greift auch die schwierigen Lebenssituationen des „Jenseitswanderer Dante“ auf. Sie verweist auf Dantes frühe Kenntnis des Todes, „seine Verwaistheit, den Verlust der Mutter und des Vaters und  auch von Beatrices‘, der unerfüllten Jugendliebe“ (S.109): Darüber hinaus erinnert Dutli daran, dass  Mandelstams dichterisches  Schaffen und dessen Erfahrungen mit den düsteren Lebensumständen während der Stalinzeit in den späten 1930er Jahren, als Ossip Mandelstam den Tod während seiner Zwangsdeportation  im fernen Osten von Sibirien fand, auf Dantes schwierige Lebensstationen verweisen. Sie enthalten dessen frühe Ahnung des Todes, seine Verwaistheit, der Verlust der Mutter und des Vaters wie auch seiner frühen Jugendliebe Beatrice. Auch Dantes Vertreibung aus seiner Heimatstadt Florenz bezieht Ralph Dutli in die Analyse von Dantes Göttlicher Komödie ein.

Darüber hinaus ist auch Dantes  Jugendwerk  Vita Nova in Dutlis poetologisches Modell eingeschlossen. Mit diesem dichterischen Geniestreich, so Dutli, sei es Dante gelungen, nicht nur die Umstände seiner erzwungenen Vertreibung aus Florenz in eine bestimmte Passage der Göttlichen Komödie einzubauen. In „einer der schockierendsten Passagen in Dantes Inferno“ (S. 113), nach Dutli die berühmteste Stelle der Weltliteratur (vgl. Inferno Übergang vom 32. zum 33. Gesang des Inferno), habe er am Beispiel der Figur des Grafen Ugolino eine grauenerregende Form von Kannibalismus (vgl.  Inferno  33,73-75) thematisiert. Dante habe auch (vgl. Inferno 13) am Beispiel der Selbstmörder im schwarzen Wald “Seelen in blutenden Bäumen und schreienden Sträuchern verborgen.“ (S. 115) Aufgrund einer solchen Begegnung, so Dutli, lehre Dante das Mitleid mit den Gewalttätigen gegen sich selbst. (vgl. S.115) Ungeachtet der geschilderten Höllenqualen sei Dantes Werk eine Schule der Empathie. Dante sei, ungeachtet der Erfindung grausamster Strafen, „ein Prophet des Mitleids“ (vgl. ebda), denn seine „Reaktionen auf die Schreckenszenen“ seien betont körperlich. Er falle in Ohnmacht, stürze regelrecht zu Boden, könne seine Tränen nicht zurückhalten. Eine solche Passage signalisiere „das Versagen der Sprache und gebietet das Schweigen.“ (S.115)

Der folgende Verweis in Dutlis poetologischem Modell setzt sich mit der Heilpraxis der Kunst auseinander. Er führt zugleich zurück zum Leitthema der Dante-Apotheke, dem ihr innewohnendem Heilungszauber der Poesie. Er beruht, so Dutli, auf der Heilpraxis im Sanatorium von Pergamon, in dem keine Therapie ohne Musik und Poesie erfolgversprechend gewesen sei. Stassis Dantebeschwörung sei auch deshalb so wertvoll, weil sie „an den Ursprung der Poesie in den Zaubersprüchen“ der Magie erinnere.

Absicherung finden Dutlis Verweise auf Stassis Dantebeschwörung auch in Mandelstams früher Lyrik, in der das Wort die Schwermut heilen kann, weil es reine Heiterkeit verbreite. (vgl. S. 11).Auf diese Weise ist in der Dante-Apotheke auch die poetische Einwirkung der Mandelstamschen Poetik durch das Prisma von Stassis beschwörenden Worten erkennbar.

Ein besonderes Verdienst im Rahmen der vorzüglichen Übersetzung des vorliegenden Poetik-Traktats von Stassi gebührt auch der Übersetzerin Monika Lustig. Mit ihren 150 (!) ausführlich kommentierenden Anmerkungen gewinnt Stassis poetologischer Traktat einen hohen Grad an Transparenz, die durch die eingefügte Liste der Störungen und psychischen Erkrankungen sowie erläuternden Lektüreempfehlungen den Leser/innen eine zusätzliche Luzidität gewinnt.