Ein Dichter für unsere Zeit – Der Franzose Francis Jammes

Jacques Emile Blanche, gemeinfrei

Heute muss man aufhorchen, wenn etwas angeblich veraltet ist oder verschwiegen wird. Gerade das könnte nämlich wirklich interessant sein. So ist das mit der Dichtung des Franzosen Francis Jammes.

Ein bedeutender französischer Dichter der vorletzten Jahrhundertwende war Francis Jammes (1868 – 1938), gefördert von Stéphane Mallarmé, bewundert von Marcel Proust und Rainer Maria Rilke, befreundet mit Albert Samain, André Gide, Paul Claudel und François Mauriac. Zeit seines Lebens hat er in der Nähe von Pau, am Fuße der Pyrenäen, gelebt; von den Literaten der französischen Hauptstadt wurde er trotz aller Anerkennung letztlich doch als eine Art Waldschrat angesehen; Mauriac nannte ihn, feiner, einen „christlichen Faun“.

Tatsache ist, dass er kein urbaner Dichter ist, was seine Themen betrifft, sondern – wenn man schon eine Schublade wählt – ein bukolischer. Das Landleben kennt allerdings kaum noch jemand, und es hat nicht den kaputten Reiz des Modernen, sondern atmet das, was man Normalität zu nennen kaum noch wagt. Außerdem war Jammes ab 1905 Teil des renouveau catholique, was in der laizistischen, d. h. atheistischen Republik Frankreich nicht auf offizielle Gegenliebe stieß. Und in der teil-islamisierten Republik von heute erst recht nicht.

Auf Deutsch wurden aus seinem überaus reichen lyrischen Werk auch in der Zeit seines größten Ruhms nur seine vierzehn „Gebete der Demut“ übersetzt, immerhin von Ernst Stadler, und später noch seine siebzehn „Elegien“, dann auch einige Vierzeiler. Das war’s – und nichts davon ist noch im Handel. Die Feindschaft der beiden Völker in zwei Weltkriegen kann der Grund nicht sein. Woran mag es dann liegen?

Nun ist Jammes’ Ruhm ja in Frankreich selbst am Schwinden; eine vor zwanzig Jahre erschienene Gesamtausgabe seiner Gedichte ist nicht mehr aufzutreiben. Regulär erhältlich sind, neben seiner heute noch beliebten Prosa, vor allem dem „Hasenroman“, nur drei Gedichtbände, die sicherlich das Material enthalten, das ihn berühmt gemacht hat. Das wird mit den soziokulturellen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängen, die Urbanität und Atheismus beherrschend gemacht haben. Jammes gilt als démodé.

Und an Deutschland sind die geistigen Verheerungen des nationalen und des marxistischen Sozialismus nicht spurlos vorübergegangen. Für Sozialisten war der Bauer, wie der Intellektuelle, im Grunde ein Arbeiter, wenn auch einer an der frischen Luft, was im großen Ganzen bis heute so geblieben ist. Die transzendente Religion wiederum ist den Deutschen so gründlich ausgetrieben worden, dass sie nur mehr an deren weltliche Surrogate, sei es Veganismus oder den menschengemachten Klimawandel, glauben können – aber das ganz fest.

Francis Jammes hat das erkannt; in seinem streitbaren Vorwort zu seinem letzten Lyrikband De tout temps à jamais schreibt er 1935:

„Die Nachwelt wird wissen, dass ich seit 1888, ich war damals zwanzig Jahre alt, nie aufgehört habe, mich gegen das Laster unseres Zeitalters zu erheben, und das ist die Kompliziertheit (complication). Seit meinen allerersten Versen bis zu meinen vier Büchern von Vierzeilern, die noch immer unverstanden sind, wenn sie nicht sogar von einer Kritik absichtlich verschwiegen wurden, die des Schreibens unwürdig und meist korrumpiert ist vom Geld der Werbung, der Politik, dem Opportunismus und der Gier nach Ehrungen, habe ich immer die gleiche Linie verfolgt. Sie ist die der ewigen Poesie, die von jeher und bis in alle Ewigkeit [dem Weg] von Theokrit bis Vergil, von Vergil bis La Fontaine, von La Fontaine bis Lamartine folgt und die Gipfel des Parnass miteinander verbindet. Sie leidet nicht an Brüchen in ihrem harmonischen Wogen, sodass der Schatten, in den ich eingetreten bin, mich bezüglich der Gestirne, die ihn erhellen, empfindlicher macht. Der Weg des Genies. Weg der Einfachheit (dépouillement) der Primitiven, die das Gefühl nicht der Form geopfert haben, oder bei denen diese Form unbemerkt bleibt durch ihre Klarheit selbst, die mit dem Licht verschmilzt. Parallelität der Perfektion der Kunst und des Strebens nach Heiligkeit. Einfachheit, sage ich: von daher die Abneigung der zeitgenössischen Mittelmäßigkeit gegen jede Anspielung auf das Einfache Wesen (l’Être simple), auf diese vier Buchstaben des Alphabets, die das Wort Gott bilden, und das seltsame Wagnis, das die allermeisten eingehen, ihn sorgfältig aus jeglicher Art von Geschriebenem auszuschließen. Mangel an Liebe, Mangel an Genie.

In meiner neuen Sammlung liefern [einige Stücke] den Beweis, dass ich voranschreite, dass ich [… sie] nicht hätte schreiben können, würde ich nicht das Handwerk Molières und Racines beherrschen. […] Ich habe es immer vorgezogen, dass der Reichtum sich nicht zeigt.“

In Ungarn dagegen ist Francis Jammes in einer großzügigen Auswahl an Gedichten aus allen seinen Werkperioden hervorragend übersetzt. Die Beschäftigung der besten Dichter mit ihm reichte von den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts bis zu den Achzigern, war also auch in der kommunistischen Ära aktiv, die im Gegensatz zu den absolut verkommenen Woken der Jetztzeit auch weltanschaulich feindliche Schriftsteller nicht „cancelte“, also verschwieg, sondern sich mit ihnen auseinandersetzte. Ungarn ist bis heute ein agrarisch geprägtes Land, in dem das Bauerntum und das Landleben einen hohen Stellenwert auch bei den Intellektuellen besitzen. Das erklärt sicher zum Teil die positive Rezeption von Jammes in Ungarn. Aber auch die Einfachheit, die natürlich nicht mit Simplizität verwechselt werden darf, spielt eine Rolle, denn hermetische Dichter sind in Ungarn nicht besonders beliebt.

Dunkle und philosophisch überformte Autoren sind dies dagegen in Deutschland; paradigmatisch Friedrich Hölderlin, den der Verlag „Roter Stern“ zu einem Linken zu machen suchte. Auch bei den deutschen Rechten haben vor allem komplizierte Autoren wie Stefan George einen Stein im Brett. Einfachheit wird nicht geschätzt, da ihr mangelnde „Tiefe“ unterstellt wird. Sicher waren auch komplizierte französische Schriftsteller wie Gide manchmal fassungslos darüber, wie einfach Jammes geschrieben hat, aber sie waren in der Lage, über ihren Schatten zu springen und diese besondere Einfachheit anzuerkennen. Jammes, meinten sie, würde immer genauso schreiben, wie er schreibe, egal welcher Stil gerade bei den andern en vogue sei, ja, egal welches Jahrhundert wir da draußen hätten.

Nehmen wir ein Beispiel (wörtliche zeilengerechte Übersetzung):

Ich rauchte meine irdene Pfeife und sah die Ochsen,

mit dem Balken auf der Stirn und der feuchten Schnauze,

sich den Bauern widersetzen, die ihnen in die Kruppe piekten

über die Hörner hinweg – und ich sah, eine süße Truppe,

die buschigen Schafe auf ihren schwachen Beinen vorbeiziehen.

Der gute Hund tat so, als wäre er wütend.

Und der Hirte rief ihm zu: Wolf! Komm her! Wolf! Hierher!

Da sprang der fröhliche Hund zu ihm hinüber

und biss vorwitzig in seinen Stock

unter der Ruhe des warmen regnerischen Himmels.

Man verglich solch ein Gedicht, das im Original aus Alexandrinern mit Paarreimen besteht, einem meisterhaften Aquarell aus wo hellen, lebendigen Farben. Wie schrieb Jamme in seinem Manifest des „Jammismus“, mit dem er, der den Symbolismus rasch verlassen hat, die Mode der Ismen verspottete:

„Ich glaube, dass die Wahrheit das Lob Gottes ist; dass wir sie in unseren Gedichten feiern müssen, damit sie rein sind; dass es nur eine Schule gibt: die Schule, in der Dichter wie Kinder, die eine schöne Schreibvorlage so genau wie möglich nachahmen, bewusst einen hübschen Vogel, eine Blume oder ein Mädchen mit reizenden Beinen und anmutigen Brüsten kopieren. Ich denke, das reicht aus. Was soll ich von einem Schriftsteller halten, der gerne eine lebende, mit Edelsteinen besetzte Schildkröte abbildet? Ich denke, dass er den Namen Dichter nicht verdient, weil Gott die Schildkröten nicht zu diesem Zweck geschaffen hat und weil ihre Wohnstätten die Teiche und der Sand des Meeres sind.

Alle Dinge sind gut zu beschreiben, wenn sie natürlich sind; aber die natürlichen Dinge sind nicht nur Brot, Fleisch, Wasser, Salz, Lampe, Schlüssel, Bäume und Schafe, Mann und Frau und Fröhlichkeit. Es gibt unter ihnen auch Schwäne, Lilien, Wappen, Kronen und Traurigkeit.

Was soll ich von einem Mann halten, der, weil er das Leben besingt, mich daran hindern will, den Tod zu feiern, oder umgekehrt, oder der, weil er eine Thyrse oder ein Kleid mit Hermelinstreifen darstellt, mich zwingen will, nicht über eine Harke oder ein Paar Strümpfe zu schreiben?“

Die Gefahren dieser Auffassung von Dichtung sind offenkundig: Die Dichtung der Wirklichkeit wird dann zu einer trockenen Inventarisierung der Dinge und ihre Einfachheit zu einer affektierten Simplizität. Jammes konnte ersteres gänzlich und das zweite meistens vermeiden. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hat die Klarheit in der Lyrik zu einem Hauptkriterium bei der Erstellung seines Kanons gemacht; in Goethe, Heine und Brecht sah er die Klarheit bei gleichzeitiger hoher Qualität am besten verwirklicht. In Wahrheit hat bei ihm das, was Jammes in seinem Vorwort monierte, eine mindestens ebenso große Rolle gespielt: „das seltsame Wagnis, [Gott] sorgfältig aus jeglicher Art von Geschriebenem auszuschließen“. Goethe war Freimaurer und Illuminat, entsprechend seine „Abneigung“ gegen einen konzisen Gottesbegriff; beim Sozialisten Heine und beim Kommunisten Brecht kann man dann nur noch ironische „Anspielungen“ auf Gott finden. Der atheistische Ex-Kommunist Reich-Ranicki wusste das natürlich. Sein Kanon ist für die Erzählungen und Essays hoch zu loben; bei der Lyrik dient er der Verdrängung des Christentums.

Dass Dichter wie Jammes kaum bekannt sind, zeigt die schwere Krankheit unserer Kultur, die wohl eine zum Tode ist. Die dekadent überfeinerte, überkandidelte Kultur seiner Zeit, gegen die Jammes auftrat und die er mit einer edelsteinbesetzten Schildkröte verglich, die ihrem Tümpel entwöhnt, aber sonst immerhin normal war, ist einer noch dekadenteren Kultur der Verleugnung der Natur gewichen, die entsprechend als gechipte und bisexuelle Schildkröte mit Propellern beschrieben werden kann, die von Tabletten lebt. Es gibt kluge Zeitgenossen, die von der Alternativlosigkeit dieser Entwicklung sprechen. Wir werden sehen. Jammes jedenfalls ist wie frische Luft, die über ein geöffnetes Fenster in ein klimatisiertes Zimmer eindringt.

Über Adorján F. Kovács 37 Artikel
Prof. Dr. mult. Adorján Ferenc Kovács, geboren 1958, hat Medizin, Zahnmedizin und Philosophie in Ulm und Frankfurt am Main studiert. Er hat sich zur regionalen Chemotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren für das Fach Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie habilitiert. Seit 2008 ist er für eine Reihe von Zeitschriften publizistisch tätig. Zuletzt erschien das Buch „Deutsche Befindlichkeiten: Eine Umkreisung. Artikel und Essays“.