Eine Harzreise? Eine Kulturgeschichte des Vormärz!

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Vor etwas mehr als 200 Jahren, im Frühherbst 1824, wohl um den 12. September, brach ein Göttinger Student zu einer Reise auf. Zu Fuß, wie es damals üblich war. Johann Wolfgang v. Goethe wollte er besuchen, natürlich Weimar sehen, aber vor allem zog es ihn hinaus in die Welt, hinaus ins Abenteuer. Für seine Route wählte er die direkte Linie, und auf dieser Strecke liegt der Harz. Hierhin wandte er sich, denn nicht nur Goethe, sondern auch Novalis und Ludwig Tieck hatten die spektakulären Naturschönheiten dieses Mittelgebirges gepriesen. Dieser Student war ein angehender Literat, hatte schon erste Lorbeeren geerntet, Talent wurde ihm nachgesagt, und sein Nachruhm reicht bis in die heutige Zeit. Sein Name: Heinrich Heine.

Wer ein opulent ausgestattetes, schon das Auge vielfach erfreuendes Geschenk sucht, und Weihnachten kommt ja immer plötzlich, der sei auf diesen Text-Bild-Band aufmerksam gemacht. Nicht nur Historiker, sondern genauso gut Naturfreunde und vor allem die Liebhaber des Biedermeier in all seinen künstlerischen Ausprägungen werden diesen Band nicht mehr aus der Hand legen, bis sie ihn ganz durchgearbeitet haben. Um dann von vorne anzufangen, um zu entdecken, wieviel Kritik, Ironie und Spott über die eher desolaten Verhältnisse des Vormärz doch in diesem Buch aufzufinden sind. So jedenfalls erging es dem Rezensenten. Wer Heines „Harzreise“ bereits kennt, diesen erfrischend umgangssprachlichen Bericht, in dem sich ein angehender Akademiker aus den Zwängen von Wissenschaft und Koventionen befreit und die Natur, die Weite, letztlich die Freiheit sucht, der wird diesen Bnd mit umso mehr Gewinn lesen. Nicht umsonst ist der Untertitel „Entdeckungen am Rande einer legendären Fußreise“.

Unterwegs blieb Heine sich allerdings treu, er brach nicht etwa mit seinem bisherigen Leben. Die Grüne Kappe, die er auf dem Kopf trug, wie er selbst schreibt, belegt das. Es war eine Studentenmütze, grün, wie sie noch heute in Göttingen beim Corps Hildeso-Guestphalia getragen wird. Denn bei genau diesen, seine treuen Westfalen, war er aktiv, und er sollte ihnen als Corpsstudent die Treue halten. In der Winterrreise, Caput X, findet sich diese Liebeserklärung: „Der lieben Westfalen, womit ich so oft / In Göttingen getrunken, / Bis wir gerührt einander ans Herz / Und unter die Tische gesunken! // Wie standen sie prächtig auf der Mensur / Mit ihren Löwenherzen! / Es fielen so grade, so ehrlich gemeint, / Die Quarten und die Terzen. / Sie fechten gut, sie trinken gut, / Und wenn sie die Hand dir reichen
Zum Freundschaftsbündnis, dann weinen sie; / Sind sentimentale Eichen.“ Und so entdeckte er die Freiheit, die Natur – Heine, der Student. Und wir mit ihm.

Stück für Stück wird der Leser in diesem Buch auf diese Weise in Heine Welt hineingenommen. Joseph A. Kruse leitet den Band ein mit der passenden Überschrift für den erstn Aufsatz: „Nichts ist dauernd als der Wechsel!“ Heine erlebte diesen Wechsel nicht nur als Student, wo er vom Angehörigen der Allgemeinheit („Burschenschaft“) in Bonn zum Corpsstudenten in Göttingen wurde, sondern auch in Glaubensdingen, als er sich im Jahr nach seiner Harzreise, 1825, im thüringischen Heiligenstadt evangelisch taufen ließ. Und nun also der Wechsel vom „gelehrten Kuhstall“, als den er die Universität in Göttingen titulierte, auf die Höhen des Harzes. Die abschließende Strophe des Gedichtes, das Heine seinem Reisebericht voranstellt, zitiert Irmela von der Lühe in ihrem Aufsatz, der als zweiter inhaltlicher Text des Bandes gleichwohl einen ersten Schwerpunkt bildet: „Lebet wohl, ihr glatten Säle, / Glatte Herren, glatte Frauen! /Auf die Berge will ich steigen, / Lachend auf euch niederschauen.“ Ergänzt wird dieses Panoptikum durch Uwe Lagatz, der Heines Reise in einen tourismusgeschichtlichen Kontext einreiht. Der Verlag Hentrich & Hentrich hat speziell im danach angeordneten Beitrag, den Lagatz zusammen mit Norbert Perner verfasste, ein wahres Schatzkästlein an zeitgenössischen Bildquellen zusammengetragen, denen zeitgenössische Photographien gegenübergestellt werden. Vor allem aber erfreut hier wie im ganzen Band die reiche Auswahl an bestens ausgewählten Faksimile-Bildern. Lagatz schlägt zudem die Brücke zu einem anderen großen Wanderer des Biedermeier – zum Maler Caspar David Friedrich.

Eine Zäsur folgt – eine Erweiterung des herausgeberischen Kontextes, ausgehend von Heines religiösem Hintergrund, und es scheint ein wenig, als hätten die Herausgeber die „Pflicht“ angearbeitet, die der Titel des Werkes über die zugrundliegende Ausstellung bezüglich der Person Heinrich Heines aufgibt, und könnten sich nun der „Kür“ widmen. Wobei die nicht weniger reizvoll ist – nur, um Heine geht es nicht mehr wirklich. Jutta Dick beschreibt die jüdische Gemeinde in Halberstadt, einer Stadt, die zwar am Harz liegt, aber Heine gehörte der dortigen Gemeinde nicht an. Dies ist damit wirklich eine – gleichwohl lohnende – Entdeckung am Rande des Reiseweges, denn Heine lenkte nicht einmal seine Schritte auf dieser Reise dorthin. Reizvoll und wieder etwas „näher“ an Heine dran ist da schon der Aufsatz von Elke-Vera Kotowski, die den satirischen Blick Heines auf seine gesellschaftliche Umwelt zum Anlass nimmt, um eine Tour d’Horizon durch das satirische Deutschland zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu unternehmen. Wie beim Harz, der aus weit mehr als Tannenwäldern und einem Hexentanzplatz besteht, gibt es hier eine Fülle von Material.

Es folgt ein Stück vergleichende Literaturwissenschaft, die in diesem Band, und das ist eine weitere Auszeichnung, durchaus nicht zu kurz kommt. Einer der Vorgänger Heinrich Heines war Wilhelm Ferdinand Müller, wobei „Vorgänger“ wörtlich zu verstehen ist, denn dessen Reise datiert um die Jahrhundertwende, mithin 24 Jahre früher, und auch er lieferte eine so ausführliche wie aufschlussreiche Darstellung. Dieser Vergleich lohnt, denn er zeigt auch, dass Heines Bericht einen Höhepunkt der Harzliteratur des 19 Jahrhunderts darstellt, wohl auch durch den Zeitgeist, der damals herrschte. Damit ist auch der Titel „Heine im Harz“, der doch sehr stark fokussiert, erklärbar. Er verengt zwar das Blickfeld, aber nicht zu sehr.

Komplettiert wird die Einordnung des Heine-Textes durch die Wiedergabe des Reiseberichts von Adolph Glasbrenner, der im Vergleich zu Heine, der tieferen Sinn und Zeitkritik gleichermaßen und höchst virtuos zwischen seinen Zeilen hervorscheinen ließ, doch eher angestrengt wirkt. Ob es hier einer Transkription des vollen Wortlautes bedurft hätte – der Rezensent ist sich unschlüssig. Den Schlusspunkt macht dann eine satirische Darstellung des Harztourismus aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Fast scheint hier schon der frühe Bädertourismus durch – der heilige Ernst, der bei aller Ironie in Heines Text mitschwingt, ist verflogen, und ein schnoddriges, freches, lautes Zeitalter wird unvermittelt sichtbar. Auch wenn Heine natürlich gewissermaßen ein Urvater dieses nunmehr von David Kalisch und seinem „Kladderadatsch“ geprägten Genres war, sei doch die Frage gestattet, ob eine etwas engere thematischere Fokussierung auf Heine selbst dem Band vielleicht gutgetan hätte. Aber das ist nur ein kleiner Kritikpunkt, denn mit der Umschau, die der zweite Teil dieses Buches bietet, ist der Leser nach der Lektüre dieses Bandes wirklich schlauer: Er erfährt auf den ersten 100 Seiten wirklich viel Heines Reise und ihre zeit- und literaturgeschichtliche Bedeutung – nach der Gesamtlektüre weiß er ebenso um die Grenzen der Wirkung Heines.

Fazit: Mit diesem Band wird aus dem Zeitkontext heraus verstehbar, was Heine wirklich sah, was ihn zu seiner Dichtung inspirierte. Damit liefert dieser Band wesentlich mehr als nur „Entdeckungen am Rande der legendären Reise“ – dies ist vielmehr das aus heutiger Perspektive bestmögliche Eintauchen in die Welt des Heinrich Heine, die Welt von 1824. Die Bewunderer Heinrich Heines müssen diesen Band einfach im Regal stehen haben, aber auch die Freunde des deutschesten aller Mittelgebirge, des Harzes, die diesen Band angeboten bekommen, vielleicht am Rande der Ausstellung im Harzmuseum in Werningerode, werden viele schöne Überraschungen erleben. Hentrich & Hentrich hat ein Referenzwerk für die Darstellung des Vormärz in Deutschland und zugleich ein schönes Stück vergleichende Literaturgeschichte vorgelegt. Diese Meßlatte dürfte kaum zu übertreffen sein, zumal durch Zuwendungen der Berliner Moses Mendelssohn Stiftung ein äußerst moderater Ladenpreis ermöglicht wurde.

Das Harzmuseum Wernigerode würdigt das Jubiläum der Harzreise des Dichters Heinrich Heine mit der Sonderausstellung Heine im Harz – Entdeckungen am Rande einer legendären Fußreise, die noch bis zum 16. Februar 2025 zu sehen ist.

Lagatz, Uwe / Kotowski, Elke-Vera / Harzmuseum Werningerode (Hrsg.): Heine im Harz. Entdeckungen am Rande einer legendären Fußreise, Leipzig, 2024, geb., Lesefaden, 320 S. , 978-3-95565-676-8, 28 Euro.

Über Sebastian Sigler 108 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.