Hingerissen vom literarischen Talent und voller Unmut über Merkels Selbstgefälligkeit
Die bislang aufschlussreichste und zugleich im besten Sinne ausgewogene Rezension der Merkel-Biografie ist Navid Kermani gelungen (https://www.zeit.de/…/freiheit-angela-merkel-memoiren…).
In der ihm eigenen Nüchternheit schickt er voraus, dass er „nicht zu den Wählern Merkels gehörte und ihre Regierungsbilanz auf etlichen Feldern sogar für fatal halte. Schon gar nicht schien mir die Kanzlerin – und nicht einmal ihre Anhänger dürften hier widersprechen – eine Meisterin der Sprache zu sein. Insbesondere ihre Reden waren oft einschläfernd grau und floskelhaft. Aber dann liest man, lese ich das Buch, das sie nach dem Ende ihrer sechzehnjährigen Kanzlerschaft vorlegt – und bin schon von den ersten Seiten hingerissen, so feinfühlig, so plastisch, so wenig prahlerisch sind ihre Kindheit und Jugend erzählt.
Und man fragt sich, wo zum Teufel die Kanzlerin 16 Jahre lang ihr literarisches Talent versteckt hat, den Sinn für sprechende Details, feine Zwischentöne, präzise Beobachtungen und Nebensätze, die mehr aussagen als ganze Regierungserklärungen. Denn geschrieben hat sie das Buch, man merkt es an ihrem schnörkellosen, mitunter alltagssprachlichen Stil – geschrieben hat sie das Buch eindeutig selbst, zusammen mit ihrer engsten Mitarbeiterin Beate Baumann, die nun ebenfalls keine professionelle Autorin ist.“ Manche ihrer Formulierungen erinnern ihn gar an Kafka.
Gern würde Navid Kermani „an dieser Stelle die Rezension beenden. Indes lese ich weiter und werde, je länger und leider auch selbstgefälliger Merkel von ihrer Kanzlerschaft berichtet, doch vom Unmut über die vielen Versäumnisse eingeholt“. Schliesslich „kann kaum bestritten werden: Deutschland steht heute in vielerlei Hinsicht schlechter da als 2005, ob in Bezug auf Infrastruktur, Bildung, Wirtschaft, Digitalisierung, den Bruch der deutsch-französischen Achse, den Zustand Europas oder die Versäumnisse im Klimaschutz…
Die Coronamaßnahmen etwa, die das letzte Kapitel ihrer Memoiren bilden – niemand kann sich anmaßen, genau gewusst zu haben, wie man das Virus am besten einhegt. Die einschneidenden Restriktionen, die die Bundesregierung verhängte, waren unter den damaligen Umständen absolut plausibel. Allerdings hat sich inzwischen herausgestellt, dass andere europäische Staaten, die auf Schulschließungen oder Besuchsverbote in den Altersheimen verzichteten, keine höhere Sterblichkeit während der Pandemie aufgewiesen und dafür den sozialen Frieden weit eher bewahrt haben.
Geradezu frech wird es oder jedenfalls engstirnig und abgehoben, wenn Angelika Merkel stillschweigend über die schweren psychischen Verwerfungen für eine ganze Generation von Kindern und Jugendliche hinweggeht, die selbst dann noch von Bildung und sozialen Kontakten ausgeschlossen worden waren, als Baumärkte, Shopping-Malls und die Bundesliga längst schon wieder ihren Betrieb aufgenommen hatten. Spätestens hier wäre ein Wort des Bedauerns angebracht gewesen, zwar nach bestem Wissen und Gewissen, aber aus heutiger Sicht falsch gehandelt zu haben, wie es im Laufe von siebzehn Jahren politischer Verantwortung nun einmal zwangsläufig von Zeit zu Zeit passiert. Stattdessen gleicht sich das Buch, je länger man liest, auch stilistisch ihren Regierungserklärungen an.“
So spiegelt ihre Autobiografie ihre Weg jedenfalls authentisch wider.
Quelle: Franz Sommerfeld