Finnische Außenministerin Elina Valtonen im Interview: „Für uns ist der Wert der Demokratie sehr wichtig“

Minister for Foreign Affairs Elina Valtonen

Elina Valtonen ist das neue „Gesicht“ in der Riege der Gesichter der Demokratie. Im Zoom-Interview mit Sven Lilienström spricht die amtierende Außenministerin der Republik Finnland über den NATO-Beitritt ihres Landes, das Gesetz zur Zurückweisung von Migranten an der Grenze zu Russland und die Frage, was demokratische Gesellschaften gegen den zunehmenden Rechtspopulismus tun können. Die 43-Jährige ist überzeugt: „Wir müssen als politische Mitte das Gefühl vermitteln, die Lage unter Kontrolle zu haben!“

Frau Ministerin, wir freuen uns sehr, Sie als neues „Gesicht“ in der Riege der Gesichter der Demokratie willkommen heißen zu dürfen: Was bedeuten denn für Sie Demokratie und demokratische Werte ganz persönlich?

Demokratie bedeutet für mich Wahlfreiheit. Außerdem verbinde ich mit Demokratie generell Freiheit. Wir – also der kollektive Westen – dachten zu lange, dass Demokratie eine Selbstverständlichkeit ist. Das wäre natürlich klasse, ist aber leider nicht die Realität. So fanden in diesem Jahr weltweit rekordverdächtig viele Wahlen statt, aber längst nicht alle sind frei und entsprechen dem Willen der Bürgerinnen und Bürger. Und auch wenn die Anzahl demokratischer Staaten größer als noch vor 50 Jahren ist, so bleibt es eine tägliche Arbeit, sich für die Zukunft der Demokratie einzusetzen.

Im Ranking des jährlich veröffentlichten EIU Democracy Index belegt Finnland – nach den nordeuropäischen Ländern Norwegen, Island und Schweden – den fünften Platz. Warum ist Skandinavien so demokratisch?

Für uns ist der Wert der Demokratie sehr wichtig. Finnland ist seit über 100 Jahren unabhängig und eine stabile Demokratie. Als erstes europäisches Land haben wir das Frauenstimmrecht etabliert. Wir wissen diese Grundrechte zu schätzen. Wir wissen wie es ist, diese Rechte nicht zu haben. Wenn wir nach Russland schauen, sehen wir, warum sich der Kampf für den Erhalt unserer Demokratie lohnt. Diese Erkenntnis gibt es übrigens auch in den anderen skandinavischen Ländern.

Finnland ist seit dem 4. April 2023 Mitglied der NATO. Damit rückt das Verteidigungsbündnis deutlich näher an Russland heran. Was bedeutet der NATO-Beitritt Finnlands für die europäische Sicherheitsarchitektur?

Die NATO-Mitgliedschaften von Finnland und Schweden werden sehr deutlich zur europäischen Sicherheit beitragen. Die NATO erweitert sich nicht von alleine und ohnehin nicht mit Gewalt. Dennoch hält sich das Narrativ hartnäckig, dass Russland von außen bedroht werde. Ich kann als finnische Außenministerin nur immer wieder bekräftigen, dass Finnland Russland nicht bedroht – auch nicht als Mitglied der NATO.

Viele Jahre haben wir in Finnland gedacht, wir brauchen die NATO nicht. Wir haben unsere eigene starke Armee und können uns gegen die Aggressionen Russlands verteidigen. Und tatsächlich ist die finnische Armee – nicht nur relativ, sondern auch absolut gesehen – eine der stärksten in ganz Europa. Und das, obwohl wir nur fünfeinhalb Millionen Einwohner haben. Mit dem illegalen russischen Überfall vom 22. Februar hat sich diese Einstellung quasi über Nacht geändert. Wir möchten zu der Sicherheit Europas beitragen und unsere militärischen Fähigkeiten für die gemeinsame Verteidigung einsetzen. Hier spreche ich natürlich auch für Schweden – also wir gemeinsam.

Das finnische Parlament hat im Juli einem Gesetz zugestimmt, durch das Migranten an der Grenze zu Russland zurückwiesen werden können. Inwieweit steht dieses im Einklang mit geltendem EU-Recht sowie Ihrer Verfassung?

Für uns gilt das Prinzip des Rechtsstaates. In diesem Fall ist es so, dass sowohl das EU-Recht, als auch die internationalen Verträge eine Situation wie derzeit in Finnland nicht anerkennen. Es gibt keine Klausel für eine Lage, in welcher ein „hostiles Land“ zynisch und mit voller Absicht Migranten aus Drittländern einsetzt, um seine Ziele zu verwirklichen – was auch immer das für Ziele seien mögen.

Im Jahr 2015 hat Russland diese Waffe schon einmal gegen uns eingesetzt. Ich spreche nicht von spontanen Asylanträgen, sondern einem bewussten Handeln einer Regierung oder eines Landes, das selbst erklärt hat, dass es uns feindlich gegenübersteht. Als souveränes Land – und hier spreche ich nicht nur für Finnland, sondern für ganz Europa und den Schengen-Raum – können wir es uns nicht erlauben, dass ein uns feindlich gesinntes Land entscheidet, wer die Grenze passieren darf und wer nicht.

Daher dieses Ausnahmegesetz, welches ohnehin – wenn überhaupt – nur sehr temporär zum Einsatz kommen wird. In diesem Zusammenhang möchten wir uns für die große politische Unterstützung bedanken, die wir in ganz Europa und innerhalb der NATO erleben; gegen den Einsatz von instrumentalisierter Migration als Teil hybrider Kriegsführung.

In Deutschland wird derzeit eine emotionale Debatte zum Umgang mit irregulärer Migration geführt. Hat die Migrationsfrage Ihrer Meinung nach das Potential, unsere westlichen Demokratien nachhaltig zu destabilisieren?

Das ist natürlich eine sehr zynische Absicht. Wir wissen aber, dass Russland gezielt Propaganda und Desinformation dafür einsetzt, um die öffentliche Debatte – unter anderem in den sozialen Medien – zu beeinflussen und Unsicherheit in der Bevölkerung zu schüren. Hierauf müssen wir dringend Antworten finden. Die Menschen wollen das Gefühl haben, dass ihre Regierung alles im Griff hat, dass alles unter Kontrolle ist. Das funktioniert natürlich nicht, indem wir einfach die Grenzen schließen, mal abgesehen davon, dass wir Migration brauchen.

Vielmehr müssen wir uns als Europäische Union wieder stärker für eine sichere Außengrenze einsetzen, für kontrollierte Verfahren, die Menschen aus aller Welt eine Zukunft in Europa ermöglichen. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen nicht mehr über lebensgefährliche Routen – wie der Mittelmeerroute – nach Europa kommen. Wir hören seit Jahren wie schlimm das ist. Das muss anders gehen und das wird auch anders gehen.

In zahlreichen Ländern Europas ist ein Erstarken der politischen Ränder – insbesondere des rechten Rands – festzustellen. Was können wir tun, um Rechtspopulismus entgegenzuwirken und die demokratische Mitte zu stabilisieren?

Ich kann natürlich nur für Finnland sprechen. Und obwohl es Gemeinsamkeiten gibt, lässt sich die rechtskonservative Finnen-Partei nicht 1:1 mit der deutschen AfD vergleichen. Zu Beginn der Regierungsperiode haben wir klipp und klar zum Ausdruck gebracht, dass wir – entsprechend unserem Regierungsprogramm – keinerlei Rassismus dulden werden. Und das Regierungsprogramm enthält selbstverständlich keine rassistischen Passagen, sondern Maßnahmen, die wir in dieser Legislaturperiode gemeinsam durchsetzen möchten. Wir müssen trotz Unterschiedlichkeiten versuchen, möglichst viele Gemeinsamkeiten zu finden. Das ist Demokratie. Das ist der Auftrag der Wählerinnen und Wähler, auch derer, die ihre Stimme der Finnen-Partei gegeben haben. Wir, also die Parteien der politischen Mitte, müssen den Menschen vielmehr und viel besser erklären, warum es wichtig ist, keine Ränder zu wählen.

Und in manchen Dingen muss die Politik auch einfach besser werden. In der Migrationspolitik sind wir noch nicht gut genug. Damit meine ich nicht, dass wir die Positionen von Rechtsaußen übernehmen sollten, aber wir müssen als politische Mitte das Gefühl vermitteln, die Lage unter Kontrolle zu haben. Das gilt im Übrigen nicht nur für Finnland, sondern für die gesamte europäische Union. Wir sind ja ein Schengen-Raum – da gibt es keine Alleingänge.

Frau Ministerin, Sie haben als Kind einige Jahre in Bonn gelebt. Daher interessiert uns natürlich: Welche Gemeinsamkeiten verbinden Finnland und Deutschland? Was ist für Sie typisch deutsch, was typisch finnisch?

Uns verbindet sehr vieles – beispielsweise der Bezug zur Natur. Wir Finnen lieben unser Sommerhaus. Wir genießen diesen Luxus, weil wir recht dünn besiedelt sind – da hat jeder sein eigenes Sommerhaus auf einer Insel. Die Einsamkeit und Nähe zur Natur sind einfach da. Aufgrund der Bevölkerungsdichte ist das in Deutschland natürlich nicht vergleichbar, aber auch die Deutschen schätzen ihren Wald und die Natur.

Finnen und Deutsche lieben Pünktlichkeit. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir Regeln und das internationale regelbasierte System so schätzen. Das ist uns wichtig.

Typisch deutsch hingegen ist es, wirklich für ALLES Regeln haben zu müssen. Das weiß ich aus meiner Kindheit, da gab es eine Sauna und ein Heft mit Regeln, wie die Sauna zu benutzen sei. Und wir als Finnen haben geschmunzelt und uns gedacht: Wir brauchen keine Saunaregeln – wir haben die Sauna schließlich erfunden!

Vielen Dank für das Interview Frau Valtonen!

Über die Initiative Gesichter der Demokratie:

Mit 140 prominenten Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft sowie 2 Millionen Unterstützer*innen – darunter Staats- und Regierungschef*innen, Friedensnobelpreisträger*innen, die Chefredakteur*innen führender Leitmedien sowie die Vorstandsvorsitzenden global agierender Konzerne – befindet sich die Initiative Gesichter der Demokratie mittlerweile im siebten Jahr ihres Bestehens.

Quelle: Initiative Gesichter der Demokratie