Der alte und der neue Krieg – Chaim Nolls Aufzeichnungen von 2009

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Chaim Noll, 1954 als Hans Noll in Ostberlin geboren, ist der Sohn des DDR-Schriftstellers Dieter Noll (1927-2008), der mit seinem zweibändigen Kriegsroman „Die Abenteuer des Werner Holt“ (1960/63) bekannt wurde. Hans Noll verweigerte den Wehrdienst in der „Nationalen Volksarmee“, wurde 1980 in eine Nervenklinik eingewiesen und durfte am 8. Mai 1984 nach Westberlin ausreisen. Sein erstes Buch „Der Abschied. Journal meiner Ausreise aus der DDR“ (1985) bietet dem Leser auch heute noch wichtige Informationen über die letzten DDR-Jahre. Mit seiner Frau Sabine Kahane übersiedelte er 1995 nach Israel, nahm den Vornamen „Chaim“ an und erhielt 1998 die israelische Staatsbürgerschaft. Er lebt heute als Schriftsteller in Beer Sheva, der Hauptstadt der Wüste Negev. Sein wichtigstes und überzeugendstes Buch ist ein wissenschaftliches Werk von 677 Seiten „Die Wüste. Literaturgeschichte einer Urlandschaft des Menschen“ (2020).

Der Krieg, um den es hier geht, ist der Gaza-Krieg von 2008/09, der vom 27. Dezember 2008 bis 18. Januar 2009, also 22 Tage, dauerte. Doch wenn man diese undatierten Aufzeichnungen liest, fühlt man sich ständig an den gegenwärtigen Gaza-Krieg erinnert, der am 7. Oktober 2023 begann und noch nicht beendet ist. Der Staat Israel lebt, das wird dem Leser rasch klar, seit der Gründung am 14. Mai 1948 ununterbrochen im Krieg, der an drei Fronten geführt und ledig-lich von Waffenstillständen unterbrochen wird. Ständig werden aus dem Gaza-Streifen und aus dem Libanon Raketen auf israelische Wohngebiete abgeschossen, ständig heulen die Sirenen, auch nachts, und zwingen die Einwohner, die Schutzräume aufzusuchen. Ein normales Leben wie hier in Deutschland ist das nicht!

Diese Gefahr, von seinen arabischen Feinden überrannt und ausgelöscht zu werden, schwebt seit 1948 wie ein Damokles-Schwert über dem Staat Israel! Diese Gefahr muss man immer bedenken, wenn man Israel kritisiert, weil man nicht versteht, warum die Streitkräfte so oder so reagieren.

Das Buch beginnt damit, dass die Ehefrau des Erzählers in der Nacht zum Freitag einen Wolf aus dem Garten vertreibt, der einer Katze nachstellt und dann in der Wüste verwindet. Das ist ein kräftiges Bild für die von außen lauernden Gefahren, denen Israel ausgesetzt ist. Und dann liest man den Satz: „Wenn es uns gut geht, verlieren wir die Gefahr aus den Augen.“ Die Gefahr heißt, um ein Beispiel zu nennen, Mousa Abu Marzuk, einer der Hamasführer, die die Israelis ins Meer treiben möchten. Er wohnt aber nicht im Gaza-Streifen und darbt mit seinem Volk, sondern im Ölstaat Katar, wo er, von Allah auserwählt, ein prächtiges Leben führt und von wo aus er dafür sorgt, dass die Israelis nachts aus dem Schlaf gerissen werden: „Gegen zwei Uhr morgens wurden wir von der Sirene geweckt, standen rasch auf und liefen, so schnell es ging, die Treppen hinunter in den bombensicheren Raum. Wir waren zu müde, uns aufzuregen.“

Selbstverständlich gibt es im heutigen Israel auch das Leben, wie wir es in Deutschland kennen, mit seinen Alltagssorgen, mit seinen Beschwernissen und seinen Freuden, aber das alles ist ständig überschattet von der Angst vor den Angriffen aus der Luft! Auch vom israelischen Alltag berichtet der Erzähler: So hat er vor Jahren in Haifa, dem beliebten Wohnort aus Deutschland entkommener Juden, von seiner Großtante Klara ein Haus geerbt, in dessen Erdgeschoss Rafael aus Marokko ein Süßwarengeschäft betreibt. Im ersten Stock wohnte Frau Löwenthal aus Augsburg, die aber vor zwei Jahren verstorben ist. Die Schilderung allein, wie das Haus, dessen Preis künstlich hochgehalten wird, weil ständig neue Scheinkäufer bei Rafael vor der Tür stehen, den Besitzer wechselt, ist ein wahres Meisterstück der Erzählkunst!

Der Erzähler ist zudem ein gläubiger Jude, der an jedem Shabbath mit seinen Enkeln die Synagoge besucht und dort althebräische Texte studiert. Er sitzt auch nicht ununterbrochen am Schreitisch, was man bei einem ehemaligen Universitätsprofessor erwarten könnte, sondern widmet sich stundenlang der Gartenarbeit: „Mittags im Garten gearbeitet…Unser Garten ist halbwild. Ich versuche, alles wachsen zu lassen. Was unmöglich ist. Trotzdem kostet es mich Überwindung, zu sägen, zu schneiden, zu vernichten. Palmen säen sich von selbst, Zitronenbäume wachsen in erstaunliche Höhen. Der Holunder wuchert. Die Gewächse nehmen einander das Licht weg, den Raum und das Wasser.“

An einer Stelle mitten im Buch beklagt der Erzähler, dass die Bewohner des Gaza-Streifens nur das eine Ziel verfolgen: Israel zu vernichten! Obwohl Tausende von Bewohnern im Gaza-Streifen und im Westjordanland, wenn „Frieden“ herrscht, im israelischen Kernland arbeiten, Geld verdienen und beide Volksgruppen einander helfen, werden sie keine echten Nachbarn: „Nein, wir können sie nicht verstehen. Obwohl sie uns räumlich so nahe sind. Obwohl wir sie täglich sehen und ganz gut zusammenarbeiten, wenn Not am Mann ist. Trotzdem, da ist keine geistige Nähe, kein wirkliches Verständnis. Sie bleiben uns unbegreiflich. In Gaza gibt es keine nennenswerte Industrie oder Landwirtschaft, dort wird nichts entwickelt, erfunden oder exportiert, man lebt von ausländischen Hilfsgeldern, alle Energie mündet in Waffenschmuggel und Waffenbau, in die Herstellung explosiver Substanzen und Raketen…unsere Truppen und Siedler sind vor Jahren abgezogen, nun hätten sie Gelegenheit, den Staat vorzubereiten, nach dem sie sich angeblich so sehnen, seine Grundlagen zu schaffen, etwas aufzubauen, eine eigene Wirtschaft, ein Schul- und Gesundheitswesen, Universitäten, zivile Strukturen für die Bevölkerung…Stattdessen graben sie Tunnel und bauen Raketen. Wie Besessene.“

Der Erzähler bringt auch ein Beispiel, wie ein mitleidiger Politiker aus den Niederlanden, der den Gaza-Leuten helfen wollte, in seiner Heimat Spenden sammelte für Straßenleuchten und Verkehrszeichen im Gaza-Streifen. Als er ein Jahr später den Gaza-Streifen erneut besuchte, waren dort fast alle Straßenleuchten und Verkehrszeichen verschwunden. Warum? Ein Techniker hatte herausgefunden, dass sich „die Rohre, an denen sie befestigt waren, zum Bau von Geschossen eigneten.“ Von solchen Geschossen getroffen wurde auch der israelische Soldat Yoav Rosenblat, der mit 21 Jahren gefallen ist. Die Schilderung seiner Beerdigung ist eine der tief berührenden Passagen in diesem Buch.

Und dann ist plötzlich „Frieden“, am 19. Januar 2009, was der ungläubige Erzähler an der plötzlich ausbrechenden Stille merkt: „Schon morgens im Bett spüre ich, dass der Waffenstillstand in Kraft getreten sein muss. Die Stille ist erschütternd. Sie ist geradezu hörbar. Weder das Krachen der Jäger noch das Tackern der Helikopter. Leises Rascheln der Blätter, Klappern der Palmwedel…Es bleibt ein bestürzend ruhiger Tag.“

Chaim Noll „Die Stille am Morgen nach dem Krieg“, Novelle, XS-Verlag, Berlin 2024, 123 Seiten, 20.00 Euro

Über Jörg Bernhard Bilke 261 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.