Die zurzeit wichtigste Frage für die Bundesregierung ist diese: Wie kommt das Wachstum zurück in die deutsche Volkswirtschaft? Einen gemeinsamen Plan der Koalition gibt es nicht. Dafür viele unausgegorene Vorschläge sowie aktionistische Industriegipfel und Gegengipfel. Staatliche Anreize soll es dafür geben, dass man überhaupt noch arbeitet oder investiert. Die Ursachen für die Wachstumskrise reichen viel tiefer und weiter zurück. Es geht ja nicht um eine konjunkturpolitische Belebung, sondern um eine wachstumspolitische Agenda gegen die strukturelle Stagnation. Die vielen Krisen haben das Wachstum seit vielen Jahren belastet, eine echte Erneuerung der Strukturen und Geschäftsmodelle durch Marktbereinigung hat lange nicht stattgefunden. Die Wirtschaft hat dadurch an Eigendynamik, an Investitionsfreude und Innovationskraft verloren. Zudem verursacht die Demografie zunehmende Umverteilungslasten für den Staat. Die Renten sind alles andere als sicher, die Beitragssätze steigen und erhöhen die Arbeitskosten.
Die deutsche Volkswirtschaft befindet sich auf einem nicht-optimalen Wachstumspfad. Die sogenannte „goldene Regel“ der Wachstumstheorie besagt, dass optimalerweise so viel investiert werden sollte, dass im langfristigen Wachstumsgleichgewicht der gesamtwirtschaftliche Konsum maximiert wird. Die Umverteilungslast ist dann zugleich minimiert. Das Gegenteil ist in Deutschland der Falll: Die geringen Investitionen haben die Wirtschaft von diesem optimalen Pfad immer weiter entfernt. Ohne Wachstum verschärfen sich die strukturellen Probleme, bis sich die Politik schließlich in eine makroökonomische Zwickmühle manövriert: Egal, was man tut, die Lage wird nicht schnell besser. Denn in einer strukturell seit Jahren stagnierenden Volkswirtschaft sind die Anpassungselastizitäten gering.
Ein vieldiskutierter Vorschlag zielt derzeit auf die Lockerung der Schuldenbremse ab, um mehr fiskalpolitischen Spielraum für Investitionen zu schaffen und so aus der Stagnations- und Verteilungsfalle zu entkommen. Auch Steuergutschriften für Investitionen werden vorgeschlagen. Aber was sagt es über eine Volkswirtschaft aus, wenn erst Investitionsprämien die Unternehmen zu Investitionen veranlassen? Von Mitnahmeeffekten ganz zu schweigen. Schlechte Standortbedingungen müssen primär durch die Wirtschaftspolitik, nicht durch die Finanzpolitik verbessert werden, denn Geld ist nicht das eigentliche Problem. Es geht um die Frage, wie man aus dem vollkommenen Stillstand heraus bei zugleich pessimistischen Zukunftserwartungen wieder auf einen höheren Wachstumspfad kommt. Zukunftsoptimismus lässt sich nicht subventionieren, er muss begründet da sein.
Hoher Investitionsstau hat das Potenzialwachstum geschwächt
Eine strukturelle Stagnation hat immer eine lange Vorgeschichte. Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten gleich mehrere geopolitische „Renditen“ verfrühstückt: Unsere Sicherheit haben die USA bezahlt, die billige Energie kam aus Russland und das Absatzwachstum für deutsche Autos und Maschinen aus China. Das alles war verpackt in eine multilaterale, regelbasierte Weltordnung. Hinzu kommt, dass die Kosten des Klimawandels bislang nicht eingepreist waren. Der gesamtwirtschaftliche Konsum war also über viele Jahre gegenüber den Investitionen, die nötig gewesen wären, um die Substanz zu erhalten und die Produktivität zu erhöhen, viel zu hoch. Und der über Jahre erzielte Exportüberschuss wurde lediglich zu einem passiven Aufbau des Nettoauslandsvermögens verwendet, das überdies noch vergleichsweise schlecht verzinst war. Diese Party ist nun zu Ende.
Der heimische Kapitalstock zerfiel im Laufe der Jahre immer mehr, weil die Nettoinvestitionen über mindestens eine Dekade hinweg zu gering waren. Die Abschreibungen auf den „alten“ Kapitalstock sind aufgrund des disruptiven technischen Fortschritts und der Transformationsprozesse zudem deutlich höher als in der Vergangenheit. Niedrige Investitionen in die strukturelle Erneuerung und zugleich hohe Abschreibungen auf die alten Technologien und Geschäftsmodelle haben das Potenzialwachstum immer weiter geschwächt, fatalerweise schon lange vor dem eigentlichen demografischen Effekt. Der Verlust an traditionellen Spezialisierungsvorteilen, u.a. in der Automobilindustrie, hat die Terms of Trade, das reale Tauschverhältnis zwischen Importen und Exporten, außerdem verschlechtert – mit dem Ergebnis, dass der Außenhandel nicht mehr in dem Maße zum Wohlstand beiträgt wie in der Vergangenheit. Hinzu kommen viele „unproduktive“ Investitionen: Grüne Investitionen machen aus einem fossilen einen klimafreundlichen Kapitalstock, führen aber nicht zu höheren Produktionsmöglichkeiten. Investitionen in die Verteidigung erhöhen die Wehrfähigkeit, aber nicht das Produktionspotenzial. Alle diese Investitionen reduzieren notwendig die unmittelbaren Konsummöglichkeiten der Volkswirtschaft.
Der Investitionsstau, der nun abgebaut werden soll, muss gegen die bestehenden Konsumansprüche und die demografisch bedingt höhere Umverteilungslast durchgesetzt werden. Da helfen auch Schuldenbremse und Vermögenssteuern nur bedingt, denn es geht um strukturelle Reallokationsprozesse, die eine höhere Investitionsnachfrage möglich machen. Die Höhe von Konsum und Investition hängt langfristig von Verteilung, Zins und Wachstum ab. Der Zins ist in Wachstumsprozessen immer beides: nach neoklassischer Lesart eine Kapitalrendite und nach postkeynesianischer eine Verteilungsgröße. Nach einer Zeit der risikolosen Konservierung von alten Strukturen durch die Geldpolitik soll nun eine renditelose Transformation diese Strukturen durch öffentliche Investitionen und einer dafür gelockerten Schuldenbremse erneuern. Beides kann ohne Wachstum schon aus theoretischen Gründen nicht funktionieren. Niedrige Zinsen haben vielmehr den unproduktiven Status quo refinanziert. In Risiko und Zukunft wurde in Deutschland schon lange nicht mehr investiert.
Fiskalpolitische Spielräume und makroökonomische Anpassung
Die über Jahre zu niedrigen Investitionen haben makroökonomisch zu strukturellen Ungleichgewichten auf einem ökonomisch nicht nachhaltigen und deshalb politisch nicht durchhaltbaren Wachstumspfad geführt. Die politische Rechnung, gegen die Stagnation anzusubventionieren und umzuverteilen, geht ökonomisch nicht auf. Die fiskalischen Investitions- und Umverteilungsspielräume werden schneller kleiner, als das Wachstum wiederbelebt werden kann. Wenn die Realzinsen aber höher sind als die reale Wachstumsrate (r > g), dann kommt es zu einer steigenden Staatsschuldenquote. Finanzielle Repression, was bedeutet, dass der nominale Geldzins künstlich unter die Wachstumsrate gedrückt wird, führt dann zu einer Wicksell‘schen, also geldpolitisch akkommodierten, aber eigentlich fiskalisch induzierten Inflation. Ein Teil der explodierenden Schuldendynamik wird dann durch Inflation aufgefangen, die eine erzwungene Reallokation („crowding out“) realer Ressourcen vom Privatsektor zum öffentlichen Sektor nach sich zieht. Rationale Erwartungen antizipieren diesen Prozess vollständig, so dass es zu einer stetig steigenden Inflation kommt bzw. zu einem institutionellen Konflikt zwischen Geld- und Fiskalpolitik mit gravierenden politökonomischen Folgen. So könnten zum einen die Schuldenregeln, die deutschen wie die europäischen, unter Druck kommen und zum anderen die politische Unabhängigkeit der Zentralbanken in Gefahr geraten.
In einer solchen Situation werden die realwirtschaftlich immer kleiner werdenden Spielräume institutionell immer stärker gedehnt. Die Dinge laufen aus dem Ruder. Laufende Ausgaben, etwa die Rente, werden nicht mehr allein aus der Rentenversicherung finanziert, sondern zunehmend aus Steuermitteln, weshalb andere Ausgaben entweder gekürzt oder schuldenfinanziert werden müssen. Schleichend gewinnen konsumtive Ausgaben Oberhand über die investiven. Das geht jedoch nicht ewig so, weil das gesamtwirtschaftliche Angebot nicht beliebig elastisch und die institutionelle Glaubwürdigkeit nicht beliebig strapazierbar ist. Der Ruf nach mehr schuldenfinanzierten Investitionen in Verbindung mit aktiver Industriepolitik wird dann typischerweise laut (dies eigentlich soll ja die Schuldenbremse zurecht verhindern). Austerität wird dann als die Ursache der Wachstumsschwäche ausgemacht.
Eine längerfristige Angebotspolitik für neues Wachstum
Der politische Ausweg aus einer strukturellen Stagnation ist nicht einfach. Ökonomische Ungleichgewichte lassen sich nicht kurzfristig korrigieren. Ein zeitkonsistenter, möglichst früh einsetzender und politisch glaubwürdiger Wachstumskurs kann die Strukturprobleme und Verteilungskonflikte aber allmählich wieder auflösen. Die wichtigste politische Erkenntnis dahinter sind zwei einfache ökonomische Zusammenhänge: Eine höhere Verschuldung überwindet nicht das Knappheitsproblem, es sei denn, es werden damit wirklich kapazitätserweiternde Investitionen finanziert, die die Schuldentragfähigkeit langfristig erhalten. Eine höhere Umverteilung löst kein Strukturproblem, es sei denn, mit der Umverteilung gehen zugleich Leistungsanreize einher, die die Umverteilung langfristig finanzieren.
Der Weg zu neuem Wachstum ist ein längerfristiges Spiel, in dem es auf Glaubwürdigkeit und Durchhaltevermögen ankommt. Es geht weniger um Industriepolitik als um eine allgemeine Standortpolitik. Dafür müsste sich die Politik aber wieder längerfristig ausrichten. Genau das aber fällt der am Wahlzyklus und somit sehr kurzfristig ausgerichteten Politik sehr schwer. Sie geht bis zur nächsten Wahl gerne den Weg des geringsten Widerstands. Der aber führt in eine bequeme Schuldenpolitik statt in unbequeme Strukturpolitik. Eine Umkehr wird politisch immer unattraktiver, ökonomisch aber immer unvermeidbarer. An einem bestimmten Punkt bricht das Ganze zusammen. An diesem Punkt steht Deutschland heute.
Prof. Dr. Henning Vöpel
Vorstand Stiftung Ordnungspolitik
Direktor Centrum für Europäische Politik
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