Anne Applebaum – eine moderne Kassandra. Gedanken zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 2024

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Anne Applebaum (geb. 1964) erhielt in diesem Jahr den Friedenpreis des Deutschen Buchhandels. Eine kluge Entscheidung der Jury. Im Vorfeld gab es heftige Diskussionen, ober dieser „Friedenspreis“ an eine Person verliehen werden sollte, die vehement stärkere Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine fordert. Eine spannende Kontroverse ist deshalb vorprogrammiert. Als die Entscheidung der Jury im Juni dieses Jahres publik gemacht wurde, gab es erste Proteste. Dies kann positiv dahingehend gedeutet werden, dass Anne Applebaum wohl einen wichtigen Nerv getroffen hat.

Anne Applebaum war eine der Ersten, die vor der militärischen Aggression Russlands gewarnt hat. Sie hat frühzeitig erkannt, dass Putinauf die Vergangenheit fixiert – aggressive imperiale Expansionen plante. Er war in vielfacher Hinsicht von den Machttendenzen Stalins fasziniert. Von Jahr zu Jahr testete er durch immer wieder neue Kriege die Reaktionen des Westens aus. Der Bestseller „Gulag“ von Anne Applebaum, für den sie im Jahr 2004 den Pulitzer-Preis erhielt, wurde sogar noch in russischer Sprache veröffentlicht. Spätestens seit der russischen Annexion der Halbinsel Krim und Teilen der Ostukraine im Jahr 2014 warnte Anne Applebaum unaufhörlich vor der gefährlichen militärischen Aggression Putins. Ein eindrucksvoller und langes Interview in der NZZ im Jahr 2019 verdeutlicht ihre luzide Prognose (Applebaum & Mijuk 2019).  Leider wurden diese Warnungen im Westen entweder nicht gehört oder nicht ernst genug genommen.

Wer ist Anne Applebaum?

Anne Applebaum ist eine sehr renommierte Historikerin und Journalistin, die sich über Jahrzehnte als profunde Kennerin der osteuropäischen Politik bewährt hat. Sie ist jüdischer Herkunft, wurde im Jahr 1964 in Washington D.C. geboren und hat an der renommierten Yale-University Geschichte und Literatur studiert. Der Focus ihres Interesses lag schon immer auf Osteuropa und Russland. Mit 22 Jahren schloss sie ihr Studium mit summa cum laude ab. Anschließend studierte sie mit Unterstützung eines Marshall-Stipendiums in England an der London School ofEconomics das Fach Internationale Beziehungen. Dort absolvierte sie 1987 ihr Master-Diplom. In den Folgejahren war sie Journalistin für international renommierte Zeitungen. Bei einem Polen-Aufenthalt lernte sie ihren späteren Ehemann kennen, den bekannten polnischen Außenminister Radoslaw Siborski, den sie 1992 heiratete und mit dem sie zwei Söhne hat. Seit 2006 lebt sie überwiegend in Polen. In den USA und in England (London School ofEconomics) hat sie weiterhin Lehraufgaben als Professorin. Im Jahr 2013 erhielt sie neben der amerikanischen auch die polnische Staatsbürgerschaft.

Wichtigste Publikationen und Auszeichnungen

Nach ihrer akademischen Karriere arbeitete Anne Applebaum jahrzehntelang als Journalistin für namhafte Zeitungen. Seit 30 Jahren lebt sie mit ihrem Ehemann überwiegend in Polen. Dort hat sie von2003 an ihre fünf Standardwerke geschrieben, die ihr große internationale Anerkennung brachten. Ihre Bücher wurden alle schnell vom Englischen in die deutsche Sprache übersetzt und sind im Münchner Siedler-Verlag erschienen. Ihr Erfolgsdebüt war ihre mehr als 700 Seiten umfassende Untersuchung „Der Gulag“ (2003). Für diesen Bestseller erhielt sie den angesehenen Pulitzer-Preis und den Duff Cooper Prize. Es folgten die Bücher „Der Eiserne Vorhang“ (2013) und „Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine“ (2019). Ihre neueren Werke widmen sich beide Autokraten, autoritären Tendenzen und autokratischen Netzwerken: „Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist.“ (2021) und „Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda. Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten.“ (2024). Mit den luziden Analysen  in diesen beiden Werken entlarvt sie die modernen Feinde der Demokratie.

Neben Preisen und Auszeichnungen für Einzelwerke erhielt sie auch wichtige Auszeichnungen für ihr Gesamt-Engagement. Das amerikanische Magazin „Foreign Policy“ zählte sie 2008 zu den hundert einflussreichsten Intellektuellen. Im Jahr 2024 erhielt sie jetzt in Deutschland zwei Friedenspreise: den Carl-von-Ossietzky-Preis und jetzt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Anne Applebaum als eine der frühen Warnerinnen vor der militärischen Aggression Putins – eine moderne Kassandra

Mit dem verheerenden und brutalen Angriffskrieg von Putin gegen die Ukraine im Februar 2022 wurde evident, wie hellsichtig, klar und vorausschauend die Analysen von Anne Applebaum waren.

Anne Applebaum darf vor diesem Hintergrund als eine moderne Kassandra bezeichnet werden. Kassandra war eine tragische Heldin der griechischen Mythologie, deren Schicksal darin bestand, dass sie Unheil voraussehen konnte, sie aber niemals Gehör fand. Ungehörte Warnungen werden deshalb heute oft als Kassandrarufe bezeichnet. Applebaum war eine frühe Warnerin vor einem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ihre Warnrufe wurden nicht gehört. Die Laudatorin der Preisverleihung, Irina Scherbakowa, wies in ihrer Rede auf die Parallelen zu Kassandra hin.

Die Begründung der Jury für ihre Entscheidung

Der Stiftungsrat und der Leitung der Vorsitzenden Karin-Schmidt-Fridrichs gab folgende Begründung für ihre Wahl der Preisträgerin:

„Anne Applebaum hat mit ihren so tiefgründigen wie horizonterweiternden Analysen der kommunistischen und postkommunistischen Systeme der Sowjetunion und Russlands die Mechanismen autoritärer Machtergreifung und -sicherung offengelegt…Historiographische Erkenntnisse mit wachen Gegenwartsbeobachtung zu verbinden, das gelingt Anne Applebaum in ihren Veröffentlichungen über autokratische Staatssysteme und deren international wirkende Netzwerke. In einer Zeit, in der die demokratischen Errungenschaften und Werte zunehmend karikiert und attackiert werden, wird ihr Werk zu einem eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden.“

Irina Scherbakowa und ihre Laudatio

Die Preisträgerin und die Laudatorin kennen sich bereits mehr als 20 Jahren gut. Bei ihren Recherchen für ihr Buch „Der Gulag“ besuchte Applebaum in Moskau die Archive der russischen Menschenrechts-Organisation Memorial. Irina Scherbakowa war im Jahr 1987 Gründungsmitglied dieser Organisation, die im Jahr 2021 in Russland verboten wurde und im Jahr 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sie studierte in Moskau Geschichte und Germanistik und war zehn Jahre lang Dozentin an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften in Moskau. Kurz nach Beginn des Angriffskriegs Putins gegen die Ukraine hat sie Russland für immer verlassen und lebt jetzt in Deutschland.

Irina Scherbakowa gab ihrer Laudatio den Titel „Die feine Linie“. Als feine Linie bezeichnet sie die Linie zwischen Lüge und Wahrheit, zwischen Täuschung und Realität. Gerade weil diese Linie in der russischen Propaganda permanent verletzt und zerstört wird, ist sie so bedeutsam.  Scherbakowaerinnert an die düstere Prophezeiung der ukrainischen Dichterin Lessja Ukrajinka aus dem Gedicht Kassandra, in dem es sinngemäß heißt:

„Eine feine Linie trennt die Lüge von der Wahrheit in der Vergangenheit, doch in der Zukunft wird es nicht einmal diese Linie geben.“

Autokraten, Populisten und Propagandisten wollen heute mehr denn je diese wichtige Linie verwischen oder auslöschen, weil dies wesentliches Element ihrer destruktiven Herrschaft ist. Scherbakowa lobt Applebaum dafür, dass sie die imperialen Bestrebungen Putins und seine Vorbereitungen des Angriffskrieges gegen die Ukraine frühzeitig erkannte und die Politiker des Westens warnte. Leider wurde nicht genug auf sie gehört. Damit sei die Chance, Putin früher zu stoppen, verloren gegangen.

Die Dankesrede von Anne Applebaum

In ihrer Dankesrede mit dem Titel „Gegen den Pessimismus“ schilderte Anne Applebaum ihre anfänglichen Hoffnungen auf ein neues und freieres Russland, die sie während ihrer Forschungsarbeiten in Moskau hatte. Mit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Februar 2014 waren diese Hoffnungen für sie schlagartig zunichte. Genau 8 Jahre später begann Putin den großen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Applebaum skizzierte in ihrer Rede den Weg Russlands in eine totalitäre Gesellschaft, beginnend mit brutalen Kriegen nach außen und Repressionen gegen die eigene Bevölkerung nach innen. Die zwei sehr grausamen und zerstörerischen Kriege gegen Tschetschenien waren der Auftakt. Es folgte im Jahr 2008 der Krieg gegen Georgien, schließlich 2014 die Krim- und Donbass-Annexion und 2022 der Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Applebaum zitiert Aristoteles und Immanuel Kant, die auf die grundlegende Kriegsbereitschaft von Despoten, Tyrannen und Diktatoren hinwiesen. Die Überlegungen von George Orwell, Carl von Ossietzky, Thomas Mann und Manès Sperber zum Spannungsfeld von Pazifismus, Krieg und Wehrhaftigkeit reichern ihre Analyse imperialer Kriegsführung an. Applebaum schließt ihre Rede mit einem Appell an Deutschland, gemeinsam mit anderen Demokratien gegen autokratische Netzwerke zu kämpfen, die Demokratien schädigen oder zerstören wollen. Sie betont, dass Freiheit und wahrer Friede möglich sind, aber oft hart erkämpft werden müssen.

„Schon früher bedrohten aggressive Diktaturen die freiheitlichen Gesellschaften Europas. Schon früher haben wir gegen sie gekämpft. Und diesmal ist Deutschland eine der freiheitlichen Gesellschaften und kann den Kampf mit anführen“

(Anne Applebaum in ihrer Dankesrede)

Literatur

Applebaum, Anne, Der Gulag. Siedler, Berlin 2003

Applebaum, Anne, Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944 – 1956. Siedler, München 2013

Applebaum, Anne, Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine. Siedler, München 2019

Applebaum, Anne, Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist. Siedler, München 2021

Applebaum, Anne, Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten. Siedler, München 2024

Applebaum, Anne, Gegen den Pessimismus. Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 20. Oktober 2024. www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de

Applebaum, Anne, „Vielleicht werden es die Russen nicht schaffen, die EU zu zerschlagen, aber sie werden es versuchen. Und sie werden Schaden anrichten.“ Interview mit Gordana Mijuk. Neue Zürcher Zeitung am Sonntag. 3. Mai 2019

Scherbakowa, Irina, „Die feine Linie“. Laudatio bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 20. Oktober 2024. www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

Email:  herbert.csef@gmx.de

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.